Kafkas Poseidon rechnet weiter
von Dr. Marie-Luise Wünsche
Robert Jütte - mit Wolfgang U. Eckart, Hans-Walter Schmuhl und Winfried Süß:
Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung.
324 S., geb., Wallstein Verlag, Göttingen 2011.
24,90 EUR, ISBN-13: 9783835306592
Die frühesten Versuche, die braune Gewalt zu beobachten und zu vermessen, stammen von Zeitzeugen. Sie wurden zunächst von verfolgten Wissenschaftlern mittels Einzelstudien und Symposien, mit Publikationen und Vorträgen aus dem Exil heraus initiiert. Es waren so gesehen Simultanbeobachtungen des zum Alltag gewordenen mörderischen Ausnahmezustandes.
Der Band Medizin und Nationalsozialismus, der sich als längst überfällige Bilanz eines „inzwischen hochdifferenzierten Forschungsstands“ versteht, kann nur angemessen rezensiert werden, skizziert man, im Anschluss an eine erste Darstellung, das, was er ausspart: nämlich jenen größeren kulturhistorischen Rahmen der Aufarbeitungsbemühungen, innerhalb dessen diese genuin medizinisch indizierten Verbrechen und Verbrechenserhebungen anzusiedeln sind. Erst im Anschluss an diese beiden Phasen wird sich eine letzte kommentierende Einschätzung dieses Projektes als sinnvoll erweisen können. Weder einleitend noch abschließend also findet sich ein längerer Kommentar, der die vielen Daten und Zahlen in Relation zu einigen, mit ihnen zusammenhängenden, historischen Diskursen und deren Schnittpunkten setzt. Vermutlich ist das der Tatsache geschuldet, dass der vorliegende Band eine „Orientierungshilfe“ sein will. So entsteht zwar ein durchaus homogener, aber, gemessen am Gegenstand, gerade deshalb zu klinisch steriler Eindruck.
In den Kapiteln: „1.Medizin und Nationalsozialismus“; „2 Eugenik und Rassenanthropologie“; „3. Gesundheitswesen“; „4. Medizinische Forschung“; „5. Medizinische Praxis“ und endlich „6. Brüche und Kontinuitäten nach 1945“ werden zwar kleinere Einführungen gegeben. Auch finden sich darin gelegentlich Begriffe wie etwa jene vom „Vernichten und Heilen“ respektive von der „Dialektik von Heilen und Vernichten im nationalsozialistischen Deutschland“ erstens stichwortartig aufgerufen und zweitens personell rückgebunden an Walter Wuttke-Groneberg und exemplarisch an Brandt. Dass diese Begriffe jedoch eigentlich einer detailversessenen medizinhistorischen Analyse im Umfeld (inter-)textueller Strukturen und Dynamiken bedürften, bleibt ausgespart. So wirken sie wie Problemklärungen, sind tatsächlich aber Problemvereinfachungen. Dies allein schon deshalb, da diese dialektisch einander zugeordneten Begriffe mit völlig anderen Zusammenhängen bei Viktor von Weizsäcker korrespondieren, auf die lediglich knapp und damit missverständlich im Vorübereilen verwiesen wird. Viktor von Weizsäcker sprach seinerseits ja auch von der „Vernichtungslehre“. Er tat dies jedoch innerhalb ganz anders gemeinter medizinanthropologischer Kontexte, so dass die Angemessenheit oder Unangemessenheit solcher Rede nicht ohne Weiteres bewertet werden kann.
Alles zielt so auf eine Nennung der bisher erhobenen empirischen Daten, auf die Verweise im Fußnotenapparat zu jenen Forschern, die eben diese Daten, Zahlen und (vorläufigen) Fakten zusammentrugen und vor allem auf die nun wirklich sehr hilfreiche Literaturliste am Ende jeden Kapitels. So verständlich dieses Vorgehen ist, so kritisch bleibt doch gerade in Bezug auf das hier vorliegende Gegenstandsfeld anzumerken, dass die Gebärde einer objektiven Wissenschaftssprache auch erhebliche Gefahren in sich birgt. Und es sollte auch nicht vergessen werden, dass hier Weltuntergänge von Opfern berechnet werden. Es soll etwas, was sich jedem numerisch verwaltenden Zugriff wesentlich entzieht, halbwegs berechenbar gemacht werden, damit das Unfassbare statistisch erfassbar und archivierbar wird. Nun ist es leider auch nicht mehr Poseidon höchst persönlich, der „an seinem Arbeitstisch [saß] und rechnete“, wie in jener kurzen Prosa von Kafka, der ja auch im Gesundheitswesen als Jurist tätig war, sondern es ist ein Ungeheuer des Landes, das nun das längst Errechnete nach- oder gar aufrechnen lässt.[1] Wo aber beginnen?
