Anja Kampmann
Jsem ' Ich werde ihr erzählen.
Als beste Erzählung ausgezeichnet beim 18. MDR-Literaturpreis 2013
Nach dem Wasser kam lange Zeit nichts. Und die Unbewegtheit, die man annehmen konnte, wenn man lange genug auf den Horizont schaute, verwandelte sich, wenn die Wellen an das Inselbein schlugen, wenn das Stahlgerüst des Bohrturms zu wanken begann. Der Bohrmeißel fraß sich durch Kalksteinschichten in ein Erdinneres, weit unter dem Meeresgrund fraß eine Sonde sich tiefer, während die Stahlspule auf der Plattform sich unaufhörlich drehte und wir in zwölf Stunden Schichten bereit standen, weitere Verschalungen in dem Bohrloch anzubringen. Es war der Golf von Mexiko, es waren acht Wochen, die ich hier draußen war, und zum ersten Mal kam mir diese Zeit lang vor, dehnten sich die Abende mit den anderen Bohrarbeitern in die Länge, wie sonst kaum. Ich war erschöpft und froh, wenn einer der Jüngeren in der Nähe war, einer dieser jungen Kerle, die mit ihren Fragen und ihrer großen Vorsicht so etwas wie einen Sinn in dieses Öltreiben brachten, in dieses Geschäft, fernab, von allen, die ich kannte. Es würde nicht mehr lang sein. Carlos, so hieß der junge Mann, der aus Chile angeheuert hatte, und dessen Arbeitsanzug bald so voller Schlamm war, dass man ihn mit den meisten anderen hätte verwechseln können, schien seine Kräfte jetzt in der letzten Woche noch zu verdoppeln, wenn er neben mir die große Zange bewegte, wenn er neben mir darauf achtete, dass die Bremse ordentlich in die Stahlspule fasste. Er hatte sein Geld hier gespart, ich wusste, wie viel es für ihn war, und bewunderte insgeheim sein frühes Zubettgehen, die Konsequenz, mit der er den Alkohol, den wir unter der Hand weiterreichten, ablehnte. Der kurze Moment, in dem er, bevor er das Licht ausknipste, unter sein Kissen griff, um ein Bild, von dem ich nur eine vage Vorstellung hatte, anzusehen, war eines der ersten Dinge, die mir einfielen, als ich auf dieser Liege erwachte, die noch schmaler war als mein Bett, unter einer Decke, auf deren hellem Weiß frühes Abendlicht lag. Man leuchtete mir ins Gesicht, ich musste eingeschlafen sein.
Ich habe nie geglaubt wie viele Bilder aufsteigen würden, wenn ich einmal zur Ruhe kommen würde. An den Abenden hörte ich, wie der Wind an die Kabinenwand drückte. Mein rechter Arm war noch immer taub nach dem Sturz, man sagte mir, ich würde mit dem nächsten regulären Hubschrauber an Land gebracht, dreieinhalb Tage, in denen ein Sanitäter regelmäßig meinen Puls nahm, in denen es Morgen und Abend wurde und wie auf einer Zugfahrt gab es diese Momente, in denen ich wegdämmerte, es waren einfache Dinge in einer böhmischen Landschaft, ein Sommergarten und der Geruch von Heu in ihrem Haar, Václav, sagte man zu mir, und im Traum saßen Kinder auf Kirschbäumen und hielten Ausschau nach dem fernen Mann, der ich zu Beginn noch für sie war. Es ist nicht schwer, so weit weg von all dem sentimental zu werden. Zwischen dem Kirschbaum, den Zwölfer-Schichten mit dem jungen Carlos und der Krankenliege lag ein Luftraum aus Zeit, angefüllt mit Namen, Jakarta, Mumbai, Seoul, Karachi. Die Wochen zwischen den Schichten waren untergegangen in dem Hupen überfüllter Metropolen, in Gesichtern, Nachtbars, deren Luft bewegt war von schwankenden Propellern, die tief unter der Decke den feuchtwarmen Atem von Touristen und jungen Mädchen vermengten. Es waren Wochen einer kaum zu beschreibenden Enge, lange Morgenstunden, in denen ich hinter halb geschlossenen Jalousien auf die Geräusche der Städte hörte, Motoren, die Rufe der Imame, Sirenen, Stimmen, die wie eine einzige mit den Zwischenräumen der Häuser verschmolzen. Sogar mit geschlossenen Augen sah ich all diese Leute vor mir, die Tage hier schienen noch entfernter zu sein als die Tage der Arbeit. Noble Chuck Syring, North Rankin A, Rowan Gorilla IV Drilling Rig.
