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Markéta Pilátová - Von Zeichen und Wundern 

Von Michael Kreisel

 

 

Markéta Pilátová

Mein Lieblingsbuch – Roman

Aus dem Tschechischen von Julia Koudela-Hansen-Löve

und Christa Rothmeier

400 S., geb., € 22.90; ISBN 978-3-99200-075-3 

 

 

In einem fiktiven lateinamerikanischen Land betreibt ein begnadeter Tätowierer sein Handwerk. Da er seine Kunst in einer Gegend ausübt, die unter Kontrolle derNarcos, Krimineller und Drogenhändler, steht und es nicht ratsam erscheint, materielle Güter anzuhäufen, verlangt er als Bezahlung für seine Dienste ausschließlich Naturalien. Der Tätowierer ist ebenfalls ein genialer Geschichtenerzähler, der seinen Kunden mit den Erzählungen die Schmerzen des Tätowierens lindern hilft.

Um diesen Künstler spinnt die tschechische Autorin Markéta Pilátová ein Netz aus Geschichten, die mal surreal, mal übersinnlich, mal traumhaft und mal tragisch sind. Da ist der Reptilienforscher Michael Vidal, der skrupellos und besessen daran arbeitet, gegen jedes Schlangengift ein Gegenmittel zu finden. Sein weltberühmtes Institut ist hinter den Kulissen eine Stätte der Qualen und der Schmerzen für seine Versuchsobjekte. Da ist das Mädchen Pajita, das die magische Fähigkeit besitzt, mit Schlangen kommunizieren zu können und zum Sprachrohr für die real-mythische Schlange Haré wird, die, stellvertretend für ihre Artgenossen, am Reptilienforscher Rache nehmen will.

Wie ein roter Faden ziehen sich durch das Buch die Kommentare und Bemerkungen des Tätowierers, die die Geschichten, von Pilátová fantasievoll und packend erzählt, miteinander verbinden. Da erfährt eine junge Polizistin, die zu einer Spezialeinheit der Drogenfahndung gehört, von ihrer Mutter, dass sie die Tochter des Hauptverdächtigen ist. Da findet ein Heiler erst just bei dieser Frau seine mentale Ruhe, da er ihr Leben und ihr Schicksal nicht lesen kann.

Mein Lieblingsbuch von Markéta Pilátová ist ein wunderbar komponierter Roman über menschliche Mythen, Träume und Ängste. So wie die Pflanzen und Gewässer des lateinamerikanischen Landes sich mäandernd ausbreiten, so sind auch die Protagonisten des Romans immer unterwegs. Unterwegs zu sich, zu ihrer Bestimmung oder zur Erfüllung ihres Schicksals. Das Mädchen Pajita führt die Odyssee von ihrer Heimat, den Bergen, durch den Urwald hin zur vermeintlichen Zivilisation, die sich als grausamer herausstellt, als es der Urwald jemals sein könnte. Wo der Mensch herrscht, regiert sinnlose Gewalt - und eine Gedankenlosigkeit des Tätowierers provoziert Schreckliches.

Ebenso auf Wanderschaft begibt sich der Psychiater Otto, der seinen aus Polen stammenden jüdischen Vater auf seine letzte Reise in dessen alte Heimat begleitet und dort mit einer tragischen Geschichte des väterlichen Heimatdorfes konfrontiert wird.

Mein Lieblingsbuch spielt geschickt auf der Klaviatur der menschlichen Psyche. Die Geschichten des Tätowierers ringen der Welt Zeit ab. Man bekommt den Eindruck vermittelt, auch er, wie schon Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht, erzähle Geschichten, um sein Leben zu retten. Traumhaft und scheinbar undurchdringlich wie die Wildnis des Dschungels sind die Geschichten der Protagonisten dieses Romans. Der Ausdruck verletzter Seelen, etwa der der Mafia-Jägerin oder, wie im Fall der jungen Pajita, deren kindliche Naivität, wird zu einem Kaleidoskop verwoben, das wir die menschliche Psyche nennen.

