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Michail Schischkin. Tok-Tok, wer wohnt im Teremok?

12. Internationales Literaturfestival Berlin – Europe Now

 

 

Jeder Russe kennt seit Kindertagen das Märchen vom Teremok, vom Häuschen im Wald. Es ist ein kleines, behagliches Häuschen, in dem die Tiere wohnen. Da kommt zum Beispiel der Frosch Quak, klopft an die Tür und spricht: „Tok-tok! Wer wohnt im Teremok? Lasst mich ein und bei euch wohnen!“

Man lässt ihn ein und alle haben es drinnen gemütlich. Ebenso werden die Haselmaus und der Hahn Kikeriki eingelassen – für alle ist im Häuschen Platz. Dann kommt der Bär. Wie das Märchen endet, erzähle ich später.

Europa erinnert sehr an dieses Tierhäuschen. Es ist gemütlich und nett, alle möchten hinein. Es geht zwar eng zu, aber politisch korrekt. Man zankt sich gelegentlich mit den Nachbarn um die Schulden, aber was sich liebt, das neckt sich eben. Denn die europäischen Tiere wissen genau: Die Deutschen haben viel Geld, es reicht für alle. Kurzum, im Häuschen sind alle miteinander vertraut. Aber ist es auch der Bär? Man lebt schließlich im selben Wald … Doch dieser Bär hat eine rätselhafte Seele. Man weiß nicht, was er ausheckt. Und wie er riecht …

Mischka, den Bären, quälen sein Leben lang Zweifel: Ist er nun Europäer oder doch keiner? Der Wald ist natürlich derselbe, aber der Bär geht einen Sonderweg. Er ist irgendwie seltsam – kein Tier, eher Hamlet. Mal zermalmt und frisst er alle um sich herum, dann wieder fällt er in tiefen Schlaf und quält sich mit Reue und Grübelei. Und will mit aller Macht die Welt retten. Im Schlafen wie im Wachen dünkt ihn, seine Höhle sei das Dritte Rom, multipliziert mit der Dritten Internationalen. Er dichtet: „Alle wissen, dass die Erde am Kreml beginnt.“ Und leidet ohne Ende: Mal hat er Sodbrennen vom Größenwahn, mal Verdauungsstörungen vom Minderwertigkeitskomplex.

Nach den Tataren war Europa der Feind Nummer eins für Russland.

Peter der Große hatte keineswegs vor, das Reich im Hinterland des Kontinents zu »europäisieren«. Er brauchte die westliche Militärtechnik, um mit ebendiesem Westen Krieg zu führen. Doch mit dem Zustrom der Gastarbeiter vom Rhein an Newa und Moskwa begann notgedrungen die Wertediffusion. Unter den Block des totalitären russischen Bewusstseins wurde eine Zeitbombe gelegt – das Primat der Werte des Privatlebens. Das nicht-totalitäre Bewusstsein findet seinen Ausdruck in der Literatur, die im 18. Jahrhundert zusammen mit der Idee der Menschenwürde aus dem Westen kommt. Das erste Jahrhundert der russischen Literatur ist im Grunde von Übersetzungen und Nachahmungen bestimmt. Um das individuelle Bewusstsein auszudrücken, fehlt das verbale Instrumentarium. Man muss es erst erzeugen. Die in die russische Sprache hineingeborenen Schriftsteller führen die fehlenden Begriffe ein: Gesellschaft, Verliebtheit, Menschlichkeit, Literatur. In Russland entsteht individuelles Bewusstsein und die klügsten Köpfe blicken sich um, erschrecken und überlegen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Warum sind wir Sklaven?

Pjotr Tschaadajew verblüffte die im Entstehen begriffene Gesellschaft mit einer einfachen Idee: Die Russen sind kein von Gott auserwähltes Volk. Russland ist nicht das Dritte Rom, sondern ein Missverständnis. Das Unglück des Vaterlandes bestehe darin, schrieb er in einem offenen Brief auf Französisch an eine Dame, dass wir nicht den römisch-katholischen, sondern den byzantinisch-orthodoxen Glauben angenommen und uns damit von Europa und seiner historischen Entwicklung abgeschnitten hätten. Die Zeitschrift musste ihr Erscheinen einstellen, der Herausgeber Nadeschdin wurde verbannt und Tschaadajew auf Befehl des Monarchen für verrückt erklärt. Doch die Philosophischen Briefe des Verrückten aus Moskau erschienen im damaligen Samisdat und wurden zur Grundlage für eine der beiden Hauptrichtungen des russischen Denkens – des Westlertums. Der Kampf auf den ideologischen Barrikaden ist bis heute nicht zum Erliegen gekommen, die russische Hauptfrage ist immer noch nicht beantwortet: War die ganze russische Geschichte eine Sackgasse, müssen wir zu den europäischen Werten und in den Schoß der europäischen Zivilisation zurückkehren oder geht Russland einen Sonderweg? In Russland ist seither eine einzigartige Situation entstanden. Zwei geistig und kulturell vollkommen verschiedene Nationen teilen sich dasselbe Territorium, obwohl die eine wie die anderen Russen sind und dieselbe Sprache sprechen. Der eine Teil des Volkes lebt hauptsächlich in der Provinz – er zählt viele Millionen armer, ungebildeter, trunksüchtiger Menschen, die mental im Mittelalter leben.

Der andere, größere Teil konzentriert sich in den beiden russischen Metropolen – es sind gebildete, wohlhabende Menschen, die die ganze Welt bereist und europäische Vorstellungen von einer demokratischen Gesellschaftsstruktur haben. Für die einen kann nur Vater Zar mit eiserner Hand Ordnung in Russland herstellen. Für die anderen ist die ganze russische Geschichte ein blutiger Sumpf, aus dem das Land herausgeholt und zu einer liberalen europäischen Gesellschaftsordnung geführt werden muss. Wozu dieser Widerspruch im Jahr 1917 geführt hat, wissen wir. Bis heute haben wir die Folgen dieser verheerenden russischen Katastrophe nicht überwunden. In Russland wird noch immer dasselbe Spiel für drei Spieler gespielt: Das Volk schweigt, die im Entstehen begriffene Gesellschaft fordert für sich eine 'schweizerische' Volksherrschaft und erklärt der Regierung den Krieg und der Staatsmacht bleibt nur, abzudanken oder die Schrauben fester anzuziehen. 1917 dankte die Staatsmacht bis zur Selbstauflösung ab und das Land versank in einer derartigen Anarchie, dass es der bis dahin ungekannten Diktatur Stalins bedurfte, um wieder Ordnung herzustellen.

Im wohl russischsten Text der russischen Literatur, in den Toten Seelen, vergleicht Gogol meine Heimat mit einer rasenden Troika, die die anderen Länder und Staaten überholt: „Wohin stürmst du, Russland? Gib Antwort! Du schweigst.“ Jedes Schulkind kennt diese Zeilen. Sie haben Generationen von russischen Lesern Hoffnung gemacht. Wohin stürmt denn die Troika – in die lichte Zukunft?

Seit Gogol sind anderthalb Jahrhunderte vergangen. Das Land hat historische und das Volk genetische Erfahrung gesammelt. Die epochalen sozialen Befreiungsexperimente haben zu noch grausamerer Diktatur geführt, unter jedem Regime wurde der begabteste und aktivste Teil der Bevölkerung entweder vernichtet oder in die Emigration gezwungen. Ach, im Besitz dieser bitteren Erfahrung würde der große Schriftsteller Russland heute mit einem Metrozug vergleichen, der vom einen Ende des Tunnels zum anderen fährt – von der Diktaturordnung zur Anarchodemokratie und zurück. Das ist seine Strecke. Kein anderes Ziel erreicht man in diesem Zug. Meiner Generation war es vergönnt, in beiden Richtungen durch den russischen Tunnel zu rollen. Die Perestroika und die Schwäche der Staatsmacht haben das Land ins Chaos der neunziger Jahre gestürzt, dann fuhr der Zug in die Gegenrichtung und wir fanden uns im neuen Putin-Imperium wieder. Vergleicht man die gegenwärtigen Ereignisse in Russland mit der Geschichte Europas, so stehen die Russen wieder einmal kurz vor einer bürgerlichen Revolution. Aber wird sie gelingen? Meine Eltern lebten in der kommunistischen Sklavenhalterordnung und setzten mich als sowjetischen Sklaven in die Welt. Der unverhoffte Tod der drei letzten Generalsekretäre der KPdSU führte Russland zur »Demokratie«, die sich in das patriarchalische Feudalsystem Putins verwandelte: Die Macht ist von oben nach unten auf der persönlichen Ergebenheit des Vasallen (Gouverneurs, Bürgermeisters, Bezirkspräfekten usw. bis zum kleinen Bullen) seinem Souverän gegenüber aufgebaut. Dieses System ist sehr haltbar und ich fürchte, nicht nur eine russische Generation wird in ihm geboren werden und mit ihm leben müssen.