Wir zwängten uns in die Überlebensanzüge. Carlos hatte seinen Spind geleert, und stopfte, was er mitgebracht hatte in seinen Seesack. Ich schloss ihm den orangenen Gummianzug auf dem Rücken, drehte mich um, damit er dasselbe bei mir tun konnte, seine Berührung war leicht, ich drehte mich um und folgte ihm aus dem Zimmer, sah die Plattform bald unter uns verschwinden, das Geräusch der Rotorblätter war ohrenbetäubend laut. Er hatte mich nicht gefragt, wohin ich zurückkehren würde, und so fragte ich auch ihn nicht. Die Hand, die er öffnete zum Abschied und das ungeklärte Bild, das zu seinem Kopfkissen gehörte, verschwanden hinter einer Schiebetür aus Glas. Gewelltes Haar vielleicht, ein dünnes Stück Stoff. Genug für einen, der noch die Kraft hatte, daran zu glauben, dass das was er vorzufinden hoffte, tatsächlich noch so auf ihn wartete.
Auf dem Weg in mein Motel bemerkte ich wie ich begann, Carlos von diesem Namen zu erzählen, und davon, wie glücklich ich wäre, auf dem Rückweg zu sein. Vor dem Fenster erschien die Silhouette der Stadt. Das Taxi fuhr unter einem taubenblauen Himmel, es war ausgestattet mit allerlei Plüsch, seit einer Stunde standen wir in einem Stau, aus dem es kein Vor oder Zurück gab, und ich konnte mir einreden, dass es mich unruhig machte. Ich konnte die Gesichter ansehen, die vor den Scheiben eiliger wurden. Carlos hatte mich bei meinem Vornamen gerufen und dann dort herunter gezerrt. Sie hatten mich ausgezogen, der Anzug war durchweicht vom Regen. Die große Zange, sagten sie, war zurück geschnellt und gegen meine Schulter geprallt, im Sturz war mein Kopf gegen eine der Aufbauten geschlagen. Vielleicht aus Nachlässigkeit hatte ich mich nicht gesichert, der Karabiner hing nutzlos an meinem Bauch, eine kaum zu unterdrückende Müdigkeit, die hier ein Privileg der Älteren war. Anderen, die ich gekannt hatte, war ähnliches passiert, die Plattform rutschig im Regen, ein Warnschuss, die meisten waren nicht wiedergekommen. Václav. Auf dem Gehsteig drängten sich Menschen vorbei, jemand klopfte gegen das Fenster, ich gehörte nicht dazu, der Fahrer hupte, erst, als das Wasser aus dem Duschkopf rauschte, wurden die Straßen allmählich leiser.
Ich werde ihr von dem Unfall erzählen, ich rede zu ihr in einer Sprache, die sie nicht versteht. Václav, wird sie sagen, fahr dahin, wo du hergekommen bist. Als wäre es einfach, bloß eine Strecke mit einem Alpha und einem Omega, die man wieder zurückfahren könnte, als wäre alles noch genauso wie zuvor. Vielleicht wird sie nur mit dem Kopf zur Tür nicken, wenn die Zeit um ist. Es waren Felder vor dem Fenster, schwerer, dunkler Acker, Budějovice. Sie war müde an den Abenden. Ich berührte ihren Bauch, als ich fuhr. Hier wache ich müde auf, zerschlagen, vor mir auf dem Kissen liegt mein Arm, liegt meine Hand, fühllos die Finger, die auf irgendetwas deuten, eine Richtung am Himmel, ein Bahndamm, der lang und richtungslos durchs Land geht. Eine Linie der Beschleunigung. Es wäre eine Erleichterung, heute alle Sätze mit Ich zu beginnen, aufzustehen, jsem, ich bin, ich weiß nicht, ich kämpfe, es wird einfacher sein, durch Straßen zu kommen, die nicht zu mir gehören, nicht ich, und dennoch auffindbar, mit Fremden zwischen Wagen und einem Himmel voller Fluglinien. Já, weiteste Entfernung, und die Unmöglichkeit dieses Wort in meiner Sprache zu gebrauchen, ich, zu dem sie gehörte, die lange Zeit, unsere Wohnung in Budějovice. Kam, das wäre die zweite Frage, wohin, es ist viel Zeit vergangen, draußen, auf See.
