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Das Fantastische an Herrn Adamson

von Marie-Luise Wünsche


Synopsis

Das Fantastische der Schreibwerkstatt von Urs Widmer wird zunächst produktionsästhetisch und im Vergleich zu einem weiteren poeta doctus aus der Schweiz befragt. Im Anschluss daran kann dann am Beispiel des Romans Herr Adamson gezeigt werden, mittels welcher Narrative eigentlich alltägliche Begebenheiten im fantastischen Modus erscheinen.

Ein wichtiges Ergebnis ist, dass die Narrative zwar textuell vorkonturiert sind, aber innerhalb der Lektüre und abhängig von ihrem Stand noch sehr wandelbar sind, also gleitende und nicht manifeste Formen darstellen. Der Grad der Fantastik ist vom Grad der Textkenntnis abhängig, der auch dafür zuständig zeichnet, ob etwa eine Anachronie analeptisch oder proleptisch wirkt. Ebenso signifikant ist, dass Widmers Literatur als fantastische Variante der „Kleinen Literatur“ im Sinne Kafkas lesbar wird.


Fantastische Schreibweisen Urs Widmers
und fantastische Irrfahrten zwischen Übergang, Verwischung
und Entgrenzung mit „Herr[n]Adamson“


I  Zur Einleitung. ‚Kleine Literatur‘ von Urs Widmer im Modus des Fantastischen

 

Es war einmal“, dieser geniale erste Satz der Brüder Grimm, könnte tatsächlichder Anfangssatz aller erzählenden Literatur sein. 1



Urs Widmer lebt heute in Zürich. Er wurde am 21. Mai 1938 in Basel geboren, am selben Tag also, an dem auch der Protagonist und Ich-Erzähler des hier im Zentrum der Analyse stehenden Romans Herr Adamson gemäß der fiktiven Szenerie als Figur das Licht der Welt erblickt haben soll. Urs Widmer zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, die auch international bekannt sind. Aufgrund seines Gattungen mühelos transzendierenden Erzähltalents, aber auch wegen der hohen zeitpolitischen Relevanz und des damit zusammenhängenden gesellschaftskritischen Engagements, das besonders, aber nicht ausschließlich einige seiner dramatischen Werke auszeichnet, – man denke etwa nur an Top Dogs, „ein Königsdrama der Wirtschaft“2 oder auch an das neueste Drama Das Ende vom Geld, uraufgeführt 2012 in Darmstadt –, wird er gelegentlich mit Friedrich Dürrenmatt verglichen. Als Germanist, Romanist und Historiker, der in Basel über die Prosa Heinrich Bölls und anderer Schriftsteller aus dem Nachkriegsdeutschland promovierte, kann man Widmer, – ähnlich wie den 1989 unter nicht eindeutig aufzuklärenden Umständen verstorbenen Hermann Burger – als einen poeta doctus bezeichnen.3

Mit Blick auf die Schreibweisen soll einleitend erstens vom Prozess des schriftstellerischen Schreibens her das Fantastische der ‚kleinen Literatur‘ Urs Widmers kurz skizziert werden. Im Anschluss daran werden dann zweitens handlungs- und raumkonstituierende Narrative des Romans selbst auf ihre Funktion für das fantastische Erzählen zwischen Übergängen, Entgrenzungen und Verwischungen hin befragt (ich nehme hier also die Stichworte als Beschreibungskategorien bestimmter Erzählbewegungen Ernst, unter denen man mich ja einlud, über die Fantastik anlässlich der Jahrestagung der GfF in Zürich 2012 nachzudenken). Drittens beschließt eine knappe, als Ausblick gedachte Skizze den Beitrag damit, diese Literatur als Heterotopie im Sinne Foucaults zu zelebrieren.

Die Analyseschritte im zweiten Teil dieses Beitrages rekurrieren ihrerseits, sofern dies erforderlich scheint, auf Kategorisierungen, die Gérard Genette in seinem Beitrag Die Erzählung vorschlägt sowie auf den von Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer viel beachteten Einführung in die Erzähltheorie gemachten Erweiterungen eben dieses Vokabulars von Genette. Es sei jedoch schon an dieser Stelle vermerkt, dass der Roman Herr Adamson gerade durch eine höchst komplexe, raffinierte und vielschichtige Erzählweise mehr dazu angetan ist, diese und andere Narratologien spielerisch in ihre Grenzen zu verweisen, als von ihnen entschlüsselt zu werden.


Dieser erste Teil ist im Sinne einer Kontextualisierung respektive eines möglichen und naheliegenden, keineswegs aber notwendigen Paratextes zum Roman selbst gedacht. Text aber heißt hier und im folgenden im Anschluss an Kristeva und andere eben nicht nur verbal präsenter zusammenhängender und der Dechiffrierung bedürftiger Kommunikationsbeitrag, sondern zielt vor allem auf die höchst komplexe und über mehrere Ebenen vernetzte Präsenz aller Kommunikation, also eben etwa auch die eines schriftstellerischen Schreibverfahrens. Text und Textur visiert also immer zugleich auch an, dass Literatur nicht nur linear, sondern vor allem auch verwoben vorliegt: dies, also ‚Gewebe‘, ist ja auch der weitere Wortsinn von Text und Textur. Derartige einzelsprachlich verwirklichte Knotenpunkte, die vertikal und horizontal verlaufen und sich nur anscheinend von Buchdeckeln begrenzen lassen, analysieren zu wollen, bedeutet stets einen Eingriff von außen und erhellt deshalb ebenso regelmäßig Teilaspekte von Literatur um den Preis, andere Teilaspekte derselben Literatur nur umso deutlicher zu verstellen, gar zu verdunkeln. Entsprechend weiter ist auch der hier mit gemeinte Begriff von Intertextualität ausgelegt. Er zielt weniger darauf, ein Motiv a aus dem Text B im Text C und dem Kontext D nun als a2 wieder zu entdecken, sondern verweist mehr auf mögliche Verknüpfungen und Wiedererkennungseffekte von Lektüre zu Lektüre, die der Leser oder die Leserin während eines konkreten Leseaktes vornimmt. Dies kann Ähnlichkeiten der Schreibweisen ebenso betreffen wie Motivvarianten und schließlich auch Gemeinsamkeiten von literarischen und (auto-)biographischen Texturen.


Wie Hermann Burger, so hat auch der poeta doctus Urs Widmer einerseits innerhalb der jeweiligen Poetik-Vorlesung übers Schreiben schreibend und redend nachgedacht. Hermann Burger tat dies unter dem an Kleist gemahnenden Titel Über die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben 1986 in Frankfurt am Main. Urs Widmer dachte übers literarische Schreiben einmal unter dem Titel Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur 1991 in Graz nach und noch einmal anders 2007 in Frankfurt am Main, nun unter dem Titel Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das.4 Beide führen zudem stets auch innerhalb ihrer im engeren Wortsinn fiktiven Texte Erzählen und Erzählreflexion auf so artistische, so humorvolle Weise aneinander heran, dass die Grenzziehung zwischen dem einen und dem anderen nicht mehr geschehen kann, ohne beide Seiten dadurch bis zur Unkenntlichkeit zu verletzen.

Anders aber als Hermann Burger, der die Schnittmenge von eigenem und fremdem Schreiben, die intertextuellen Spuren, die zur Populärkultur, Wissenschaft und zu den Klassikern der Dichtungskunst führen könnten, lieber verschleierte, denn ausstellte (was etwa der Titel der Poetik-Vorlesung dann doch macht), ist Urs Widmers Schreiben von Beginn an eines, dem Sprache weder zum angemessenen Selbstausdruck noch wenigstens zum angemessenen Scheitern eines solchen Anspruchs gereicht.