Was soll die europäische Minderheit in Russland tun? Versuchen, die Regierung zu bekämpfen? Auswandern? Und zu guter Letzt: Wenn man die demokratische Willensbekundung der Mehrheit als einzig richtige Entscheidung anerkennt, dann muss man sich damit abfinden, dass in Russland selbst in den freiesten Wahlen wiederum Putin siegen wird. Für die feudale Mentalität der Bevölkerungsmehrheit unseres riesigen Landes ist die Staatsmacht wie eh und je sakral, weil sie die Macht ist. Deshalb wird auch für die Macht gestimmt.

Alle Ereignisse der letzten Zeit belegen, dass in Russland die Schrauben wieder fester angezogen werden. Die Regierung hat nicht vor, auch nur einen Schritt zurückzuweichen. Allen, denen es nicht gefällt, in Putins System zu leben, wird unzweideutig nahegelegt, das Land zu verlassen – die Grenzen sind offen. Wir stehen auf der Schwelle zu einer neuen Großen Völkerwanderung. Sie hat schon eingesetzt. In den nächsten Jahren werden Hunderttausende von Menschen aus Russland nach Europa einströmen. Kehren wir nun zum Teremok zurück. Alle Versuche des Bären, sich in das Tierhäuschen zu zwängen, müssen natürlich scheitern. Der Bär wird wütend und setzt sich auf das Häuschen. Damit ist es mit dem Häuschen und dem Märchen aus.

Auf das Häuschen Europa setzen sich aber mit aller Macht noch andere Bären – der afrikanische und der asiatische. Und kein Rettungsschirm wird das europäische Häuschen retten. Das Europa des 21. Jahrhunderts ist zu klein geworden, um im eigenen Saft zu schmoren und nur an sich selbst zu denken. Bevor es zu spät ist, müssen sich die europäischen Tiere aus ihrem engen europäischen Denken befreien, um die globalen Probleme zu lösen, die vor Europa und der ganzen Menschheit stehen. Unser Häuschen ist ja unsere ganze Erde.

(Übersetzt aus dem Russischen von Annelore Nitschke)

© Michail Schischkin, ilb.de

 

 

Leseprobe aus dem neuen Buch


 

Michail Mischkin, Briefsteller - Roman
Originaltitel: Pis'movnik, Originalverlag: AST, Moskow
Aus dem Russischen von Andreas Tretner
384 S., geb., Schutzumschlag, DVA, € 22,99, ISBN: 978-3-421-04552-2


 




Wie ich die Zeitung von gestern aufschlage, steht da etwas über Dich und mich.

Da steht: am Anfang wird wieder das Wort sein. Während sie den Kindern in der Schule immer noch die alte Geschichte auftischen, dass es zuerst einen großen Knall gab und alles, was da war, in Fetzen flog.aber dann muss das alles ja schon vor dem Knall existiert haben: alle noch unausgesprochenen Wörter und alle sichtbaren und unsichtbaren Galaxien. So wie dem Sand schon das künftige Glas innewohnt, Sandkörner sind Samenkörner für dieses Fenster hier, vor dem gerade ein Junge vorbeiläuft, der sich seinen Fußball vorne unter das Trikot geklemmt hat.So ein Knäuel aus Wärme und Licht.

Und dieses Ding – mit Stübchen und Bübchen: nicht Tür noch Tor führn ein und aus, wie heißt nun dieses kleine Haus? – war ungefähr wie ein Fußball so groß, sagt die Wissenschaft. Oder wie eine Melone. Die Bübchen darin waren wir. Und all das reifte heran und tat dicke und wollte mit Macht heraus. Die Urmelone platzte.Die Samen stoben in alle Winde und sprossen. Ein kernlein keimte aus und wurde Baum, der Schatten seines Astes schurrt über unser Fensterbrett. Ein anderes wurde zur Erinnerung eines Mädchens, das ein Junge sein wollte. Einst ging es zum Kinderfasching als  Gestiefelter Kater, aber alle wollten es immer nur am Schwanz ziehen und gaben nicht länger Ruh, bis sie ihn abgerissen hatten und das Mädchen den Schwanz in der Hand mit sich herumtragen musste.Ein drittes Kernlein, das vor Zeiten auf fruchtbaren Boden fiel, wurde zum Jüngling, welcher es gern hatte, wenn ich ihm den Rücken kraulte, und lügen nicht ausstehen konnte, besonders wenn sie von allen Tribünen schallten: dass es keinen Tod gebe und geschriebene Worte eine Art Straßenbahn zur Unsterblichkeit seien. Dem Horoskop der Druiden nach war er Mohrrübe. Bevor er sein Tagebuch und alle Manuskripte verbrannte, schrieb er noch einen letzten, furchtbar komischen Satz: »Die Gabe hat mich verlassen.« Ich konnte ihn gerade noch lesen, bevor Du mir das Heft aus den Händen rissest. Wir standen am Feuer und hoben die Hände gegen die Hitze vors Gesicht, sahen auf die Fingerknochen, die sich im durchscheinenden roten Fleisch abzeichneten. Ascheflocken rieselten auf uns herab – verbrannte Seiten, noch warm.

Ja, das war mir fast entfallen – bis zu dem Tag, wo sich alles, was da ist, wieder in einem Punkt zusammenzieht. Rübchenbübchen, wo magst Du gerade sein?

Und übrigens, wie kommt mir das vor? Die dumme Jule strengt sich an und schickt ihm Briefe, doch Monsieur Saint Preux in seiner Hartherzigkeit begnügt sich mit ein paar launigen Kurzbotschaften – teils in Versen, worin sich Seelen auf Makrelen reimt, Munition auf Sublimation, verschissenes Loch auf Lächeln der Mona Lisa (weißt Du übrigens, worüber sie lächelt? ich hab es, glaube ich, heraus), Nabel auf Babel und Gott auf Kompott. Mein Geliebter! Warum hast Du das getan?

Ich muss mir nur noch einen Krieg aussuchen. aber daran wird es nicht scheitern. Solcher Segen liegt dem keuschen Vaterland ja doch am Herzen und genauso den befreundeten Reichen: kaum blättert man die Zeitung auf, schon werden Babys aufs Bajonett gespießt und alte Frauen vergewaltigt. Ein unschuldig getöteter Zarensohn im Matrosenanzug weckt dabei immer noch am meisten Mitleid.  Alte, Frauen und Kinder, das geht zum einen Ohr rein, zum anderen raus, ein Matrosenanzug ist was anderes. Bin nur ein armer Solotambour, o Abendlied, o Glockenklang, die Heimat ruft. auf der Einberufungsstelle wurde die Berufung ausgegeben: Jedem sein Waterloo! Wohl wahr. Der Militärarzt der Musterungskommission – riesiger knorriger Kahlschädel – sah mich an mit forschendem Blick.