Bunt und lebhaft, aber auch tragisch und grausam erzählt Markéta Pilátová Geschichten in einer Geschichte um den Tätowierer, der, wie auch seine Protagonisten, seinem Schicksal nicht entgehen kann. Man darf auf die weiteren Veröffentlichungen der tschechischen Autorin gespannt sein.

 

© Michael Kreisel; Erstveröffentlichung: www.inkultura-online.de




In vielen Sprachen unterwegs und zu Hause

von Katja Schickel

 

 

Markéta Pilátová

Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein

Aus dem Tschechischen von Michael Stavaric.
208 Seiten, geb., Residenz Verlag 2010
€ 19,90; ISBN 9783701715244


 

In dem Roman geht es um nichts weniger als Liebe, Verrat, Exil, Heimat und ein eigenes, eigenständiges Leben. Erzählt wird die zwischen Prag und São Paulo spielende Geschichte von vier Frauen und einem Mann. Nach dem Tod ihres Mannes Jaromir sucht Luiza, Tochter deutscher Auswanderer, dessen in Prag lebende Geliebte auf. Jaromir ist ein nach dem 2.Weltkrieg nach Brasilien geflüchteter, tschechisch-jüdischer Widerstandskämpfer und Maruškas große Liebe - vor dem Krieg, bevor jener nach Übersee flieht, sie zurücklässt und in Brasilien Luiza heiratet. Als der Krieg zu Ende ist, in Prag die Kommunisten herrschen, erreicht Maruška ein Brief aus Brasilien – der erste von vielen Briefen ihres Geliebten Jaromír. Den letzten erhält sie nach der Todesanzeige, als Luiza vor ihrer Tür steht. Luiza begegnet auch zwei jungen brasilianischen Töchtern tschechischer Emigranten, die sich auf die Spuren ihrer böhmischen Herkunft gemacht haben. Als sich die Frauen treffen, stoßen nicht nur unterschiedliche Charaktere und Temperamente aufeinander, sondern in ihren Erzählungen auch Bilder eines ideologisch und mythisch aufgeladenen und verklärten Prags auf die anarchisch anmutende Leichtigkeit Brasiliens. In ihren Erzählungen trifft jugendliches Ungestüm auf Altersweisheit, tief sitzende Kriegserlebnisse auf neue Alltagserfahrungen und viele erfüllte und unerfüllt gebliebene Liebesgeschichten. So fügt die Autorin mit den episodisch gestalteten einzelnen Erinnerungsstücken die Teile der verschiedenen Leben zu einem Ganzen – und erzählt in den Lebensgeschichten der vier Frauen, die immer auch erzwungene Verluste sind, die wesentlichen Aspekte der Geschichte des 20. Jahrhunderts zu Beginn des neuen Jahrtausends.


 

Markéta Pilátová, *1973 in Kroměříž, Studium der Romanistik und Geschichte in Olomouc. Sie ist Hispanistin, Übersetzerin, Autorin und Journalistin, leitete das Auslandsressort der tschechischen Wochenzeitschrift Respekt und arbeitet derzeit am Instituto Cervantes in Prag, wo sie auch lebt. Sie schreibt Artikel, Berichte und Essays für tschechische Medien, Kurzgeschichten und Kommentare für den Radiosender Vltava und Liedtexte für die tschechische Sängerin Monika Načeva. Nach Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein ist Mein Lieblingsbuch ihr zweiter Roman. Beide Bücher wurden von Kritik wie Publikum in Tschechien hochgelobt und gefeiert.