Es besteht also Grund zu der Annahme, dass Widmers Schreiben mehr von außersprachlichen Szenen und Alltäglichkeiten einerseits und von bereits im Literaturarchiv versammelten Mythen, Märchen und weiteren Erzählmustern andererseits inspiriert wird, die es mittels spezifischer Techniken in (eigene) Sprache zu transformieren gilt, als dies bei Hermann Burger der Fall war. Burger ging nach eigener Aussage ja stets mehr von den Worten und deren Klang aus, ließ sich auch von deren etymologischen Geschichten inspirieren.


Im Unterschied dazu ist Urs Widmers Schreiben ein Schreiben, das weder intertextuelle Korrespondenzen noch Co-Autoren scheut, sondern im Gegenteil, eher Koproduktionen sowohl mit Rezipienten seiner Literatur als auch mit anderen Künstlern sucht. So weiß man vom Dramatiker Widmer, dass er während der Inszenierungen, ähnlich wie Dürrenmatt und doch auch anders als er, beobachtet und ändert, auch Vorschläge von Schauspielern und Publikum aufnimmt und für weitere Aufführungen in den Dramentext einschreibt. Der Epiker Widmer hat auch mit dem Buch Valentin Lustigs Pilgerreise. Bericht eines Spaziergangs durch 33 seiner Gemälde. Mit Briefen des Malers an den Verfasser, das im Diogenes Verlag 2008 erschien, als Schriftsteller die Rolle des Bilder nur begleitenden Erzählers übernommen und der Malerei des aus Rumänien stammenden Künstlers Lustig das zentrale audiovisuelle Geschichten erzählen überlassen. So entstand eine ganz eigene Variante der Graphic Novel, in der die sprachliche Erzählung die Bilderzählung illustriert und nicht umgekehrt und die man ihrerseits ebenfalls als fantastisch einstufen kann, weil die Art der Darstellung des Alltäglichen, der Modus also des zeichnenden und schreibenden Erzählens diesen Effekt bewirkt..

Spricht einiges dafür, Hermann Burgers Autorschaft als den Versuch zu lesen, sich vor allem in das Literaturarchiv einzuschreiben, so lässt sich Urs Widmers Schreiben leichter als eines definieren und lokalisieren, dem es um archivferne Deterritorialisierung des Erzählens geht, um ein gesellschaftlich und politisch wirksames Schreiben und Lesen, um Geschichten, die ‚mittenmang‘ stattfinden, unter den Menschen seiner Zeit, so dass dieser Autor sicherlich auch keine Berührungsängste zu performativen Sprachspielen und Literaturfestivals hat.

Die „Reisen“, die Widmer nach Ansicht des Germanisten und Komparatisten Gerhard Neumann „vom Schreibtisch aus, in die bilderreiche und von Stimmen erfüllte Welt; in die Regionen der Phantasie; in die Gegenden der Utopie; und nicht zuletzt in das Reich des Todes“5 unternimmt, dienen so vor allen Dingen auch dem Abbau der Distanz zwischen schriftstellerischem poetischem Bilderreichtum und jenem, den das nicht schreibende Gegenüber während des Lesens freisetzt.

Als Literatur, die zugleich poetisch und populär sein will, wird Urs Widmers gesamtes schriftstellerisches Schaffen als eine spezifische Variante der kleinen Literatur im Sinne Kafkas, Deleuze und Guattaris lesbar. Deterritorialisierung, also das Eingehen in differente literarische Praxisfelder und damit das Wegzielen vom Archiv, politische Wirksamkeit und kollektive Bedeutsamkeit, das sind die drei wesentlichen Charakteristika einer solchen kleinen Literatur, einer „minor Literature.“6


II Fantastische „Zottelkolonnen“ und andere narrative Erscheinungen
    zwischen Leben und Tod


Es gibt für einen literarischen Text nie einen einzigen Schlüssel, der uns alle Geschehnisse erschlösse. Literatur ist kein Kreuzworträtsel.7


Mit Verweis zunächst einmal auf eine weitere autoreflexive Stellungnahme Widmers kann man also sein gesamtes Werk als kleine Literatur im Modus des Fantastischen begreifen, denn: „Eine schöpferische Leistung ohne Fantasie gibt es nicht. Energie gleich Masse mal Geschwindigkeit im Quadrat, Einsteins berühmteste Formel, die ich, wie gesagt, nicht verstehe, ist ohne Zweifel eine gewaltige Leistung von Einsteins Fantasie.“8 Fantastisch ist sie demnach nicht, weil sie von einer anderen Welt berichtet, sondern weil sie von unserer alltäglichen und vertrauten Welt erzählt, als wäre sie eine andere, gar eine übersinnliche Welt und immer so, dass jeder mit- oder weitererzählen kann und darf.

Widmers Prosa eröffnet so stets mehr mittels eines fantastischen Erzählmodus die andere Sicht und damit die andere Erscheinungsform von eigentlich alltäglichen Topographien und Geschehnissen, als mittels Inszenierung ungeheurer oder unrealistischer Figuren und Motive. Bereits der frühe Erzählband Schweizer Geschichten wirkt dezidiert surreal und traumhaft, obwohl in ihm doch eigentlich die höchst realistische, weil durchaus mögliche Ballonfahrt über die einzelnen Kantone hinweg geschildert wird, welche in Frankfurt am Main startet und in Neuchâtel ein Ende findet. Dafür verantwortlich ist das Amalgieren einer wirklichkeitsnah wirkenden Szene, der Ballonfahrt, mit einer literarischen, hier mit der des Luftschiffers Beobachtungen, die bekanntlich von Jean Paul stammt.

Der Roman Herr Adamson ist dagegen jedoch gleich auf vielfache Weise der Fantastik verpflichtet: zunächst strukturell, dann formal mittels bestimmter narratologisch zu beschreibender Überblendungen, endlich thematisch und schließlich auch von einem zentralen Motivkomplex aus betrachtet, der Irrfahrt des Protagonisten gemeinsam mit einem Boten aus dem Totenreich in die Unterwelt nämlich.9

Die Verfahren und Techniken, die den fantastischen Modus allererst zu generieren helfen, sind als Abfolge von Übergängen zu Entgrenzungen beschreibbar, die endlich mittels Techniken, die Verwischungen der einmal gesetzten Grenzlinien eröffnen, wieder ein Stück weit zurückgenommen werden. Durch die schnelle Abfolge gewinnt die Erzählung zunehmend an Tempo. Nicht nur, aber besonders für die Berufsgruppe der Schriftsteller und Dichter hat Widmer ein bewegtes Bild gefunden, dass diese intertextuelle Kettenreaktion doppelt zu illustrieren vermag, einmal als Standbild, dann als bewegtes und variiertes und durch seine Prosa hindurch laufendes Vexierbild, da Widmer die „Zottelkolonne der Tradition“ in mindestens drei verschiedenen poetischen Kontexten jeweils anders, doch stets fantastisch inszeniert:


Diese Zottelkolonne, das ist die Tradition, und du bist, an einem Ort, den du dir nicht selber ausgesucht hast, ein Teil von ihr. Alle legen den vor ihnen Gehenden die Hand auf die Schulter und spüren auf ihrer Schulter die Hand derer, die hinter ihnen gehen. – Irgendwann einmal bist du, alt nun, der Vorderste der Lebenden geworden und gehst hinter dem jüngsten Toten. Nicht weit vor dir siehst du, ja, wen?, Robert Gernhardt, noch ganz so, wie du dich an ihn erinnerst, und dort Ernst Jandl und Reinhard Lettau […] Vor diesen, einiges weiter vorn, aber immer noch gut zu erkennen – von hinten halt – Franz Kafka und direkt vor ihm, Rainer Maria Rilke. Reden die beiden tatsächlich ganz heiter miteinander? Ein lachender Kafka, das ja, gewiss – aber ein grinsender Rilke – Dann, immer ferner, immer schwärzer, der ewige Zug derer, von denen wir nur noch jeden Tausendsten kennen, bestenfalls. Büchner, Kleist, ja, und der Wuchtige dort, der so raumverdrängend geht, der muss Goethe sein.10


Die „Zottelkolonne“ der „Tradition“, das ist eine Metapher, die ihrerseits fantastisches Potential aufweist, zotteln da doch lauter Untote in einer Reihe mit einem noch Lebendigen. Natürlich ist diese Potenz nur moderat ausgespielt, da hier zunächst innerhalb eines literaturwissenschaftlichen und nicht innerhalb eines literarischen Zusammenhanges diese Metaphorik mehr erklären, denn erzählen soll. Ein Perspektivenwechsel wird nötig, der die Dynamiken und Stoffvariationen des Erzählens nicht mehr mit Blick auf den Schreibenden zu beobachten sucht, sondern mehr mit Blick auf das fertige Produkt und dessen narrative Strukturen und Prozesse.

Zunächst ist diese „Zottelkolonne der Tradition“ eine Variation der im Roman Ein Leben als Zwerg verwendeten Polonäse. Dort sind es Spielfigurenzwerge, die derart ihre Umgebung erkunden: „Nichts entgeht einem in seiner Zottelkolonne gehenden Zwerg.“11

Dann findet sich diese „Zottelkolonne“ noch einmal außerhalb der Poetik-Vorlesung und abermals in mehr fiktionalen Gefilden wieder. Allerdings ist sie nun auf das Äußerste variiert.


Im Zusammenhang mit dem Motiv einer Hadesfahrt, die innerhalb des Romans Herr Adamson neu und sozusagen fürs einundzwanzigste Jahrhundert inszeniert wird, erfahren wir, dass es nicht nur möglich ist, dass Untote (Schriftsteller) eine Polonäse mit einem noch lebenden Schriftsteller bilden, der auf der Grundlage ihrer Kunst durch Variation und Erweiterung seine eigene Handschrift auszubilden sucht. Hier nun scheint das Totenreich so semipermeable Wände zu haben wie die Zellen des menschlichen Körpers. Herr Adamson, der mit dem zweiten Absatz des Romans eingeführt wird und auf der autodiegetischen Ebene die wichtigste Figur neben dem Ich-Erzähler darstellt, der zugleich Protagonist ist, weist den achtjährigen Jungen, welcher sich auf der extradiegetischen Ebene an sich und an dieses Abenteuer rückblickend und als Greis erinnert, darauf hin, dass es zwischen der Diesseitswelt und der Jenseitswelt viele Übergänge gibt und dass jeder Sterbende von seinem Vortoten abgeholt wird, den er auch sehen kann, wenn es noch nicht so weit ist. „Du siehst mich“, so Herr Adamson zum Protagonisten, „weil ich in genau dem Augenblick gestorben bin, in dem du zur Welt gekommen bist.“12, und obwohl normale Menschen natürlich die Untoten nicht sehen können, die trotz alledem oft genug geradewegs durch die Lebenden hindurch gehen. Einer dieser Übergänge befindet sich etwa im Hauptschauplatz der Romanhandlung, im „Garten der Villa von Herrn Kermer“13, in dem der sich erinnernde Greis auf der extradiegetischen Ebene sich befindet und in dem sich auch der Achtjährige Held der autodiegetischen Erzählung befand. Ein anderer Übergang zwischen Diesseits und Jenseits befindet sich etwa in Mykene und dort wird der Hades-Reisende von Herrn Adamson auch wieder an die Erdoberfläche begleitet.14

Ein weiterer Übergang aber befindet sich in der Metro von Paris, über die es heißt:


In Paris war ich einmal, da war der Eingang zwischen den Gleisen der Métrostation Denfert-Rochereau. Da war was los! Ein paar hundert Lebende auf den Bahnsteigen; ahnungslose U-Bahn-Passagiere, und vor, hinter, neben und in sie hineinvermengt zehnmal so viel Tote. Das war ein Getümmel! Darum riecht die Métro in Paris so seltsam, so unverwechselbar. Tote in solchen Mengen riechen. Du spürst sie auch. Ein Lebender, durch den ein Toter geht, fröstelt auch im Sommer, wenn er kein Holzklotz ist.15


Nicht nur die Lebenden sind Übergänge für die Toten, auch die Toten können welche sein,

kann doch der Protagonist wie folgt ins Totenreich gelangen: „Und in dem Augenblick, in

dem Herr Adamson sich anschickte, in die Mauer hineinzugehen, warf ich mich in ihn. In

seine Körperhülle hinein, in seine Schattengestalt, die mich ganz umgab.“16

Eine derartige Variation der „Zottelkolonne“ wie sie im Roman Herr Adamson vorliegt, macht

es schwer, Einheiten noch voneinander zu unterscheiden, individuelle lebendige Handlungen

von Bewegungen toter Körper eineindeutig abtrennen zu können. Das scheint vollends in

einen Rausch des Entgrenzens zu münden, als der Protagonist auf diese Art ins Innere der

Erde gelangt, die Seiten wechselt und nun von toten Seelen umgeben ist. Eine so deutliche

Anspielung an Dantes Höllenfahrt, zugleich aber auch Erinnerung an eine Vielzahl

gegenwärtiger filmischer Umsetzungen des Motivs der Unterweltirrfahrt, ist nicht zu

übersehen respektive zu überlesen. Eventuell ist sie aber auch gar nicht so wichtig. 

Entscheidender für den Roman selbst sind weniger die Sujets und mehr die Verfahren ihrer

Dekonstruktionen und Entgleisungen. Durch Zitationen und literarische, aber auch

autobiographische Allusionen geraten alle noch so sicher scheinenden Entitäten in einen

Identifizierung ironisierenden und aushebelnden Textwirbel, der sich bis fast zum

Undifferenzierten Alles und Nichts hinbewegen kann: „Nichts hier war abgegrenzt, alles ging

aus allem hervor und war, wie ich, in stürzender oder aufschwebender Bewegung.“17

Dazu passt, dass die Figur des Vortoten selbst so ein Übergang, so eine intertextuelle

Schnittstelle ist. Die verbale Beschreibung von Herrn Adamson ist eine recht genaue

Übersetzung der karikaturistischen Skizze in Worte, die von Widmers Vater stammt und

innerhalb eines Lehrbuchs der französischen Sprache als Herrn Adamson ihr Unwesen treibt,

worauf Herr Dr. Ulrich Weber vom SLA mich aufmerksam machte, dem ich dafür herzlich

danken möchte. Auch der eng mit dieser Figur verbundene Protagonist des Romans lässt sich

als intertextuelle Schnittstelle lesen, als Kritik auch an biographischen Lektüren, die

Ähnlichkeit mit Identität verwechseln. Denn wie schon oft zuvor innerhalb anderer Prosa die

Protagonisten, so hat auch der Ich-Erzähler „Rasender Hirsch Horst“19  eine mehr als

entfernte Ähnlichkeit zur Silhouette des Autors Widmer.