»Du hast für die Menschen nur Verachtung übrig«, stellte er fest. »Ich war auch einmal so, weißt du. Bei meinem ersten Krankenhauspraktikum war ich in deinem Alter. Eines Tages bekamen wir einen Obdachlosen rein, den hatte ein Auto angefahren. Er lebte noch, war aber arg zugerichtet. Man

gab sich nicht groß Mühe mit dem Alten. Es war klar, dass er niemandem wichtig war, kein Hahn würde nach ihm krähen. Er stank und starrte vor Dreck, hatte Läuse, Geschwüre. Man legte ihn abseits, möglichst weit weg, damit er nichts besudelte. Dort sollte er sein Leben aushauchen. Und ich sollte hinterher den Dreck wegmachen, die Leiche waschen und ins Schauhaus bringen. Alle gingen weg, ließen mich mit ihm allein. Und ich ging erst mal eine rauchen. Dachte: Wieso mache ich das hier eigentlich? Was geht dieser Alte mich an? Wozu ist er überhaupt gut? Während ich rauchte, tat er uns den Gefallen und starb. Und während ich ihm notdürftig Blut und Eiter abwischte, um ihn schleunigst in die Kühlkammer zu bugsieren, da kam mir der Gedanke: Vielleicht ist er ja auch Vater von irgendwem?… Ich schleppte eine Schüssel heißes Wasser an und begann ihn zu waschen. Der Körper war alt und verwahrlost, das blanke Elend. Den hatte seit Jahren keiner gestreichelt. Und ich wusch ihm die Füße, die grässlich verkrüppelten Zehen, fast ohne Nägel – die hatte der Fußpilz weggefressen. Mit dem Schwamm wusch ich alle seine Narben und offenen Wunden aus, und dabei redete ich leise mit ihm: Na, Alter, das Leben hats nicht gut mit dir gemeint, wie? Ist schon hart, wenn einen keiner liebt. Wie fühlt man sich auf der Straße, in deinem Alter, so als streunender Hund? Aber jetzt hat das ja alles ein Ende. Ruh dich aus. Jetzt ist alles gut. nichts tut mehr weh, keiner kann dich hetzen… So hab ich den gewaschen und mit ihm geredet. Keine Ahnung, ob ihm das im Tod geholfen hat, aber mir hat es im Leben sehr geholfen.« Ach, meine Saschenka!

Liebster Wolodenka!

Ich sehe der Sonne beim Untergehen zu und denke – womöglich tust auch Du das gerade? Dann wären wir also beieinander.Welch eine Stille ringsumher. Welch ein Himmel! Der Holunder da treibt auch Weltempfindung.in solchen Momenten scheint es, als wüssten die Bäume alles, könnten es nur genauso wenig sagen wie wir. Und auf einmal spürst du ganz deutlich, dass Worte und Gedanken aus demselben Stoff sind wie diese Glut am Himmel, oder überhaupt dieselbe Glut, nur gespiegelt in der Pfütze da, oder meine Hand mit dem verbundenen Daumen, ach, könntest Du all das jetzt sehen! Ja, stell Dir vor, ich war so geschickt, mir mit dem Brotmesser in den Daumen zu schneiden, bis in den Nagel hinein. ich habe recht und schlecht einen Verband angelegt und zuletzt Augen und Nase daraufgemalt. Fertig war der kleine Däumling. Mit dem rede ich schon den ganzen Abend über Dich. Ich habe Deine erste Karte wiedergelesen. Ja, ja, ja: alles reimt sich, das ist wahr! Man muss sich bloß umschauen. Überall Reime! Hier die sichtbare Welt und da – wenn du die Augen schließt – die unsichtbare. Hier die Zeiger der Uhr, da der Reim auf sie: Strombus, die Meeresschnecke, aus der ein Aschenbecher wurde. Hier die Kiefer, deren Ast am Himmel unentwegt etwas zu flicken hat – dort auf dem Regal ein Kräutlein aus der Apotheke, geeignet, Winde zu vertreiben. hier mein verbundener Daumen – bestimmt bleibt da jetzt eine Narbe fürs Leben – und als Reim darauf derselbe Daumen, nur vor meiner Geburt oder wenn ich mal nicht mehr bin, was vermutlich dasselbe ist. Alles ist mit allem in der Welt verreimt. Die Reime halten die Welt zusammen wie Nägel, bis an die Köpfe sind sie hineingetrieben, damit ja nichts auseinanderfällt. Und was das Erstaunliche ist: Diese Reime waren immer schon da, von Anfang an, man kann sie sich gar nicht ausdenken. So wie man sich, sagen wir, eine gewöhnliche Mücke nicht ausdenken kann oder diese Wolke da, aus der Sparte der Langstreckenflieger. Sich die simpelsten Dinge auszudenken übersteigt alle Fantasie, verstehst Du?

Bei wem stand das von den glücksüchtigen Leuten? Das ist gut gesagt! Süchtig nach Glück – das bin ich. Außerdem ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, dass ich Deine Gesten imitiere. Deine Art zu sprechen. Dass ich die Welt mit Deinen Augen sehe. Denke wie Du, schreibe wie Du. immerzu sehe ich unseren Sommer vor mir. Unsere morgendlichen »Etüden in Öl«: schmelzende Butter auf getoastetem Brot…

Unser Tisch unterm Flieder, die Wachstuchdecke mit dem braunen Dreieck, weißt Du noch? Ein Abdruck vom heißen Bügeleisen. Und dann das, woran Du Dich garantiert nicht erinnern kannst, die Erinnerung gehört mir allein: wie Du am Morgen über die Wiese läufst, und hinter Dir bleibt etwas wie eine leuchtende Skispur in der Sonne zurück. Und erst die Düfte aus dem Garten! Die so dicht und dick in der Luft hängen wie eine Emulsion, man meint sie sich als Likör ins Glas zapfen zu können.Und alles um einen her scheint nur das eine im Kopf zu haben: Man läuft durch Wald und Feld und wird unentwegt bestäubt und besamt. Die Socken von Grassamen wie überzogen.

Und weißt Du noch, wie wir den Hasen im Feld fanden mit abgeschnittenen Läufen, er war in den Mähbalken gekommen.kühe, braunäugig. Ziegenkötel auf dem Schlängelpfad.

Und unsere Talsperre: trüber Grund, blühende Fäulnis, alles voll Froschlaich. Silberkarpfen springen wie stößige Böcklein den Himmel an. Man steigt aus dem Wasser und zupft sich die Schlingpflanzen von der Haut. Ich strecke mich zum Sonnenbad aus, lege mir das Hemd übers Gesicht, der Wind knattert leise, es klingt wie gestärkte Bettwäsche. Plötzlich ein Kitzeln im Nabel, ich öffne die Augen: Das bist Du! Lässt mir aus der Faust in dünnem Strahl Sand auf den Bauch rieseln. Auf dem Weg nach Hause testet der Wind die Bäume und uns auf Segelfähigkeit.

Wir lesen Falläpfel auf – die ersten, noch sauren, gut fürs Kompott –, bewerfen uns damit.

Gezackter Wald im Abendrot. Und mitten in der Nacht weckt uns die zuschnappende Mausefalle.

Saschenka, liebste!

Dann werd ich die Briefe eben von jetzt an nummerieren, damit Du weißt, was weggekommen ist.

Verzeih, dass mein Geschriebs immer so kurz ist – man findet einfach keine Zeit für sich. Und sowieso fehlt es an Schlaf, die Augen fallen einem zu, man möchte im Stehen einschlafen. Descartes hat täglich früh um fünf aufstehen müssen, um der Königin Christine von Schweden Vorlesungen in

Philosophie zu halten, das hat ihn zuletzt ins Grab gebracht. Ich halte mich noch ganz tapfer. Heute war ich im Stab und sah mich in kompletter Montur zufällig im Spiegel. Was für eine komische Verkleidung!, hab ich gedacht. Ich und Soldat – das wundert mich immer noch. Trotz alledem, es hat etwas, sein Leben nach dem Kinn des vierten Manns in der Reihe auszurichten. Ich erzähle Dir die Geschichte einer Mütze. Sie ist kurz. Denn sie wurde mir geklaut. Die Mütze, meine ich. Und ohne Mütze anzutreten ist eine Verletzung der Dienstvorschrift, also ein Verbrechen.