Beginnen muss man dann wohl ganz zweifellos mit dem Beitrag des Juristen Franz Neumann und späteren Professors für Politische Wissenschaft an der Columbia Universität in New York. Neumann publizierte erstmals 1942 und, um einen Anhang erweitert, erneut 1944, seine Studie Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 (jeweils bei der Oxford University Press). Diese Studie darf bis zum heutigen Tag den Rang eines nicht vernachlässigbaren Grundlagenwerkes beanspruchen.
Sorgsam und wohl geordnet wird darin erstens die kollabierende Weimarer Republik als eine Art folgenschweres politisches Vorausbeben behandelt. Zweitens kann dann die noch auf demokratischem Terrain möglich gewordene Legitimierung und Grundlegung des totalitären Staates mit all seinen Infrastrukturen analysiert werden. Drittens werden die einzelnen institutionellen und ideologischen Räume auf die Bedingungen und Konsequenzen der in ihnen wirksamen Gleichschaltung des Terrors hin befragt. Verfahren und Institutionen gerieten hier so erstmals angemessen in das Blickfeld der Soziologie und Zeitgeschichte, die einerseits den vielfachen Genozid technokratisch und penibel vorzubereiten halfen, und ihn andererseits gleich planvoll und organisiert bis zum bitteren Ende von vielen Millionen Opfern durchsetzbar werden ließen.
Das Grauen unter dem Namen ‚Behemoth‘ zu dokumentieren, das macht ebenfalls dreifach Sinn. Denn dem nationalsozialistisch legitimierten Blutrausch und Gemetzel fielen zum Opfer, neben den sogenannten physisch und oder psychisch ‚Degenerierten‘ und sogenannt ‚Entarteten‘ (Lesben und Schwule zählte man auch dazu, und brandmarkte sie mit dem rosa Winkel), neben den als sogenannte ‚Zigeuner‘ Verfolgten, last, but not least vor allem eben auch mehr als sechs Millionen Menschen, weil man sie zuvor gemäß ihres oder auch wider ihr Selbstverständnis als Juden identifizierte.Da wird Nomen zum Omen, denn: Erstens ist ‚Behemoth‘ der Name eines männlichen Ungeheuers des Landes, alter Ego des weiblichen Ungeheuers Leviathan, das die See beherrscht. Zweitens stammt es aus der jüdischen Eschatologie. Und drittens wählt bereits Hobbes diesen Namen zum Begriff für einen von Menschen zu verantwortenden Unstaat, der die Würde und Rechte der Menschen verschlingt, [2
Fortzufahren hätte man nach diesem Beginn jetzt mit eng auf das gesellschaftliche Gesundheitssystem des „Dritten Reiches“ fokussierten Beobachtungen, die etwa von ihrerseits Verfolgten stammten, die eben selbst ehemalige Angehörige dieser – zwischenzeitlich gleichgestellten – medizinischen Organisationen waren. Derartige spezielle Einzelstudien, die die mörderischen Verbindungen etlicher Mediziner zum Regime zeitgleich dokumentierten, wurden allerdings bis 1945 eigentlich nicht verfasst.
Eine in unserem Zusammenhang zu erwähnende Ausnahme, die jedenfalls schon einmal unter einer konkreten soziologisch-psychoanalytischen Perspektive auf Medizin und nationalsozialistische Gesellschaftsnormen zu reden kommt, stellt ganz sicher das im Juni 1944 in San Francisco abgehaltene, von einem Arzt und Freud-Schüler organisierte, interdisziplinäre Symposion über Antisemitismus dar. Denn gleich mehrere Beiträge beobachteten das Phänomen ‚Antisemitismus‘ von ärztlicher und psychoanalytischer Perspektive aus als pathologische, dem Zivilisationsprozess eingeschriebene Krankheitschiffre, die zum psychotischen Massenwahn tauglich zeichnete.