Wie aber werden die Figuren bewegt, welche Ebenen und welche Räume des Erzählens

wachsen ihnen dabei zu?

Der Roman beginnt mit einer Analepse von extrem kurzer Reichweite, also mit einem Rückblick auf den Vortag: „Gestern bin ich vierundneunzig Jahre alt geworden.“19 So lautet der erste Satz des ersten Absatzes. Diese analeptische Schau geht aber von Satz zu Satz dieses ersten Absatzes nur immer deutlicher eine Union mit einer Prolepse von größerer Reichweite ein. Der Modus des Stilmittels ändert sich in Abhängigkeit zu dem Grad der Vertrautheit des Lesers mit diesem Roman. Der anachronistische erste Absatz des Romans manifestiert so an sich selbst sukzessive Übergänge von Analepse zu Analepse, darauf hin dann die allmähliche Entgrenzung, so dass der Übergang nun als weniger definitiv erscheint und durchaus auch einer sein kann, der von der Analepse zur Prolepse führt. Endlich wird auch diese Differenzierung noch einmal überblendet im Modus der Verschleierung respektive der Verwischungen zuvor sicher scheinender Grenzziehungen zwischen zwei homogenen Formen der Anachronien, die, erneut gelesen, nun heterogen zu sein scheinen oder doch homogen oder doch heterogen oder doch gar keine Anachronien? Und so weiter und so fort läuft die Lektüre eines aufmerksamen Lesers durch einen Irrgarten, als gelte es die Unterweltirrfahrt des Protagonisten performativ mitzugestalten. Diese Metamorphose bedarf freilich unterschiedlicher Medien, das heißt, sie findet nur statt, wenn der Leser, die Leserin an einer Auseinandersetzung mit Weisen und Inhalten des Erzählens interessiert ist, und in der Regel mindestens drei Mal diesen Roman liest. Erst dann sind seine und sind ihre Informationen über den Verlauf der Handlung, über Wendepunkte, Ambivalenzen und Motivanspielungen entsprechend angewachsen, dass sich die Formen des Erzählens und mit ihnen dann auch die Inhalte verwandeln, dynamisieren. Dies soll nun am Beispiel einer Erinnerung genauer erläutert werden, die zugleich respektive im Wechsel zu ersterem eine Vorschau auf etwas noch zu Erlebendes darstellen kann. Was nach der ersten Lektüre noch wie die Ausläufer einer Rückschau, einer einfachen Analepse wirkt, so als erinnere der Protagonist eben mit dem am Vortage stattgefundenen vierundneunzigsten Geburtstag auch die Feier desselben, das verwandelt sich, kennt man den gesamten Roman, nur umso deutlicher zugleich in eine Prolepse von maximaler Reichweite und polyvalenter Gestalt. Mit dem ersten Satz also: „Gestern bin ich vierundneunzig Jahre alt geworden“ setzt eine Rahmen-Erzählung ein, eine extradiegetische Narration, die mit  dem zwingend fragmentarisch bleibenden letzten Satz „Er kommt auf mich zu, und jetzt“ zirkulär geschlossen wird.20 Das Personalpronomen dritte Person Singular zielt auf „Herrn Adamson“, der, wie bereits erwähnt, erst mit dem zweiten Absatz des Romans erstmals eingeführt wird. Mit dem ersten Satz und Absatz aber erinnert sich ein Subjekt des Erzählaktes oder, mit Genette, eine Stimme an den Vortag, die, allerdings um etliche Jahre jünger, dann auch Hauptstimme der intradiegetischen Ebene sein wird. Auffällig an dieser Rahmeneröffnung ist, dass alle Familienmitglieder um den Erzähler herum sofort namentlich und gleichsam mit einer für sie typischen Handlung eingeführt werden, außer dem Protagonisten, der ja zugleich der Ich-Erzähler ist. Seine Frau „Susanne“ heißt es, hatte einen „Schokoladenkuchen gebacken“, nach dem Rezept, das von der „Mutter“ des Geburtstagskindes stammt, die es wiederum von „ihrer Großmutter geerbt und das zwei Kriege und die Weltwirtschaftskrise überstanden hat.“ Hiermit wird also die Anachronie zunächst mit einem Halbsatz tief in die Vergangenheit zurück verfolgt. Dann aber kommt unmittelbar „Noemi“, die Tochter ins Spiel, die den Kuchen mit den vierundneunzig Kerzen zu bestücken sucht, was ihr nicht ganz gelingt, so dass der Kuchen gemeinsam mit den Kerzen zu einem proleptischen Artefakt werden kann, das wie folgt beschrieben wird: „Diesmal hatte sie es geschafft, etwa fünfzig (sie kaufte das winzigste Kaliber) auf den rund hundert Quadratzentimetern des Kuchens zu verteilen. Die übrigen vierundvierzig standen in konzentrischen Kreisen um den Kuchen herum.“ Dieser Kuchen wird zusammen mit den wenig später erwähnten Geschenken, auf die die Aufmerksamkeit gelenkt werden kann, nachdem der Ich-Erzähler zusammen mit seiner Enkelin „Anni“ und deren beiden Söhnen mit den Spitznamen „Nembo und Bimbo“ und mit eben seiner Frau „Susanne“ die Kerzen ausgeblasen hatte, zu einer Prolepse. Die konzentrischen Kreise verweisen auf die Erzählstruktur voraus, die innerhalb der Intradiegese zirkulär ist. Ein von der Ehefrau geschenkter „Nachen, in dessen Heck ein schwarzer Fährmann mit einem Ruder in den Händen steht“, verweist zusammen mit einem „Lebkuchenherz, auf dem ‚Gute Reise´ steht“, einem „Brot“ und einer „Flasche Wein“ auf das zentrale Motiv der zirkulär strukturierten Intradiegese, die Irrfahrt des Protagonisten ins Erdinnere zu den Toten, wobei Herr Adamson ihm teilweise dazu als Medium dient.21

Das „Lebkuchenherz“ selbst endlich verweist auch auf die Gerichtetheit der Rahmenerzählung. Sie ist fiktionsimmanent als Aufnahme freier, also assoziativer, vor allem aber laut gesprochener Erinnerungen des Vierundneunzigjährigen ausgewiesen, von der dem Redenden erst nach und nach klar wird, dass dies seine ihn überlebende Liebeserklärung an die Enkelin Anni darstellt.

Am 22.Mai 2032, so weiß auch der Leser dieser Fantastik mit leisen Science Fiction Motiven zuletzt, lässt sich der Protagonist der Rahmenhandlung, die als Erzählakt noch einmal eigens ausgestellt wird, von seiner Enkelin in den Garten fahren, hat sich von ihr auch ein „technisches Meisterwerk“ ausgeliehen, dass so „gross wie zwei Stück Zucker“ ist und „zehntausend Stunden Aufnahmekapazität“ hat, um ihr um seine Geburtstage herum Geschichten, die sein Leben schrieb, zu erzählen, und hofft nur, dass sie „den Recorder hier auf der Gartenbank“ findet.22

All das hätte der Lesende im Grunde genommen schon dem ersten Absatz des Romans, seiner cineastischen Ausgestaltung des Geburtstagsfestes entnehmen können, und sollte es tatsächlich nicht einmal während der Erstlektüre geahnt haben?