Unser Zugführer, Kommandeur der Kommandeure, Befehlshabender aller Befehlshabenden, stampfte mit dem Fuß auf vor Wut und verhieß mir, ich würde die Latrine schrubben bis ans Ende aller Zeiten.

»Auslecken wirst du sie, du Arsch!« also sprach er. nun ja, die Sprache beim Militär ist erfrischend. Irgendwo las ich, Stendhal habe durch das Studium der Gefechtsbefehle Napoleons gelernt, einfach und klar zu schreiben. Und die Latrine, meine liebe Saschka in der Ferne, sie bedarf einer besonderen Erläuterung. Stell Dir ein Reihe löcher vor in einem total verdreckten Fußboden. Oder nein, stell sie Dir besser nicht vor. Und noch dazu scheint jeder bestrebt, seinen haufen nicht ins loch zu machen, sondern ein Stück daneben. Und das Wort Haufen trifft es nicht, es ist eine Pfütze. Ein einziger großer Sumpf. Die Darmtätigkeit Deines Ergebensten und seinesgleichen, das ist nämlich ein Thema für sich. In der hiesigen Abgeschiedenheit kneift der Bauch eigentlich immerzu. Unklar, wie man sein Leben der Kunst zu siegen weihen soll, wenn man die ganze Zeit über dem Loch hängt und ausläuft?

Jedenfalls, ich sage zu ihm: »Wo soll ich denn jetzt eine Mütze hernehmen?«

Darauf er: »Du hast dir deine klauen lassen, also klau dir wieder eine!« Also ging ich eine Mütze klauen. Was nicht so einfach ist. Es ist sogar überaus schwierig, denn jeder versucht es. Ich tigerte sinnlos umher.Und dachte auf einmal: Wer bin ich denn? Wo bin ich? Und ging die Latrine putzen. Und die Welt wurde gewissermaßen schwerelos. Ich musste erst hier herkommen, um die einfachsten Dinge verstehen zu lernen. Scheiße ist überhaupt nicht schmutzig, verstehst Du?

Dies wird ein Nachtbrief. Vorhin habe ich einen Brotkanten im Bett geknabbert, jetzt hindern mich die Krümel am Einschlafen, sie wandern übers Laken und zwicken.im Fenster über meinem Kopf: Sternengewimmel. Die Milchstraße teilt den Himmel schräg mittendurch. Das ist wie ein gigantischer mathematischer Bruch: Das halbe All im Zähler, die andere Hälfte im Nenner. Bruchrechnen habe ich immer gehasst, genauso Quadrat- und Kubikzahlen und irgendwelches Wurzelnziehen. Das ist alles so abstrakt und unvorstellbar, nichts, woran man sich festhalten könnte. Eine Wurzel ist eine Wurzel, nämlich von einem Baum. Die stößt kräftig in den Boden vor, krallt sich fest, frisst sich ins Erdreich, ist zäh, unaufhaltsam, saugend, gierig, lebendig. Und dieser Quatsch mit Häkchen – will eine Wurzel sein!

Oder die Sache mit dem Minuszeichen. Minus Fenster – wie soll das gehen? Von einem Minus lässt sich kein Fenster beeindrucken, es bleibt an Ort und Stelle, genau wie das, was durch das Fenster zu sehen ist. Oder: minus ich? Das gibt es doch gar nicht. Ich bin sowieso mehr für das, was sich anfassen lässt. Und riechen! Riechen ist sogar noch wichtiger. Wie in dem Buch, aus dem mir Papa früher immer vor dem Einschlafen vorgelesen hat. Da gibt es verschiedene Menschen. Solche, die immerzu gegen Kraniche kämpfen. Solche mit nur einem Bein, auf dem sie flott vorankommen, hinwieder ist die Sohle des Fußes so breit, dass sie in ihrem Schatten Schutz vor der ärgsten Mittagssonne finden und Siesta halten können wie in einem Haus. Und Leute gibt es, die leben ausschließlich vom Duft der Früchte. Gehen sie auf Reisen, packen sie Obst ein. Und fährt ihnen etwas Übles in die Nase, sind sie dem Tode nah. So eine bin ich. Alles lebendige, so es auf der Welt bestehen will, muss riechen, verstehst Du? Irgendeinen Geruch haben. Wohingegen diese Brüche und was sie uns sonst noch in der Schule beizubringen versuchten – das riecht alles nicht. Draußen torkelt ein Spätheimkehrer vorbei, kickt eine leere Flasche. Der helle Klang von Glas auf dem Asphalt der leeren Straße. Jetzt ist sie kaputt. Nachts in solchen Momenten kann es ganz schön einsam sein. Dann will man wenigstens Anstoß sein für irgendwas.

Wie gern wäre ich jetzt bei Dir. Nicht auszuhalten ist das! In Deinen Armen liegen, mich ankuscheln.

Willst Du wissen, was herauskommt, wenn man den Sternenzähler da oben durch den Sternennenner teilt? Die eine Hälfte des Universums durch die andere? Heraus komme ich.

Genauer, wir zwei. Heute sah ich ein Mädchen, das mit dem Fahrrad gestürzt war und sich das Knie aufgeschlagen hatte, Es saß da und weinte bitterlich, die weißen Kniestrümpfe waren schmutzig.

Das war an der Uferstraße, wo die Löwen sitzen – die Rachen vollgestopft mit Müll, Bonbonpapier und Eisstielen. Hinterher beim Nachhausegehen kam mir der Gedanke, dass die wirklich großen Bücher oder Gemälde gar nicht von Liebe handeln, das geben sie nur vor, damit das Lesen Spaß macht. In Wirklichkeit geht es um den Tod. Da ist die Liebe nur Fassade, oder besser gesagt: eine Augenbinde. Damit man nicht zu viel sieht. Sich nicht graust.

Jetzt weiß ich nicht, was das mit dem vom Fahrrad gefallenen Mädchen zu tun hat. Sie hat ein bisschen geweint und das Ganze dann wohl schnell vergessen, während im Buch das aufgeschürfte Knie fortleben würde, über den Tod des Mädchens hinaus. Eigentlich handeln die Bücher wohl nicht vom Tod, sondern von der Ewigkeit, aber diese Ewigkeit ist nicht echt – sie ist ein Fragment, eine Momentaufnahme, so wie die berühmte Mücke im Bernstein. Hat sich nur für ein Sekündchen hingesetzt, um sich die Hinterbeine zu reiben – und dann wars für immer. Klar, da wird ausgewählt, allerlei berückende Momente – aber ist es nicht schrecklich, für immer darin zu verweilen wie ein Nippes aus Porzellan? Der Schäfer, der sich nach vorne reckt, die Schäferin zu küssen… Porzellan muss ich nicht haben. Es soll am Leben sein, hier und jetzt. Du, Deine Wärme, Deine Stimme, Dein örper, Dein Geruch.

Du bist jetzt fern genug von mir, dass ich nicht scheue, Dir etwas zu beichten: Damals auf der Datscha war ich des Öfteren in Deinem Zimmer, wenn Du nicht da warst, und habe alles beschnüffelt! Deine Seife. Dein Rasierwasser. Den Rasierpinsel. Die Schuhe. Von innen! Ich hab Deinen Schrank aufgemacht. Die Nase in den Pullover gesteckt. Den Hemdärmel. Den Kragen. Hab einen Hemdknopf geküsst. Mich über Dein Bett gebeugt, am Kissen gerochen… Ich war ja glücklich, doch das war nicht genug. Für das Glück braucht es Zeugen. Erst wenn man irgendeine Art Bestätigung bekommt, wird es perfekt. Wenn nicht mit einem Blick, einer Berührung, in Anwesenheit – dann eben in Abwesenheit, durch ein Kissen, einen Ärmel, einen Knopf in Vertretung. Einmal hättest Du mich um ein Haar erwischt, Ich kam gerade noch zur Tür hinaus. Da sahst Du mich und warfst mir Kletten ins Haar, ich war wütend auf Dich. Was gäbe ich heute dafür, von Dir  Kletten ins Haar geworfen zu kriegen! ich denke an Dich, und die Welt teilt sich in zwei Hälften: vor dem ersten Mal und danach. Unsere Rendezvous am Denkmal. Ich beim Schälen einer Apfelsine – meine Hand an Deiner klebend.