 


Das Bild des Flusses, eines durchaus wilden, mächtiger werdenden Stroms, hat die im mährischen Kroměříž/ Morava (Kremsier/March) aufgewachsene Autorin zeitlebens begleitet. Es ist Ausdruck eines Lebensgefühls wie ihres Schreibgestus. Mehr als fünf Jahre hat sie in Lateinamerika gelebt, hauptsächlich in Brasilien und Argentinien. Ihr Interesse an diesem Kontinent, das lateinamerikanische Feuer, wie sie es nennt, wird früh entfacht. Aussicht auf Erfüllung ihrer Sehnsucht verspricht jedoch erst die Samtene Revolution 1989. Sie hat vorher schon ans Auswandern gedacht, aber erst mit der Wende können die insgeheimen Wünsche Realität werden. Sie studiert Geschichte und Romanistik und genießt die unverhoffte Freiheit, die ganze Welt bereisen zu können, um das Unbekannte, das Neue und Wilde zu entdecken. Die erste Fernreise führt sie für sechs Monate nach Mexiko. Über alle ihre Reisen verfasst sie Berichte. Als sie an der Universität Granada unterrichtet, schreibt sie gemeinsam mit ihrem Mann eine Reportage für die tschechische Wochenzeitung Respekt, ihr erster Schritt in den professionellen Journalismus sowie die Schriftstellerei. Man bietet ihr gleich die Leitung des Auslandsressorts der Zeitschrift an. Die Form der Reportage ermöglicht ihr die Verbindung von Fakten und Fiktion (real fiction), Wahrheit und Märchen, die Darstellung von Atmosphäre und neben vorgefundenen die Erfindung von Charakteren. Sie schätzt den Schreibstil von Gabriel García Márquez und Bruce Chatwin, Truman Capote und den ihres Landsmanns und Mentors Jachým Topol.

Schon in ihrem ersten Romans Wir müssen uns irgendwie ähnlich sein laufen mehrere Geschichten mäandernd zusammen. Die darin vorkommenden Personen sind gleichzeitig real und ausgedacht. Vieles haben ihr tschechische Einwanderer in Brasilien erzählt. Laut Pilátová gleicht die Einwanderungs-Geschichte einem einzigen großen Märchen, das zu einer fortlaufend erzählten Geschichte in den Familien, also Familiengeschichte wird, die wiederum - aus Versatzstücken und verschiedenen Schichten von Wahrheiten und Halbwahrheiten, von Erfundenem und Lügen zusammengeflickt – einen weiteren Teppich von Geschichten ergeben. Aber für sie sind Bücher wie diese Teppiche, aus vielfarbenen Materialien fest oder locker verwebt und bunten Stimmungen zusammengesetzt, die durch das (Auf-) Schreiben eine gewisse Form und Systematik erhalten. Weben hat sie übrigens auch in Granada gelernt.

Ablauf und Wahrnehmung von Zeit spielen immer eine Rolle. In Mein Lieblingsbuch ist es eine Sammlung slawischer Märchen, die „dem, der tätowiert“ Inspirationsquelle für seinen eigenen, scheinbar unerschöpflichen Erzähl-Stoff ist, wie einst das erste wichtige Buch in der Kindheit der Autorin, als sie durch die brutalen Geschichten rund um die menschenfressende Hexe Baba Jaga den Tod kennenlernt und weniger entsetzt als vielmehr fasziniert reagiert und so auch ihre Angst bannt vor dem Fremden und Unbekannten.

 

„Was bleibt von den Reisen?” fragt sich Lázaro in der Kurzgeschichte Die Geschichte von Lázaro und begibt sich damit selbst auf eine Reise durch sein bisheriges Leben, das Markéta Pilátová eindringlich beschreibt. Die Erzählung ist in der Anthologie Geschweige denn Ostrava … Neue Literatur aus Tschechien als Sonderband von Die Horen zum Projekt LITERAToUR.CZ erschienen (s. hier: Ahoj und Gute Reise).

 

Zurzeit lebt Markéta Pilátová in Prag. In Lateinamerika leben möchte sie derzeit nicht, zu gefährlich das Pflaster und der Kontrast zwischen Arm und Reich noch krasser als hier. Spanien wäre eine Option, das Essen, das Leben, der Rhythmus...

 

 

© Fotos: ři Sobota

 

 

 

 

 



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