III Fantastik als Heterotopie


Wenn ich nur Scheherzad wäre. Sie durfte tausend und eine Nacht lang um ihr Leben reden und rettete es dann.23


Nur ansatzweise konnten die ungeheuer engmaschig gefügten Übergänge von Geschichte zu Geschichte oder von Silhouette eines Autors zur Silhouette einer Figur oder von Erinnerung zu Vorahnung oder vom Schreiben als Prozess zum Schreiben als Produkt rekonstruiert werden. Dass sie, wechselt man lesend die Perspektive, sich selbst verwandeln oder soll ich sagen verzaubern, so dass etwa eine Analepse kürzester Reichweite eine Prolepse maximaler Reichweite werden kann, ist, so wage ich zu behaupten, deutlich geworden.

Dass Widmer mit seiner Art von fantastischer Poesie im Sinne von Foucault Heterotopien begründet, also reale Räume, die zu sich selbst oder zu einem weiteren Raum gegenläufig sind, also den Utopien, paradox genug, Orte schenken, das hingegen kann nur noch abschließend behauptet werden. Dafür spräche, dass dem Garten einer Villa innerhalb der Rahmenerzählung und innerhalb des Binnengeschehens eine zentrale Bedeutung zukommt und dieser auch gleich zu Beginn des Romans Herr Adamson intensiv und detailliert beschrieben wird, erwägt man dies vor dem Hintergrund folgender Bemerkung Foucaults: „Der Garten ist seit der frühesten Antike ein Ort der Utopie. Wenn man den Eindruck hat, Romane ließen sich leicht in Gärten ansiedeln, so liegt das daran, dass der Roman zweifellos aus der Institution der Gärten entstanden ist. Das Schreiben von Romanen ist eine gärtnerische Tätigkeit.“24 Danach freilich gelte das Heterotopische freilich als Prinzip in Bezug auf jeden Roman. Aber in Bezug auf Widmers Irrfahrt mit Indianerfeder aus Kindertagen gelte auf alle Fälle, dass nur dieser Roman der Poesie einen Raum so (wieder?) eröffnen kann, wie er seit jeher eigentlich ausschließlich den „Märchenerzählern auf dem Hauptplatz von Marakesh oder Bagdad“ vorbehalten schien.25


Anmerkungen

1 Widmer, 2007, S.110. Die an dieses Zitat von Widmer anschließenden Kommentare zu seiner Schreibwerkstatt und die Analyse seines Romans korrespondieren mit einem Vortrag, den ich anlässlich der 3.Jahrestagung der GfF in Zürich hielt nur noch von ferne.

2 Widmer, 152009, S. 2. Top Dogs erschien - wie alle Dramentexte des Autors - im Verlag der Autoren in Frankfurt am Main. Dort ist auf der 2. Seite ein Auszug aus „Gerhard Jörders Preisrede auf Top Dogs beim Berliner Theatertreffen 1997“ abgedruckt, dem ich die Bezeichnung „Königsdrama der Wirtschaft“ entnahm.
3 Vgl. zu beiden Schriftstellern etwa die jeweils relevanten Artikel in der Schweizer Literaturgeschichte, hrsg. von Rüsterholz und Solbach. Zu Burgers Technik des Verschleifens und seinem Schreiben zwischen Literatur und Literaturwissenschaft vergleiche etwa auch noch Wünsche 2000 und Zumsteg 2011. Zu Widmer liegen neben guten Rezensionen auch aufschlussreiche Beiträge in dem Sammelband vor, der von Keel und Stephan herausgegeben wurde. Burger und Widmer berufen sich zudem jeweils auf eigene Weise auf Franz Kafka, so wird das ‚Kafkaeske‘ etwa im ersten .Roman Burgers zum ‚Schiltesken‘ und so nimmt Kafka innerhalb der von Widmer fantasierten „Zottelkolonne, auf die vorliegender Beitrag noch näher eingeht, eine besondere Rolle ein.

4 Wenn aus diesen Poetik-Vorlesungen zitiert wird, dann ist der Kurzbeleg in der Fußnote wie folgt angegeben: Widmer, 1991 respektive Widmer, 2007 und dahinter die Angabe der jeweils relevanten Seitenzahlen. Vgl. hierzu etwa bereits die Fußnote 1 des vorliegenden Beitrages. Nach demselben Muster werden auch alle anderen Zitate in den zugehörigen Fußnoten nachgewiesen. Ausführlichere Angaben finden sich im Literaturverzeichnis.

5 Neumann in Keel und Stephan, 2008, S.159.

6 Vgl. zu diesem Themenkomplex zunächst die entsprechenden Tagebucheintragungen Franz Kafkas

vom 25.XII 1911ff. und dann Gilles Deleuze und Félix Guattari. Was ist eine kleine Literatur? , in:

Für eine kleine Literatur, S.24ff.  

7 Widmer, 2007, S. 39.

8 Widmer, 207, S.96.

9 Die Struktur lässt sich leicht mit Nikolajevas gattungstheoretisch motivierten und von Tolkien inspirierten zwei Welten Modell beschreiben.. Das Motiv der Irrfahrt in die Unterwelt erscheint bei ihr dann auch als ein innerhalb dieser Struktur häufig relevantes Reisesujet. Nimmt man zu dem strukturellen Argument und dem Motiv nun noch die Formkriterien hinzu, dann lässt sich Herr Adamson mühelos im Sinne von Renate Lachmann als breit angelegte „Fiktionshäresie“ lesen, die „mit den Regeln spielt, die eine Kultur für ihren Fiktionsdiskurs geltend macht“. Lachmann, 2002, S.97.

10 Widmer 2007, S. 17.

11 Widmer, 2006, S.33.

12 Widmer, 2009, S.53.

13 Widmer, 2009, S.7.

14 Vgl. hierzu vor allem Widmer, 2009, S.81ff. Natürlich amalgiert diese Hadesfahrt fiktive Erzählung und metafiktive Reflexion in mehrfacher Hinsicht, also etwa mit Bezug auf Dante und hier vor allem mit Bezug darauf, dass das gegenwärtige europäische Literaturarchiv sich wesentlich den altgriechischen Götterepen verdankt, zu denen stets intertextuelle Spuren führen.

15 Widmer, 2009, S. 55. Mit dieser Passage liegt zugleich ein weiterer Beleg für die variierte Verwendung des Motivs der „Zottelkolonne“ vor, und sie illustriert darüber hinaus sehr gut, dass innerhalb dieses Romans auch Lebende Übergänge zwischen den Welten darstellen können. Das sind dann aber Übergänge, die zugleich die Grenzen verwischen zwischen Individuum und Kollektiv, dem Eigenen und dem Fremden, und also zur Auflösung, also Entgrenzung einmal gesetzter Räume tendieren.

16 Widmer, 2009, S.63.

17 Widmer, 2009, S. 74.

18 Von dem Protagonisten erfährt man nie den ganzen Namen. Auf S.13 erfahren wir, dass der Junge beim Indianer spielen vom „Stamme der Navajos“ der „Häuptling Rasender Hirsch“ sei. Viel später, erfahren wir, dass er sich den Spitznamen „Nevermind“ zugelegt hat und auf der Seite 174, dass er wohl eigentlich „Horst“ heißt.

19 Widmer, 2009. S.5.

20 Widmer, 2009, S.200, die letzte Seite trägt bezeichnenderweise keine Seitenzahl mehr; da die davor die Seitenzahl 199 trägt, habe ich hier die Seitenzahl geschlossen. Für die Erzählhandlung, die eben mit dem Tod des Erzählers endet, der als Weg mit Wegbegleitung vorgestellt wird, ist diese abgeschlossene Kreisbewegung, der allerdings der Bewegte abhanden ging, natürlich höchst relevant.