Der Zahnarztgeruch, der von Dir ausging, als Du mit einer frischen Plombe im Mund aus der Poliklinik kamst. Ich durfte sie mit dem Finger berühren. Und hier sind wir auf der Datscha beim Deckeweißen, Möbel und Fußboden mit alten Zeitungen abgedeckt. Wir sind barfuß, die Zeitungen bleiben an den Füßen kleben. Besudelt von Kopf bis Fuß, polken wir uns gegenseitig die Farbe aus den Haaren. Zähne und Zunge von Sumpfkirschen schwarz. Später hängten wir Tüllgardinen auf, einmal ergab es sich, dass wir auf verschiedenen Seiten der Gardine waren, ich ersehnte Deinen Kuss durch den Tüll…

Und hier trinkst Du Tee und verbrühst Dir die Zunge; bläst, damit er schneller abkühlt; trinkst schlückchenweise und schlürfst dabei laut und ungeniert, obwohl man uns als kind eingeimpft hat, dass sich das nicht gehört. Und ich schlürfe mit. Weil wir ja keine Kinder mehr sind. Wir dürfen alles. Dann der See.

Wir kraxeln den Steilhang hinab, nähern uns dem versumpften Ufer, der Pfad schmatzt und federt unter den nackten Füßen. Wir suchen uns einen Abschnitt, der frei von Entengrütze ist, waten hinein. Das Wasser ist trübe und von Sonne voll. Kälteres, von den Quellen her, strömt einem von unten entgegen. im Wasser berührten sich unsere Körper zum ersten Mal. am Ufer hatte ich es nicht gewagt, Dich anzufassen, hier konnte ich Dich einfach anspringen, Deine Schenkel mit den Beinen umklammern, Dich unter Wasser drücken. So hatte ich als Kind mit Papa im Meer herumgetollt. Du reißt Dich los, willst die Klammer meiner Arme lösen, ich lasse es nicht zu. Versuche hartnäckig Deinen Kopf unter Wasser zu drücken. Deine Wimpern sind verklebt, Du hast Wasser geschluckt, lachst und spuckst, schnaufst und fauchst. Dann sitzen wir in der Sonne.

Du hast einen Sonnenbrand auf der Nase, die Haut löst sich in kleinen Fetzen. Wir betrachten das sich zerfasernde Spiegelbild des Glockenturms vom anderen Ufer im Wasser. Da sitze ich nun beinahe nackt vor Dir, aber was mich am meisten geniert, sind meine Füße. Die Zehen, genauer gesagt. ch wühle sie in den Sand. ch bedrohe eine ameise mit der brennenden Zigarette, Du rettest ihr das Leben. Wir nehmen den kürzesten  Nachhauseweg querfeldein. Grashüpfer springen durch das dürre Gras, hängen sich an meinen Rock. Auf der Veranda hast Du mich in den orbsessel gesetzt und mir den Sand von den Füßen gestrichen. Wie einst Papa: Wenn wir vom Strand kamen, rieb er mir genauso die Füße ab, damit zwischen den Zehen kein Sand blieb. Und auf einmal war alles ganz einfach und klar. Unausweichlich. lang ersehnt. Ich stand vor Dir im nassen Badeanzug, mit hängenden Armen. Sah Dir in die Augen. Du griffst nach den Trägern, zogst mir den Anzug aus. Ich war seit langem dazu bereit, hatte den Moment erwartet, gefürchtet zugleich. Deine Furcht war wohl noch größer; es hätte schon früher passieren können, aber damals im Frühjahr, weißt Du noch, als ich Deine Hand nahm und dorthin legen wollte, hattest Du sie weggezogen. Jetzt warst Du ganz anders.

Weißt Du, was meine Befürchtung war? Nicht der Schmerz. Es tat ja dann auch überhaupt nicht weh, ging ohne Bluten ab. Aber vielleicht denkt er jetzt, es ist gar nicht mein erstes Mal, hab ich gedacht. Erst am Abend fiel mir der Badeanzug wieder ein und dass ich ihn nicht zum Trocknen aufgehängt hatte. Zusammengeknüllt lag er auf der Veranda, nass und kalt, mit brackigem Geruch.

Ich schmiegte mich an Dich, küsste Deine abgeblätterte Nase. Wir flüsterten, obwohl sonst keiner da war. Zum ersten Mal konnte ich Dir in Ruhe, ohne Furcht und Verlegenheit, in die Augen schauen: Sie waren rehbraun, mit grünen und haselnussbraunen Sprenkeln auf der Netzhaut.

Überhaupt war plötzlich alles anders – man durfte anfassen, was zuvor unberührbar war, weil es einem nicht gehörte. Eben noch fremd, jetzt zugehörig – so als hätte mein Körper sich ausgedehnt, mit Deinem zusammengetan. Und auch mich selbst spürte ich nun ausschließlich über Dich. Meine  Haut war nur da, wo Du sie berührtest. In der Nacht schliefst Du, ich konnte nicht. Mir war nach Weinen zumute, doch ich hatte Angst, Dich zu wecken. Also stand ich auf und ging ins Bad, wo ich nach Herzenslust heulen konnte. Und dann plötzlich diese Welle von Glückseligkeit am nächsten Morgen vor dem Waschbecken – beim  Anblick unser beider Zahnbürsten im selben Becher. Da standen sie, die Stiele gekreuzt, und sahen einander an.

Es sind die einfachsten Dinge, bei denen man sterben könnte vor Glück. Wieder zu Hause in der Stadt, Du warst im Bad, auf dem Klo, und ich – weißt Du noch? – ging vorbei auf dem Weg in die Küche, konnte auf einmal nicht an mich halten, ging vor der Tür in die Hocke und flüsterte durchs Schlüsselloch: »Ich liebe Dich!« Erst ganz leise, dann noch einmal lauter. Du aber verstandest mein Geflüster wohl falsch: »Ja doch, bin gleich fertig«, brummtest Du. Dabei musste ich gar nicht aufs Klo, ich musste zu Dir! Ich sehe Dich vor der Backröhre hocken mit einem Löffel in der einen Hand und dem aufgeschlagenen Kochbuch in der anderen. Etwas war in Dich gefahren, Du wolltest kochen, Du ganz allein, ich sollte nur nicht stören. Ich aber kam immer wieder in die Küche gerannt, wie um irgendwas zu holen, dabei wollte ich Dich nur sehen. Du warst dabei, Hackfleisch zu kneten, ich musste unbedingt meine Hände in den Topf dazustecken: Wie wunderbar, mit Dir gemeinsam die duftende Rindfleischmasse zu walken, dass sie einem durch die Finger quoll! Ansonsten standest Du mit Schöpf kellen, Topflappen und Bratpfannen eher auf Kriegsfuß. Beständig gewannen die Dinge unter Deinen Fingern ein Eigenleben, wollten Dir entschlüpfen, entrinnen, entspringen.

Ich weiß das alles noch ganz genau. Wie wir dalagen, außerstande, voneinander zu lassen – und

hinterher hattest Du von meinen Zähnen einen Halbkreis an der Schulter.

Unsere Beine ineinander verflochten, die Sohlen immer auf  Kontaktsuche, anschmiegsam, liebesbedürftig – und die eingecremten Zehen glitschen fröhlich ineinander. Wie die Leute in der Straßenbahn sich nach uns umdrehten. Deine Faust vor meiner Nase, meine Lippen an Deinem Juliknöchel. Der Fahrstuhl zu Dir hinauf schien unerträglich langsam zu kriechen. Deine Schuhe unter dem Tisch, mit den darin steckenden Socken.