An diesem Kongress nahmen international bekannte Gesellschaftstheoretiker teil, wie etwa Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, aber eben auch Pioniere der psychoanalytischen Psychosomatik, Ärzte und Psychoanalytiker der ersten Generation, deren Namen zwischenzeitlich fast der Unbekanntheit anheimgefallen waren, wie etwa Otto Fenichel und vor allem Ernst Simmel. Der (Armen-) Arzt Ernst Simmel, als Jude, Sozialist und Psychoanalytiker gleich dreifach eine persona non grata, organisierte das Symposion.
Vor seiner Emigration in die USA hatte Simmel bis 1931 in Berlin eine Psychoanalytische Klinik betrieben. Dort fand Sigmund Freud als Gast und Freund Ruhe, wenn er wegen der durch den Kieferkrebs mehrfach indizierten chirurgischen Eingriffe nach Berlin musste. Schon 1932 beschäftigte sich Simmel innerhalb einer Ausgabe der Zeitschrift Der sozialistische Arzt mit dem hier relevanten Themenkomplex unter dem Titel „Nationalsozialismus und Volksgesundheit“[3]. In seinem 1944 gehaltenen und 1946 publizierten Beitrag verhandelt er dann, darauf und auf anderen psychoanalytischen Beiträgen von ihm selbst und von Sigmund Freud aufbauend, den Antisemitismus als eine spezifische Form der Erkrankung. Antisemitismus wird zu einer nahezu panepidemischen Gefahr, einer Krankheit, die periodisch wiederkehrend massenpsychotisch um sich zu greifen droht. „Der Antisemitismus ist ein bösartiges Geschwür am Körper der Zivilisation […] Der Antisemitismus als politische Kraft ist nicht so alt, wie wir glauben; er entstand etwa um 1870.“[4]
Nach 1946 sinkt die Aufarbeitungsbereitschaft unter den Medizinern auf einen Nullpunkt und wird dort Jahrzehnte lang mehr oder weniger erfolgreich verharren. Eine Ausnahme stellt im deutschsprachigen Raum allein die 1949 unter dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit – Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke herausgegebene Studie dar. Als offiziell bestellte Beobachter des Nürnberger Ärzteprozesses machten sie sich freilich unter ihren deutschen Ärztekollegen damit eher Feinde denn Freunde. Erst gut dreißig Jahre später, anlässlich des Gesundheitstages, der 1980 vom 14. bis zum 18. Mai in Berlin tagte, sollte die Entwicklung beginnen, auf die der nun, noch einmal gut dreißig Jahre später vorliegende Band, schon mit seinem Titel verweist, um dann im Vorwort unmissverständlich festzuhalten, dass „in den letzten 30 Jahren […] kein Thema in der Medizingeschichte [ … ] so intensiv erforscht worden ist wie die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus.“
Medizin und Nationalsozialismus: so titelten eben bereits 1980 die Herausgeber des Sammelbandes, der mit dem Untertitel freilich noch mahnend nachfragte: „Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?“ Die Herausgeber damals waren der Medizinhistoriker Gerhard Baader und der Arzt und Psychoanalytiker Ulrich Schultz, der auch gemeinsam mit den Ärzten Ludger Hermanns und Mechthilde Kütemeyer den verstreuten Nachlass Ernst Simmels aus den Archiven, vor allem aus jenen der USA, zusammentrug und publizierte.
Es schließt sich also gleich zweifach ein Kreis. Zum einen begann unter dem Titel „Medizin und Nationalsozialismus“ damals ganz eigentlich allererst die ärztliche Beschäftigung mit der eigenen Rolle als Mediziner in Bezug auf die „Gesundheitspolitik im Dritten Reich“[5]. Diese wird nun eben von heutigen Standesvertretern der Medizin(-Geschichte) vorerst unter dem
vollständigen Titel Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung als „Orientierungshilfe“ abgeschlossen. Das erscheint den Herausgebern des aktuellen Beitrags überfällig, weil die „mittlerweile zu konstatierende Fülle an Literatur“ zu diesem Thema anders nicht mehr übersehbar sei. Übrigens bestätigt dieser Forschungsbericht, dabei auf eine Reihe anderer, in den letzten dreißig Jahren entstandener Beiträge verweisend, auch das, was die Wissenschaftler 1980 nur vermuten konnten, nämlich, dass der „Organisationsgrad von Ärzten in der NSDAP, der SS, der SA und in anderen Gliederungen der Partei […] im Vergleich zu anderen akademischen Berufsgruppen ungewöhnlich“ hoch war.[6] Zum anderen aber schließt sich der Kreis auch noch so: War die Publikation damals Resultat eines Gesundheitstages, den die Veranstalter synchron zu und gegen den 83. Deutschen Ärztetag ausgerichtet hatten und zog dieser damals „heftige Angriffe der Bundesärztekammer und des Hartmannbundes“[7] auf sich, so ist das Echo heutzutage ein dazu genau Entgegengesetztes. Dem aktuellen Sammelband entnimmt man im Vorwort nämlich bereits eine Danksagung, gerichtet an die Bundesärztekammer, insbesondere an ihren Präsidenten, Herrn Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jörg-Dietrich Hoppe, da er für Anstoß und Finanzierung sorgte.