21 Widmer, 2009, Alle hier zitierten Passagen sind dem ersten Absatz entnommen und finden sich also auf den Seiten 5-6.

22 Widmer, 2009, S.117.

23 Widmer, 2009, S.178

24 Foucault 2005, S.15.

25 Widmer, 2009, S.179.


Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Burger, Hermann: Die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben: Frankfurter Poetikvorlesung. Frankfurt am Main: Collection S.Fischer 1986.

Kafka, Franz: Tagebücher 1909-1912. Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Nach der Kritischen Ausgabe herausgegeben von Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1994. Band neun.

Widmer, Urs: Der blaue Siphon. Erzählung. Zürich: Diogenes 1994 [Zürich 1992].

─ Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur. Zürich: Diogenes 1995 [Graz und Wien 1991].

─ Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das. Frankfurter Poetikvorlesungen. Zürich: Diogenes 2007.

─ Ein Leben als Zwerg. Zürich: Diogenes 2008. [Zürich 2006].

─ Herr Adamson. Zürich: Diogenes 2009.


Forschungsliteratur

Deleuze, Gilles und Guattari: Felix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 122012, erstmals Les Editions de Minuit, Paris 1975.

Genette, Gérard: Die Erzählung. München : Wilhelm Fink Verlag 1994.

Genette, Gérard: ParaTexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main: Campus 1989.

Foucault, Michel: Die Heterotopien. Les hétérotopies Der utopische Körper. Le corps utopique.Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 [Paris 2004].

Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. suhrkamp taschenbuch wissenschaft Band 1578.

Martinez, Matias und Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 7.Auflage. München: Beck Verlag 2007.

Neumann, Gerhard: Laudatio zum Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. In: Das Schreiben ist das Ziel, nicht das Buch. Urs Widmer zum 70. Geburtstag. Zürich: Diogenes 2008. S.154 bis 169, gehalten 2002.

Nikoljeva, Maria: The Magic Code. The use of magical patterns in fantasy for children. Stockholm: Almqvist & Wiksell International 1988.

Rusterholz, Peter und Solbach, Andreas (Hrsg.): Schweizer Literaturgeschichte. Stuttgart: J. B. Metzler 2007.

Wünsche, Marie-Luise: BriefCollagen und Dekonstruktionen. „Grus“ ─ Das artistische Schreibverfahren Hermann Burgers. Bielefeld: Aisthesis 2000.

Zumsteg, Simon: ‚poeta doctus‘. Die perverse Poetologie des Schriftstellers Hermann Burger. Zürich: Edition Voldemeer 2011.


© Text: Marie-Luise Wünsche 


 18.01.2014



 

Urs Widmer, Herr Adamson
208 S., Roman, detebe 24053, Diogenes Verlag, 2010
ISBN 978-3-257-24053-5, (D) 9.90 / (A)10.20 / sFr 14.90

 



Freitag, der 22. Mai 2032. Ein Mann sitzt einen Tag nach seinem vierundneunzigsten Geburtstag in einem üppig blühenden Garten. Es ist der Garten seiner Kindheit und damals wie heute erscheint er ihm paradiesisch, verwunschen und geheimnisvoll. Und er erinnert sich an Herrn Adamson, den er hier an seinem achten Geburtstag zum ersten Mal traf. Dessen phantastisch-realistische Geschichte und seine eigene vertraut er einem Aufnahmegerät an. So durchläuft er auf seiner Entdeckungsreise in längst vergessen geglaubte Zeiten mühelos Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte und hält für Augenblicke fest, was doch vergänglich ist, erzählt mit der Kraft der Erinnerung, die Menschen und Motive lebendig hält, von Ereignissen und Begegnungen, von Ankunft und Abschiednehmen, von Vertrauen und dem Verlust kindlicher Unschuld, dem Bewahren und Preisgeben von Geheimnissen, von Hoffnungslosigkeit, Liebe und Glück, vom Jungsein und Altwerden, vom wieder Jungwerden und Altsein: vom Leben also und vom Tod . (ks)



Leseprobe: Herr Adamson von Urs Widmer

erschienen 2009, hier aus der Ausgabe 2010


Gestern bin ich vierundneunzig Jahre alt geworden. Wir feierten, wie wir das immer an Geburtstagen tun. Susanne hatte einen Schokoladenkuchen gebacken, eine bäuerische Variante der Sachertorte, deren Rezept meine Mutter von ihrer Großmutter geerbt und das zwei Kriege und die Weltwirtschaftskrise überstanden hat. Noëmi, unsere Tochter, die alle Geburtstage liebt, nur ihren eigenen nicht, versuchte wie jedes Jahr, möglichst viele Kerzen in den Kuchen zu stecken. Diesmal hatte sie es geschafft, etwa fünfzig (sie kaufte das winzigkleinste Kaliber) auf den rund hundert Quadratzentimetern des Kuchens zu verteilen. Die Schokolade war kaum mehr zu sehen und wohl tatsächlich von den Kerzen verdrängt worden. Die übrigen vierundvierzig standen in konzentrischen Kreisen um den Kuchen herum. Noëmi sah zufrieden auf ihr Werk und sagte: „Hundert darfst du aber nicht werden, Papa. Mehr Kerzen schaff ich nicht.“ – Es war gar nicht so einfach, sie anzuzünden. Da brannte eine nahe dem Zentrum nicht, als längst alle Kerzen der Peripherie loderten, und dort, während Noëmi mit den letzten beschä∫igt war, gingen die ersten schon wieder aus. Noëmi verbrannte sich jedenfalls ein paar Mal die Finger. Aber dann leuchteten endlich alle gemeinsam. Es sah wie ein nordisches Sonnenwendfeiersymbol aus, oder wie ein magisches Kultobjekt der Maya.

Wir riefen Ah! und Oh!, und dann bliesen wir die Kerzen aus. Ich so ungefähr keine, Susanne zwei oder drei, Noëmi rund zwanzig, und Anni, meine auch längst erwachsene Enkelin, den Rest. Das heißt, ihre zwei Buben halfen ihr dabei, bliesen tüchtig mit auf geblasenen Backen über das Feuer hinweg. Der Rauch, als der Brand gelöscht war, füllte das ganze Zimmer. Ich hustete, Susanne rieb

sich die tränenden Augen, Noëmi riss alle Fenster auf, Anni lachte, und die beiden Buben kreischten. Wir strahlten uns alle glücklich an. Jeder kriegte ein Stück Kuchen mit einem Dutzend Kerzen darauf, deren Stearin in die Schokolade gelaufen war. Wir kauten. Ich packte die Geschenke aus: ein miniaturkleines Boot, einen Nachen, in dessen Heck ein schwarzer Fährmann mit einem Ruder in den Händen stand (von Susanne). Ein Lebkuchenherz, auf dem »Gute Reise« stand (Noëmi). Ein Brot, das wunderbar duftete, und eine Flasche Wein (Anni).

Die beiden Buben – sie sind Zwillinge und haben irgendwelche Namen der modernen Art, aber wir sagen alle Bembo und Bimbo zu ihnen – hatten mir eine Zeichnung gemacht, auf der ein Mann (er trug meine Attribute, einen Schnauz nämlich und wirre Haare um einen Glatzkopf herum) dem Horizont entgegenging, über dem eine rote Sonne leuchtete.Ich umarmte die drei Frauen, dem Alter nach, und die beiden Buben. Diese riefen, sich aus meiner Umarmung befreiend, wie bei jedem Besuch: „Ur-Opa, kommst du spielen?“ Und ich ging, wie jedes Mal, mit ihnen spielen. Fast immer spielen wir Räuber und Gendarm – das taten wir auch diesmal –, weil Bembo und Bimbo begnadete Gendarmen mit Donnerstimmen sind, und ich bin ein guter Dieb, denn ich laufe heute noch, wie Carl Lewis damals, die hundert Meter in zehn Kommanull. Minuten halt, nicht Sekunden.