Das war, als Du mich zum ersten Mal dort unten küsstest. Ich konnte lange nicht lockerlassen. Man ist doch aufgewachsen mit dem Wissen: Berühren verboten! Und dass es nur die Jungen sind, die sich einbilden, die Mädchen hätten zwischen den Beinen ein Geheimnis, wo es in Wirklichkeit nur schleimig, feucht und übelriechend ist, eine Bruthöhle von Bakterien. am Morgen fand ich meinen Schlüpfer nicht wieder, ich suchte überall, er war verschwunden. Ich denke ja immer noch, dass Du ihn Dir gegriffen und versteckt hast. Also ging ich ohne los. Lief die Straße lang, der Wind strich mir unter den Rock, und ich hatte das sonderbare Gefühl, Du wärest noch da. Zu wissen, dass ich bin, genügt nicht, ich muss mich dessen ständig versichern. anfassen und angefasst werden.

Ohne Dich bin ich ein leer über der Stuhllehne hängender Pyjama. Nur Deinetwegen sind mir meine Arme und Beine lieb und teuer geworden, ist mir mein Körper etwas wert: weil Du ihn küsstest, weil Du ihn liebst. Ich sehe in den Spiegel und ertappe mich bei dem Gedanken: Ah, das ist die, die er liebt! Und prompt beginne ich mir zu gefallen. Was früher nie vorkam. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, Du wärest hier. ich könnte Dich berühren. Umarmen. ich küsse Deine Augen – meine Lippen werden sehend.

Und mein sehnlichster Wunsch in diesem Moment ist, wie damals mit der Zungenspitze Deine Naht da unten entlangzufahren, die aussieht wie bei einem frischen kleinen Nackedei, den man gerade aus zwei hälften zusammengefügt hat. Die Körperteile, die am stärksten riechen, sollen der Seele am nächsten sein, stand irgendwo zu lesen. Ich habe das Licht gelöscht, um mich nun doch langsam einzukringeln und zu schlafen. Sieh da, der Himmel hat sich bewölkt, während ich Dir schrieb. Die Sterne sind wie mit einem schmutzigen Lappen von der Schultafel gewischt, zurück blieben weißliche Schlieren. Alles wird gut, ich fühle es. Das Schicksal malt mitunter den Teufel an die Wand – doch es passt auf dich auf, behütet dich vor wirklichem Unheil.

Saschka, meine Liebe! Ich leiste mir kecke Sprüche, aber in Wirklichkeit wäre ich hier ohne Dich, ohne Deine Briefe längst krepiert oder jedenfalls nicht mehr ich selber – ich weiß nicht, was schlimmer wäre. Ich schrieb Dir schon von unserem Peiniger; ich habe ihm den Spitznamen commodus verpasst, der sich gehalten hat; keiner außer mir, wie Du Dir denken kannst, hat dabei Marc Aurel im Sinn, der Kerl ist einfach ein Schrank. Heute gab er sich besonders viel Mühe, mir das wahre Leben vor Augen zu führen. Näheres erspare ich Dir und mir. Besser ist es, sich abzulenken, an etwas ganz Abwegiges zu denken – warum nicht an Marc Aurel. Zwar weiß ich nicht, was dieser Mann – berühmt, obschon tot seit einer Million Jahren – zu schaffen hat mit mir, der ich hier in kratzigen Armeeunterhosen hocke, und keiner kennt mich. Andererseits… War er es nicht, der geschrieben hat: Glücklich ist nur der auf Erden, der sein Glück zu schätzen weiß?

Und das dürfte es sein, was ihn und mich verbindet: Wir sind glückliche Menschen. Dass er tot ist und ich bin noch da, spielt keine Rolle. Gegen unser beider Glück ist der Tod eine Bagatelle. Der alte Römer schritt darüber hinweg und kam zu mir, so leicht wie über eine Schwelle. Das Glücksgefühl, es rührt von der Erkenntnis her: Alles ringsum ist nur Schein. Das Reale ist, wie ich damals zum ersten Mal bei Dir zu Hause war, zum Händewaschen ins Bad ging und den Schwamm auf dem Wannenrand liegen sah, und es durchzuckte mich: Der hat Deine Brust berührt.

Saschenka mein! Dass ich mit Dir zusammen war, das wird mir erst hier richtig klar. Jetzt denke ich daran zurück und wundere mich, wie achtlos ich doch gewesen bin. Weißt Du noch, wie bei Euch auf der Datscha die Sicherung durchbrannte? Du leuchtetest mir mit der Kerze, ich stand auf dem Stuhl und hantierte mit einem Draht zum Überbrücken. Mein Blick fiel auf Dich – Du sahst im Schummerlicht so fantastisch aus! Wie der Kerzenschein über Dein Gesicht flackerte! Die Flamme spiegelte sich in Deinen Augen. Oder beim Spazierengehen im Park: Immerzu ranntest Du vom asphaltierten Weg in die Wiese hinein, rupftest hier ein Blatt und da eine Rispe, kamst damit zu mir.

»Und wie heißt dies? Und was ist das?« An Deinen Absätzen klebte frische Erde. Einmal hattest Du Arme einen tiefblauen Zeh, da war Dir in der Straßenbahn jemand draufgetreten, Du trugst Sandaletten. Und den See sehe ich vor mir. Das Wasser wie eingedickt, zugewachsen mit Entengrütze und Wolken. Du tratest zum Rand, tunktest, den Rock gerafft, probehalber einen Fuß bis zum Knöchel ein. Ein Aufschrei. »Kalt!!« Du zogst den Fuß wieder heraus und fuhrst damit über die Wasserfläche, so als strichest Du die Falten glatt. Ich sehe es vor mir, als geschähe es eben jetzt.

Du zogst Dich aus, verknotetest sorgfältig das Haar, damit es ja nicht auseinanderfiel, und gingst ins Wasser, den Sitz des Knotens noch ein paarmal prüfend. Drehtest Dich auf den Rücken und bearbeitetest das Wasser mit schnellen Fußschlägen, sodass die Fersen in einer Garbe von Schaum rosa aufleuchteten. Dann machtest Du »den Stern«: Arme und Beine zur Seite gestreckt. natürlich war der Knoten auf dem Kopf doch aufgegangen, Dein langes Haar breitete sich nach allen Seiten aus. Später am Ufer warf ich einen verstohlenen Blick dorthin, wo sich zwischen Deinen Beinen die feuchten Locken unter dem Gummizug des Badeanzugs hervorkringelten. Als nächstes sehe ich Dein Zimmer vor mir. Du beim Schuheausziehen, Dich hinunterbeugend – erst die eine Schulter, dann die andere. Ich küsse Deine Hände. »He«, sagst Du, »die sind schmutzig!« Deine Arme um meinen Hals. Beim Küssen beißt Du mir in die Lippen.

Plötzlich schreist Du auf, ich erschrecke. »Was ist?« – »Du hast mir mit dem Ellbogen die Haare eingeklemmt!« Du, über mich gebeugt, mit der Brustwarze meine Brauen und Wimpern streifend. Dein fallendes Haar wie ein Zelt über uns beiden. Ich ziehe Dir das Höschen aus; ein Kinderschlüpfer, scheint mir, cremefarben, mit Schleifchen… Du hebst die Knie, um behilflich zu sein. Ich küsse Dich da, wo die Haut am weichsten und zartesten ist – an der Innenseite der Schenkel. Wühle meine Nase ins dichte, warme Gestrüpp. Das Bett knarrt so gotterbärmlich, dass wir auf den Fußboden umziehen. Dein Stöhnen unter mir, und wie Du Dich zur Brücke bäumst.

Dann liegen wir da, ein Luftzug streicht angenehm über die schweißnassen Beine. Der zarte Flaum zwischen Deinen Schulterblättern und das Muster von den harten Rändern der chinesischen Bambusmatte. Ich fahre mit dem Finger Deine spitzen Wirbel entlang. Greife mir vom Tisch einen Stift und verbinde die Muttermale auf Deinem Rücken mit Tintenstrichen. Es kitzelt Dich.