In acht Wochen fliegt die Post mit dem Hubschrauber ein, ziehst du Ventile an, säuberst die Gehäuse und trägst Rostschutzfarbe auf, wo Meerwasser an dem Metall zehrt, wartest du, und atmest voller Ungeduld, du solltest da sein, bei ihr, Station 3, tři, die See nimmt dir nichts ab, já, ich hoffe, liege abends wach, der Alkohol ist verloren, er heilt nichts, kein Junge, kein Mädchen, aber ich bin gesund, sie schreibt, dann nichts mehr, lange nichts mehr, komm nicht mehr, ich lasse mein Ticket verfallen, arbeite, krank, Tage, Nächte, eine seltene Angst, já, ich, die Städte sind schnell und einsam, ein Kauderwelsch aus Englisch und bunten Lichtern, ich gehe, schlafe leicht, schrecke hoch, gehe nie weit genug, nie so weit, zu erfahren was wirklich geschehen ist, nie weiter, als bis zu diesem Geräusch, das einem Klopfen ähnelt. Manchmal habe ich Angst, es zu verlieren, es ist nicht viel, nach sechs Jahren bei Arabic Drilling kann ich es noch immer hören, manchmal muss ich es suchen, sehr leise ist es immer noch da.
Ein Taxi hält, ich lasse mich bis weit aufs Land fahren. Die Häuser werden niedriger, breite Straßen aus Sand, ein paar Hühner. Bald wird der Himmel weit, der Horizont ist beinahe ungestört. Einige flache Hügel, weit entfernt. Ich habe ihn bezahlt, damit er wartet. Entfernt ist der Himmel über der Stadt ein helles Orange, es wird nie richtig dunkel, seit ich fort bin. Seit sechs Jahren taktet Arabic Drilling meine Zeit, man sagt mir, ich sei weniger wachsam als noch zu Beginn. Und immer noch bin ich nicht anderswo, zwischen Steinen und Büschen, der Fahrer wartet, ich gehe unter Wolken und höre den Sand, entfernt auf einer Straße verschieben sich Lieferwagen mit der Geschwindigkeit von Schilf, das auf einem Bach treibt. Beinah lautlos. Meine Arme werden kalt im Wind, der Fahrer schaltet die Lichter ein. Ich gehe. Alles wird selten und unbeweglich, flüchtig, jsem, ich bin, ich laufe, setze Schritte, die Kälte der Dämmerung, erste Sterne, ich halte auf den Wagen zu, der Horizont, das ist, was sich in jeder Gleichung für uns einsetzen lässt. Seit sechs Jahren sehe ich den Bohrungen zu, Mumbai, Bangkok, die verschiedenen Meere, die Dachterrassen, die Hotels, die Bars, die Wüste, die größer ist als all das, die Wüste, die unter all dem liegt, eine andere Wüste, zu vergessen. Namen zu vergessen, eine Sprache nicht mehr zu sprechen, es ist dunkel, der Fahrer wartet, rot und fern schimmert die Stadt. Hätte ich eine andere Sprache gefunden, vielleicht wäre es etwas leichter, würden die Orte, die Städte, die geduckten Häuserreihen, Lehmziegelbauten, Brunnen mit Ziegen, Dattelgeflecht, würde all das wirklich entfernt sein. Eine böhmische Landschaft. Seit ich unterwegs bin, gibt es Bohrungen in 1600 Fuß Tiefe, ich bin mir nicht sicher, ist der Himmel, andersherum, wirklich so hoch. Ich habe so lange in diesen Bildern gelebt, bis sie sich aufzulösen begannen. Já, ich, die meiste Zeit daheim, wir liegen im Gras, der Geruch der Obstwiesen, dann meldet sie sich nicht mehr. Du bist ein anderer schreibt sie, es ist dunkel, als ich den Brief lese, das Land ist dunkel ringsum. Ich kenne keine Sprache, die mich weiter fortbringen würde, in der Wüste liegt dieses Pochen, das leiser ist als das Texasenglisch über den Wassern, Golf von Mexiko, Arabischer Golf, irgendwo tief verstaut, eine Sprache. Václav, sagt man zu mir, geh heim, mach Pause. Wind drückt an unsere Kabinen. Die Wüste wird kalt in der Nacht, já, ich, ich habe keine Worte mehr für die Entfernung, ich werde ihr erzählen, ich werde ihm erzählen, ich gehe, fern steht der Wagen, eine klare Nacht. Fern bewegt sich ein Licht durch die Ebene, ein kleines Licht, ein Lied.