Als ich Herrn Adamson kennenlernte, war ich acht Jahre alt. Es war im Garten der Villa von Herrn Kremer. Die Villa lag unserem Haus gegenüber und war gar keine Villa – aber jeder nannte sie so –, sondern ein bescheidenes Gebäude mit zwei Stockwerken, mit einem allerdings sehr großen Garten drum herum. Das Besondere war, dass Herr Kremer nie in seinem Haus war. Nie. Kein Mensch hatte ihn jemals erblickt, und auch keinen andern Menschen. Keine Frau, keine Kinder, keine Dienstboten, keinen Gärtner. Entsprechend sah der Garten aus. Eine blühende Urlandschaft, die niemand sah, weil Haus und Garten von einer dichten Buchsbaumhecke umgeben waren. Ein großes Tor, eine massive Eisenplatte, verschloss den Zugang. Eine Klingel, die stumm blieb, als ich es doch einmal wagte, draufzudrücken, bereit, wie der Blitz in meinen Garten zu verschwinden. Der der Villa Herrn Kremers war natürlich viel aufregender. Er war verbotenes Gebiet, schreckliche Strafen des Herrn Kremer konnten mich ereilen, wenn er dann doch einmal auftauchte und mich mitten in seinem Geheimnis fand. Mich und Mick, der mein Freund war und, wie ich, alle Winkel dieses verwunschenen Verstecks kannte, in dem wir uns mit der Aufmerksamkeit von Luchsen und dem Misstrauen von Gazellen bewegten, voller Angst, voller Lust, inmitten all der Herrlichkeit jederzeit auf die Katastrophe gefasst.


An diesem Tag – es war auch mein Geburtstag, der achte eben, und die Sonne schien ebenso warm, wie sie es gestern getan hat – betrat ich den Garten wie jedes Mal durch eine enge Lücke, die es zwischen der Buchsbaumhecke und der hohen Mauer gab, die das Grundstück gegen die Besitzung der weißen Dame abgrenzte. Die weiße Dame, das war eine andere Geschichte, zu ihr nur so viel: Sie hatte immer (im Sinn von immer) weiße Kleider an. Weiße Schuhe, weiße Handschuhe, einen weißen Hut, und sie hatte im ganzen Haus und auch in ihrem rhododendronblühenden Garten Alarmanlagen ein gebaut, Stolperdrähte, Sensoren, Sirenen,die sie täglich drei oder vier Mal auslöste. Der anbrausenden Polizei berichtete sie dann mit einer schrillen Stimme, sie habe einen Schatten gesehen, ein ganzes Heer von Schatten, die ihr alle nach dem Leben trachteten. Mit etwas Glück wird sie in dieser Geschichte, die von Herrn Adamson handelt, nicht mehr auftreten.

Im Garten wuchs das Gras bauchnabelhoch, und überall wucherten Blumen. An diesem Tag blühten – damals kannte ich die Namen der Blumen noch nicht; heute schon – rote und weiße Rosen (beim Eingangstor), Mohn, Oleander, Hibiskusse, hochstielige Margeriten (Tausende), Hortensien (eine Friedhofsblume, die hier heiter und südlich aussah), Clematis, Wiesensalbei, Lavendel, Phlox, Löwenmäulchen, Campanula, Geranien (fürchterliche Blumen, wenn sie an den Fenstern von Berner Chalets hängen; auch sie strahlten in rotem Stolz), Fuchsien, Schwarzdorn, Azaleen, Glyzinien, Thymian, Rosmarin und Geißblatt (dieses wucherte in einer fernen Gartenecke, dort, wo jenseits der Buchs baumhecke eine Bank stand, auf der zuweilen Spaziergänger rasteten). Vögel zwitscherten, Spatzen, Amseln, Meisen, Finken. Rotkehlchen. Aus dem fernen Wald rief ein Kuckuck. Eidechsen huschten. Schmetterlinge gaukelten. Ich stand entzückt, mehr als sonst, denn eigentlich war ich ein Indianer, und ein Indianer kennt keinen Schmerz. Also auch kein Jubelglück. Ich witterte ein bisschen, nach Indianerart, in der Gegend herum, analysierte Spuren (niedergedrückte Gräser) und ging der eigenen Fährte nach, als sei sie die eines Fremden. Ohne Mick war es nicht ganz so spannend, ich habe vergessen, wo Mick an diesem Tag war. In der Schule wohl, er war zwei Jahre älter als ich (stärker auch; aber ich war der Fixere) und hatte auch an meinen freien Nachmittagen Unterricht. Auch musste er oft nachsitzen, weil er alle Haus aufgaben zu Hause vergessen oder gar nicht gemacht hatte. Ich köpfte also mit einem Stecken Margeriten und schlich auf den Fingerkuppen und mit halbgeschlossenen Lidern, um nicht am Glanz meiner Augen erkannt zu werden, zur Gartenecke hin, weil von dort inzwischen die Stimmen von zwei oder drei Frauen herdröhnten. Unendlich behutsam schob ich mich durchs Gras, bis ich unter der Buchsbaumhecke lag, schier ohne zu atmen, direkt hinter der Bank. Ich hätte die Rückenlehne berühren können. Die drei Frauen –es waren drei –, die ich nur von hinten sah, waren alte Damen, wohl aus dem Altersheim am unteren Ende der Straße entlaufen. Sie sprachen mit lauten hohen Stimmen von ihren Problemen mit der Blase, dem Darm und dem Hirn. Es war wie beim Pokern, wenn die eine ein full house hatte (einen faustgroßen Stein, der den Ausgang der Niere verstopfte und die Dame mit unnennbaren Schmerzen niederstreckte), hatte die andere doch noch einen royal flush (Darmkrebs, inoperabel) und gewann die Partie.

Ich zog mich ebenso behutsam wie zuvor rückwärts zurück, vor mir jeden Grashalm einzeln wieder aufrichtend, auf dass niemand, auch nicht der listigste Späher vom Stamme der Kiowas, etwas Ungewöhnliches bemerken konnte. Nach ein paar Metern wurde mir das zu langweilig, ich stand auf und ging zur Bank, die an der Hauswand stand. Ich setzte mich, sang Horch, was kommt von draußen rein und starrte in den Himmel hinauf, in dem zwei Raubvögel ihre Kreise drehten.

 

Herr Adamson stand so jäh vor mir, als sei er vom Himmel gefallen. Ich erschrak fürchterlich. Ich war sicher, dass er Herr Kremer war, der unsichtbare Herr über Haus und Garten, und dass ich nun die Feuer aller Höllen erleben würde. Ich saß wie mit Araldit festgeklebt auf der Bank.

„Guten Tag“, sagte ich schließlich.

„Ich dachte schon, du bist doch ein anderer“, sagte er und lachte. Er sprach hochdeutsch, nicht die Sprache von hier, und das erst noch mit einer seltsam fremden Melodie.

„Ich dachte, du siehst mich nicht. Ich gratuliere dir zum Geburtstag.“

„Woher wissen Sie, dass ich Geburtstag habe?“

„Na, ich habe heute etwas Ähnliches." Er lachte wieder. Sein Gelächter klang staubtrocken, wie ein Husten fast. Hier lachte niemand so. In der Wüste vielleicht, in der Hitze eines ausbrechenden Vulkans.