Später drehst und biegst Du Dich vor dem Spiegel, äugst Dir über die Schulter, um das Ergebnis zu betrachten. »Nein!«, sagst Du, als ich es wieder auswischen will. »Lass es.« – »Willst Du so herumlaufen?« – »Ja.«

Du stemmst die Füße gegen die Zwischenwand und beginnst auf einmal mit winzigen schnellen Schritten die Tapete hinaufzutrippeln; im Hohlkreuz, die Ellbogen auf die Matte gestützt, die Beine nach oben gestreckt, verharrst Du. Ich kann nicht anders, als Dich in Deiner Mitte zu küssen; Du klappst zusammen und fällst um. Als ich los muss und Du mich zur Tür bringst, hast Du nur das Unterhemd an, nichts darunter; als Du es merkst, genierst Du Dich und zerrst den vorderen Hemdsaum nach unten.

Und weißt Du noch, unsere letzte Nacht? Ich bin später noch einmal aufgewacht und hörte Dich

schnaufen. Du schliefst »eingemummt«, wie Du es gewöhnt warst, den Kopf unter der Decke, mit einem Loch zum atmen. Du warst mit einer Praline im Mund eingeschlafen, und nun floss Dir ein kleiner Schokoladenbach aus dem Mundwinkel, das sah lustig aus. Ich lag da und bewachte Deinen Atem. Ließ mich auf Deinen Rhythmus ein, atmete mit Dir: einaus, ein-aus. Ein-aus. lang-sam. Ja-wohl.

Ein. aus.

Nie zuvor im Leben hatte ich mich so wohl und behaglich gefühlt wie in diesem Moment. Ich betrachtete Dich, Du Schöne, friedlich Schlafende, berührte Dein Haar, das aus dem Deckenkokon hervorquoll, und mein sehnlichster Wunsch war, Dich in Schutz zu nehmen vor dieser Nacht, dem Gejohle draußen vor dem Fenster, vor der ganzen Welt. Schlaf, meine Saschenka! Schlaf gut! Ich bin da, atme mit Dir.

Ein.

aus.

Ein.

aus.

Ein.

aus.

Ein Blick in den Brief kasten – wieder nix von Dir. Ich müsste mich auf das Seminar morgen vorbereiten, doch mein Kopf ist leer. Drauf gepfiffen! ich brühe mir einen Kaffee, mache es mir auf dem Sessel bequem und schwatze erst mal eine Runde mit Dir. Pass auf!

Weißt Du noch, was wir für einen Spaß hatten, uns gegenseitig Geschichten aus der Kinderzeit zu erzählen? Aber vieles hab ich Dir von mir noch gar nicht erzählt.

Und jetzt knabbere ich an meinem Stift und weiß nicht, wo anfangen.

Soll ich Dir sagen, warum ich Sascha heiße?

Als Kind liebte ich heiß und innig schöne Schachteln, Schatullen aller Art, wie sie in den untersten Schüben unseres Wohnzimmerbüfetts lagerten. Brachte Ewigkeiten damit zu, die Dinge zu sortieren und zu betrachten, die Mama dort aufhob: Hals- und Armbänder, Broschen, alte Spiel- und Postkarten – alles, was sich nur denken lässt. In einer der Schachteln stieß ich auf ein Paar  Kindersandaletten – winzig und verschrumpelt. Beinahe wie Puppenschuhe. Wie sich herausstellte, hatte ich einen Bruder gehabt. Mit drei Jahren war er krank geworden, ins Krankenhaus gekommen. Und dort geschah das, wofür man das grausige Wort Kunstfehler gebraucht. Mein Bruder starb.

Die Eltern entschieden sich kurzerhand für ein weiteres kind, an seiner statt. Es wurde ein Mädchen. Das war ich. Mama hat das Kind anfangs abgelehnt, mir nicht die Brust gegeben, mich nicht sehen wollen. Das erfuhr ich alles später. Mein Vater hat mich aufgepäppelt. Mich und Mama. Aus dem Holzgitter meines Kinderbetts waren drei Stangen herausgesägt, damit ich aussteigen konnte. Es war sein Bett gewesen, sein Schlupfloch also, wovon ich freilich keine Ahnung hatte. Mir gefiel es, mich dort hindurchzuwinden – und dabei ahmte ich, ohne es zu wissen, seine Bewegungen nach.

Für mich war dieser Junge ungreifbar, zurückgeblieben in einem Leben vor meiner Geburt, das, wenn überhaupt existent, mit allen prähistorischen Zeiten verschmolzen war; für Mama hingegen war er anwesend im Hier und im Heute, an meiner Seite, ohne Unterlass. Einmal saßen wir auf dem Weg zur Datscha im Zug, gegenüber eine Oma mit Enkelkind. Das war ein gewöhnlicher rotznäsiger, quengeliger kleiner Schreihals, der immerzu etwas wollte und von seiner Großmutter beständig zurechtgewiesen wurde. »Jetzt halt endlich den Mund!«, zischte sie ihn an. Und ich erinnere mich, wie Mama zusammenzuckte, als sie die Alte den Namen sagen hörte: »Sascha, komm jetzt, wir steigen aus!« Draußen auf dem Bahnsteig wandte Mama sich von mir ab, wühlte verzweifelt in der Handtasche, und ich sah ihre Tränen fließen. Erst als ich selbst zu plärren anfing, drehte sie sich um, bedeckte mein Gesicht mit tränennassen Küssen und besänftigte mich: Ihr sei da nur etwas ins Auge geflogen… »Jetzt ist alles wieder gut!« Sie schnäuzte sich, tuschte ihre Wimpern nach, die Puderdose klappte zu, und beherzt schritten wir aus in Richtung Datscha. Und ich weiß noch, wie ich damals dachte: Bloß gut, dass dieses andere Kind gestorben ist, wo wäre sonst ich? Und in den Rhythmus meiner Schritte flocht ich Mamas tröstliche Worte: »Jetzt ist alles wieder gut!« Ich bin auf der Welt. alles spricht dafür, dass es so kommen musste. Alles um mich her, was war, ist und sein wird, darf als Beweis gelten – selbst das hin- und herknarrende Fensterchen da oben und diese Sonnenflecken auf dem Fußboden und die Blüten aus geflockter Milch im Kaffeebecher und dieser ausgeblichene Spiegel, der mit dem Fensterflügel das alte Spiel spielt, wer wen länger anschaut, ohne zu zwinkern. Als kleines Mädchen konnte ich mich stundenlang in mein Spiegelbild vergucken, Aug in  Aug. Warum ausgerechnet diese Augen?, fragte ich mich. Warum dieses Gesicht? Warum dieser Körper? Und wenn ich es gar nicht bin? nicht meine Augen, nicht mein Gesicht, nicht mein Körper? Sondern – mitsamt den Augen, dem Gesicht, dem zufälligen Körper – nur die Erinnerung einer alten Frau: der, die ich einmal sein würde?

Öfter hatte ich die Vorstellung, es gäbe mich zweimal. Zwillingsschwestern. ich und sie. So wie im Märchen: die gute und die böse. Ich das brave Töchterlein, sie das kleine Biest. Ich trug damals das Haar lang, und ewig nörgelte meine Mutter, ich sollte mich kämmen. Und was macht sie? Greift zur Schere und schneidet den Zopf einfach ab – aus purer Bosheit!