© Siegertext des 18. MDR-Literaturwettbewerbs, veröffentlicht in: Risikoanalyse, Das Beste aus dem 18. MDR-Literaturwettbewerb, herausgegeben von Michael Hametner, Verlag Poetenladen, Leipzig 2013; mit freundlicher Genehmigung von Michael Hametner und Anja Kampmann
Mit ihrer Kurzgeschichte Jsem − Ich werde ihr erzählen gewann die Wahlleipzigerin Anja Kampmann den mit 5.000 Euro dotierten MDR-Literaturpreis. Den zweiten Platz und 2.000 Euro sprach die Jury unter Vorsitz von Clemens Meyer dem Österreicher Ferdinand Schmalz (Jahrgang 1985) zu. Rang drei und 1.000 Euro gingen an Verena Güntner (Jahrgang 1978). Den Publikumspreis beim Finale im Leipziger Literaturhaus erhielt Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek. Am 18. MDR-Literaturwettbewerb hatten sich insgesamt mehr als zweitausend Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum beteiligt. Die sieben Besten wurden für das Finale ausgewählt und gehen jetzt auf Lesereise durch Mitteldeutschland. (mdr.de)
Am 23.06.2013 werden die Preisträger_innen während der Thüringer Literaturtage auf Burg Ranis ihre Werke einem breiten Publikum vorstellen.
Die Texte des Finales gibt es unter: www.mdr.de/figaro
Anja Kampmann studierte in Hamburg Politik und Sport und schloss ihr Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig 2009 in den Fächern Lyrik und Prosa mit einer Erzählung ab. Von 2006-2008 war sie Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift Carpe PlumBum.
2006: Teilnahme beim Open Mike Literaturpreis sowie unter den fünfzehn Besten beim MDR-Literaturpreis. 2007: Stipendiatin der Jürgen Ponto Stiftung im Künstlerhaus Edenkoben.
2008: Stipendiatin des Literaturkurses Klagenfurt, Österreich; 2009 3. Preis Literaturpreis der Schwabenmakademie. Seit 2010: Arbeit an einer Promotion zu Samuel Becketts Spätwerk. Von August bis November 2010 war sie Stipendiatin des International Writers Program, University of Iowa, USA. Kampmann war auch Gast bei Literaturfestivals in Karachi und Minsk.
Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften: u.a. Bella Triste; Tippgemeinschaft: Akzente – Carl Hanser Verlag 2/2007; Privataufnahme, junge deutsche Lyrik – Dahlemer Verlagsanstalt 2009; Neue Rundschau – S.Fischer Verlag 2/2010; Koeppen Jahrbuch 2010/2011. Ihre Texte wurden auch ins Englische und Russische übersetzt.
Die Autorin lebt in Leipzig und arbeitet für den Deutschlandfunk und die Neue Zürcher Zeitung. (s. auch poetenladen.de)
© Fotos: Marie Kasal - Verborgen, 2010; Premnath Sreshta - A cage went in seaech of a bird, 2009;
mdr.de (Preisträger_innen des Wettbewerbs 2013); bachmann.eu (A. Kampmann).