„Sind Sie Herr Kremer?“, sagte ich.

„Adamson“, sagte er und machte eine kleine Verbeugung. „Herr Adamson.“ Es war, als sänge er seinen Namen.

Ich spürte, dass mich meine Schreckensstarre ein bisschen verließ. Ich sagte nichts mehr, und auch Herr Adamson sah sich stumm im Garten um.

„Toll hier“, murmelte er. „Bisschen hell.“ Er legte schützend seine Hand über die Augen; aber die Sonne blendete ihn weiterhin. Trotzdem schaute er hierhin, dorthin, zum Himmel hoch.

„Es wird Zeit, dass wir uns kennenlernen. – Was für ein schöner Garten!“

Tatsächlich. Jetzt, wo ich dem Blick Herrn Adamsons folgte, sah der Garten plötzlich so aus, als würde sich ein Gärtner mit einem sehr grünen Daumen um ihn kümmern. All die Schönheit konnte nicht nur eine Laune der Natur sein. Vielleicht kam Herr Kremer nachts, wenn ich schlief, und fuhrwerkte heimlich in seinem Paradies herum.

Herr Adamson – falls er nicht doch Herr Kremer war; ich musste auf der Hut bleiben – war alt, uralt, um die neunzig wohl, klein, mager und hatte einen sehr weißen Kopf mit einer kantigen Nase und einer noch kantigeren Oberlippe, die wie ein Vordach über der Unterlippe und dem Kinn hing. Er war völlig kahl, wenn ich von drei einzelnen Haaren absah, die hintereinander aufgereiht leicht gekrümmt in die Höhe ragten. Sie sahen wie Antennen aus, oder wie drei gelbe Gräser. Er trug eine graue Strickjacke, die nicht zur Jahreszeit passte,

irgendwie farblose Hosen und braune Socken. Keine Schuhe.

„Du bist also ein Indianer“, sagte er, ernst diesmal, und wies auf meine Haare. Tatsächlich hatte ich, wie jedes Mal, wenn ich mich in den Garten der Villa Herrn Kremers zwängte, meine Indianerfeder in die Haare gesteckt. Ich hatte sie im Wald gefunden, keine Ahnung, welchem Vogel sie gehörte.

„Vom Stamme der Navajos.“ Ich sah Herrn Adamson stolz an.

„Ich bin ein Häuptling. Rasender Hirsch. Und mein Freund Mick ist der andere Häuptling. Er heißt Wilder Sturm.“

Herr Adamson ging zu den Rosen hinüber und roch an ihnen. Es war, als ob er schwebte, auch war seine Fußspur kaum zu sehen, da und dort ein niedergedrückter Halm, eine zerquetschte Margerite, aber selbst da konnte ich mich täuschen. Vielleicht war ich das gewesen.

„Wunderbar!“, rief er vom Tor her. „Ob die wohl duften?“ Er steckte seine Nase in eine Blüte und lachte. „Tja“, sagte er. Er kam fröhlich pfeifend zurück und setzte sich, in einigem Abstand, zu mir auf die Bank.

„Was ist eigentlich aus dem Schuhmacher Kimmich geworden?«, sagte er.

„Ein Schuhmacher Kimmich? Hier gibt es keinen Schuhmacher Kimmich. Unserer hat seinen Laden in der Tellstraße und heißt Brzldrzk oder Orzlhmsk. Irgendetwas nicht von hier. Er hat es, sagt mein Vater, im Krieg schwer gehabt und ist jetzt ganz allein in seinem Laden. Keine Frau, keine Kinder, nur Schuhe. Alle tot, dort, wo er herkommt.“

„Im Krieg?“, sagte Herr Adamson. „Was für einem Krieg?“

»Im Krieg eben. War doch die längste Zeit Krieg. Ich habe sogar gesehen, vom Dach von Micks Haus aus, wie die Amis ein deutsches Flugzeug abgeschossen haben. Oder die Deutschen eins von den Amis. Es war weit weg, aber wir sahen seine Rauchfahne. Es stürzte ab wie ein Fels. Und einmal schlug ein Granatsplitter direkt neben dem Kopf von Micks Vater in die Hauswand. Er sagte zu Mick, die dürfen hier gar nicht schießen, es ist gegen jedes Recht der Völker. Aber sie tun es trotzdem. Er gleicht Ihnen übrigens ein bisschen, Micks Vater. Auch so eine Vordachoberlippe. Nur, er ist jünger und hat immer eine Pfeife im Mund.

„Ich habe früher auch geraucht“, sagte Herr Adamson und lächelte. „Zigarren. Havannas. Sie

kamen aus Kuba. – Eigentlich ganz normal, das mit Kimmich. Ich wohnte damals auch in der Tellstraße. Er hat den Laden wohl aufgegeben. Er war nicht so viel jünger als ich.“

„Die Tellstraße ist bombardiert worden. Wissen Sie das auch nicht?“

„Da war ich schon“, sagte Herr Adamson.

„Ich hörte das Krachen hier im Garten und bin mit dem Fahrrad meiner Mama hinuntergefahren.

Toll. Alles rauchte. Mein Vater hat sich wahnsinnig aufgeregt und hätte mir, als ich endlich heimkam, beinah eine Ohrfeige gegeben. Er hat mich dann so umarmt, dass ich fast erstickt bin. – „War das Ihr Haus, das kaputt war?“

„Weiß ich nicht“, sagte Herr Adamson. „Sagte ich doch schon.“

„Na, das Haus ganz vorn, fast beim Bahnhof. Ich sah in die Zimmer hinein. In einem hing noch ein Stück Fußboden. Darauf stand eine Lampe. Es war das einzige Bombardement in der Stadt. – In Zürich haben sie auch ein paar Bomben hinuntergeworfen, und in Schaffhausen. Das war aber zu weit für mich, mit dem Fahrrad.“

„Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“, sagte Herr Adamson.

„Natürlich!“, rief ich. „Ich habe ein Geheimnis mit Mick, ich habe ihm bei der Seele des Manitu aller Navajos geschworen, es nie zu verraten, keinem, und das Geheimnis ist schrecklich. Mick war im Margaretenpark, und da stand ein Mann hinter einem Baum, mit einem ganz roten Schwanz, so groß, riesig und blutig, sagte Mick, und er ist davongerannt, und das ist jetzt unser Geheimnis. Als ich es der Mutter erzählte, sagte sie, ich darf nie nie nie mit einem Mann sprechen, den ich nicht kenne. Sie sehen also, dass ich ein Geheimnis bewahren kann.“

„Hm“, sagte Herr Adamson und sah mich nachdenklich an. „Unser Geheimnis ist, du darfst deiner Mama nicht sagen, dass du mich getroffen hast. Dem Papa auch nicht. Und auch nicht Mick. Gut so?“


Ich nickte. Ich wollte mit meiner Faust gegen seine Brust schlagen, so wie Mick und ich das bei wichtigen Beschlüssen taten, aber er trat einen Schritt zurück.

„Wir sehen uns wieder“, sagte er. „Ist wirklich schön, der Garten hier. – Schau mal dort. Ein Vogel mit einem goldenen Gefieder.“

„Wo?“

„Dort, auf der Hecke.“

Ich schaute hin. Da war kein goldener Vogel, nicht einmal ein gewöhnlicher. Ich drehte mich

nach Herrn Adamson um. Aber der war weg. Spurlos verschwunden. Ich schaute links, ich schaute rechts, ich schaute hinter mich und in den Himmel. Nichts. Also stand ich auf und trollte mich nach Hause.


© Leseprobe: Diogenes Verlag



 



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