Und wenn wir auf der Datscha eine Theatervorführung gaben, dann waren sämtliche tragenden Rollen selbstverständlich durch sie besetzt, während es mir überlassen blieb, den Vorhang auf- und zuzuziehen. Es kam die Stelle, wo sie sich das Leben nimmt, das muss man sich vorstellen: Sie spricht ihre letzten Worte und hat das Messer schon in der Hand, das sie sich alsdann mit voller Wucht gegen den Schädel rammt, es spritzt echtes Blut, alles springt entsetzt auf, und sie liegt da und wird nicht wieder – weil das Stück es so will und noch dazu vor Begeisterung, denn außer ihr weiß nur ich, dass sie zuvor eine rote Rübe gerieben und ein Loch in ein Hühnerei gemacht und das Ei ausgeblasen und anschließend mithilfe einer bei Mama entwendeten Spritze den Rübensaft in das Ei gefüllt und das Ei unter ihrer Perücke verborgen hat. Am Ende springt sie auf, rübenblutbeschmiert, doch wiehernd vor Vergnügen, dass sie es vermocht hat, alle an der Nase herumzuführen: »Reingefallen, reingefallen!« Du kannst Dir nicht vorstellen, was es heißt, die ganze Zeit von ihr abhängig zu sein! Du kannst Dir nicht vorstellen, wie es ist, ein Lebtag ihre Kleider abzutragen! Ihr, der Prinzessin ohne Erbse, kauften die Eltern immer alles neu, und hinterher, wenn die Dinge alt und unansehnlich waren, gingen sie an mich. Nach den Sommerferien, wenn die Schule wieder anfing, bekam sie neue Schuhe, und ich durfte ihren alten Mantel tragen mit den löchrigen Taschen und dem Fleck am Revers. Die ganze Kindheit hindurch hat sie mich nach Herzenslust tyrannisiert. Ich weiß noch, dass ich auf dem Fußboden unseres Zimmers einen weißen Kreidestrich zog, der es in zwei Hälften teilen sollte. Sie wischte ihn aus und zog ihn neu, aber so, dass ich gerade noch vom Bett zum Tisch und zur Tür kam. Sich bei Mama zu beschweren wäre sinnlos gewesen, denn vor ihr spielte sie das Engelchen, nur wenn wir allein waren, begann sie mich zu kneifen und an den Haaren zu ziehen, damit ich nicht petzte.

Nie werde ich vergessen, wie ich diese wunderbare Puppe geschenkt bekam. Sie war riesig und konnte sprechen, die Augen auf- und zuklappen, sogar laufen.  Kaum hatte ich einen Moment nicht hingesehen, war mein Quälgeist schon dabei, sie nackig auszuziehen, um zu sehen, was sie nicht hatte – und es ihr anzumalen. Heulend lief ich zu den Eltern, aber die lachten bloß.

Mit ihr übereinzukommen war ganz unmöglich.  Hatte ich etwas vorzuschlagen, stampfte sie mit dem Fuß auf und widersprach. »Hier wird gemacht, was ich sage!«, verkündete sie. »Oder die Sache fällt ganz aus!« Dabei verengten sich ihre Augen und schossen Blitze, sie fletschte die spitzen Zähne, als wollte sie sich gleich in mich verbeißen. Ich weiß noch, wie ich erschrak, als meine Mutter mich fragte, mit wem ich denn spräche.

»Mit mir selbst«, log ich.

Heute weiß ich, es geschah immer dann, wenn ich geliebt werden wollte. Wenn ich bei anderen um Liebe buhlte, kam sie ins Spiel. Und das war beinahe immer der Fall – selbst wenn ich allein war. Nur mit Papa hatte ich das nicht nötig. Mit Papa war alles anders. Häschen nannte er mich – und Mama genauso. Wahrscheinlich gefiel es ihm, wenn zwei auf seinen »Häschen!«-Ruf antworteten – die eine aus der Küche, die andere aus dem Kinderzimmer. Kam er abends nach Hause, musste ich, so hatte man mir eingeschärft, vor dem Öffnen der Tür »Wer da?« fragen, um nicht versehentlich Fremde einzulassen. Seine Antwort war: »Hans Dampf in allen Gassen!« Auch wenn er sich nur die Schuhe auf dem Abtreter im Flur säuberte, sah es aus, als tanzte er. Gern brachte er seltsame Geschenke mit.

»Rate, was es heute ist!«

Es zu erraten war vollkommen unmöglich. Mal war es ein Fächer, mal eine asiatische Trinkschale, mal ein Lorgnet, ein leeres Flakon, eine Teebüchse, ein kaputter Fotoapparat. Oder eine japanische Nō-Theatermaske. Einmal schleppte er gar von irgendwoher ein echtes Elefantenbein an, ausgehöhlt, als Schirmständer tauglich. Mama schimpfte ihn aus, während mich seine Geschenke immer selig machten. aus heiterem Himmel konnte er sagen: »Jetzt lass deine Schulaufgaben mal liegen!« – und wir veranstalteten ein Konzert. Mit Vorliebe bliesen wir auf  Kämmen, um die Zigarettenpapier gelegt war, wovon die Lippen furchtbar kribbelten. Eine leere Tortenschachtel wurde zur Trommel. Papa schlug eine Ecke des Teppichs um und vollführte dort einen Stepptanz, bis die Nachbarn von unten klopften. Oder er schnappte sich die Schachtel mit den Schachfiguren und schüttelte sie im Rhythmus, dass es nur so schepperte. Er wollte immer, dass ich mit ihm Schach spiele, gewann jedes Mal und freute sich über sein Matt wie ein kleiner König.

Er kannte alle Tänze der Welt und brachte mir vieles bei. Besonders liebte ich den hawaiianischen Hula, wir tanzten ihn mit den händen in den Hosentaschen. Einmal am Tisch ermahnte er mich, ich solle nicht so herumkaspern, sonst würde er mir sein Glas Kefir über dem kopf auskippen.

»Tust du ja doch nicht!«, sagte ich.

Im nächsten Augenblick troff mir der Kefir vom Kopf. Mama war entsetzt – ich war hin und weg.

Um seine Liebe musste ich niemals kämpfen. Aber wenn Papa nicht dabei war, setzte mein anderes Ich, das Biest, mir unablässig zu. Ich hatte immer Probleme mit meiner  Haut, während ihre glatt und rein war. Dabei ist die Haut ja nicht bloß der Sack für die Eingeweide, sie ist das, worüber die Welt mit uns Fühlung aufnimmt. Eine kranke Haut ist der beste Weg, sich von der Welt abzuschotten, Berührungen zu vermeiden. Man hockt in sich verborgen wie in einem Kokon. Davon hatte die andere keine  Ahnung. Von all meinen Ängsten, deren größte es war, unter Menschen zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man irgendwo zu Besuch sein konnte und, wenn die anderen ihren Spaß miteinander hatten, auf die Toilette flüchten, auf der Brille herumhocken, ohne die Hosen herunterzulassen. auch nicht, wie man den Beweis für den Satz des Pythagoras auswendig wissen konnte und, zur Tafel gerufen, trotzdem den Mund nicht aufbekam, stattdessen zur Salzsäule erstarrte, den eigenen Körper verließ und irgendwo im Raum schwebte, wo man sich selbst, dieses elende, hilflose, verlassene Wesen, von der Seite betrachten konnte.

Von Pythagoras weiß ich heute nur noch, dass, als die Eltern ihm als Kind ein paar der einfachsten Formen, in denen das Unsichtbare vor den Menschen Gestalt annimmt, auf seinem kleinen Tisch auslegten: Kugel, Pyramide, Würfel, Äpfel, Honigküchelchen, wollene Flicken, einen  Krug mit Wein, und ihm aufsagten, wie das alles zu benennen war – dass der kleine Pythagoras sich die Erläuterungen brav anhörte und dann den Tisch umwarf. Ihre Aufsätze hingegen schrieb immer ich. Und bekam Fünfen dafür. Wobei die Lehrerin gern vor versammelter Klasse daraus vorlas und am Ende seufzte: »Ach, Saschenka, du wirst es einmal schwer haben im Leben…«

Die Fünfen bekam ich dafür, dass ich regelmäßig das Thema verfehlte. Drei Themen gab es zur Auswahl, man durfte sich für das erste, das zweite oder das dritte entscheiden– ich aber kam vom hundertsten ins Tausendste, weil die mir in dem Moment wichtiger vorkamen. Ich war eine Kreatur aus der Familie der Armfüßer, der Flügelkiemer, der Moosigen. Dagegen sie: der Reigen zu Mahanaim, mit Augen wie die Teiche von Heschbon am Tor Bat-Rabbim. Ich erinnere mich an den Blick, mit dem der Sportlehrer sie während des Unterrichts ansah, und wie mich das bestürzte.

© Michail Schischkin, Briefsteller, DVA

 

 

 



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