Leicht mag da dem einen und der anderen „ein Geschmäckle“ aufstoßen, wie der Schwabe sagen würde. Allerdings ist die Situation für die Bundesärztekammer so oder so ähnlich verfahren wie sie es etwa für die DFG war, als diese Institution ihren Anteil an Wissenschaftsförderung im Geiste des Nationalsozialismus kritisch zu überprüfen begann. Wie sich die Vertreter derartiger Institutionen auch drehen und wenden, stets trifft sie, wenn nicht der eine, dann der andere Vorwurf, stets auch – zumindest partiell – berechtigter Weise. Entweder rügt man den Inszenierungscharakter der Aufarbeitungsbemühungen oder man rügt das totale Ausbleiben einer noch so kleinen Geste der Bereitwilligkeit nachzuforschen, was im eignen Namen verursacht wurde an Weltuntergängen und anderem, ähnlich unvorstellbarem Leid. Im hier zu verhandelnden Falle ist es zudem noch so, dass natürlich viele der nun aufgelisteten „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ andernorts und von anderen Wissenschaftlern und mit anderen Finanziers zunächst in mühseliger und langjähriger Archiv- und Schreibtischarbeit recherchiert, empirisch falsifiziert und endlich schriftlich dokumentiert werden mussten, bevor nun die vergleichsweise einfache und elegante Arbeit an den nur noch zusammentragenden Aufsätzen beginnen konnte.
Wenngleich zweifelsohne die Medizinhistoriker Robert Jütte und Wolfgang U. Eckart hier wie auch auf anderen Forschungsfeldern ihres Faches kontinuierlich höchst Verdienstvolles geleistet haben und noch leisten, und wenngleich dies sicher auch für die beiden mitwirkenden Historiker Hans-Walter Schmuhl und Winfried Süß gilt, wenngleich auch die hier eingangs ausführlicher zitierte Untergliederung in insgesamt sechs übergeordnete Kapitel einleuchtet, denen dann noch weitere Unterpunkte zugeführt werden können, darunter etwa unter 3.5. „Die Vertreibung jüdischer und ‚staatsfeindlicher‘ Ärztinnen und Ärzte“ (allerdings ohne Ernst Simmel und die ihn behandelnden Publikationen zu erwähnen), so bleibt dennoch abschließend ein dreifach wiederholtes ‚aber‘ einzuwenden.
Aber: Namen wie eben der des Grand Monsieurs der Medizingeschichte, Gerhard Baader, aber dann gleich darauf auch vor allem der von Udo Benzenhöfer und endlich auch jener von Volker Roelcke, beide haben eine Reihe von Studien zu Medizin und Nationalsozialismus und Ethik von Euthanasie und Sterbehilfe herausgebracht, finden sich in den Fußnoten und in den Literaturverzeichnissen zwar wieder, vielleicht nicht immer in einem ihren Forschungsbeiträgen angemessenem Umfang, doch dies ist dann schon alles. Das gleiche gilt auch für die mindestens ebenso wichtigen Monografien und Aufsätze von Ralf Forsbach, der zu Humanexperimenten und Euthanasie im nationalsozialistischen Deutschland arbeitet, auch zu den Beziehungen der Medizinischen Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“. Endlich wird ebenso der Name des US-amerikanischen Psychiaters Robert J. Lifton schon innerhalb des ersten, von Winfried Süß besorgten, Beitrages „Medizin und Nationalsozialismus“ erwähnt.
Allein Robert J. Lifton hat, wie alle andern hier genannten Ärzte und Medizinhistoriker auch, selbst so wichtige Beiträge geleistet, vor allem zu Ärzten im Dritten Reich und zur Psychologie des Totalitarismus, dass es nur angemessen erschiene, läge mit dem vorliegenden Beitrag „Medizin und Nationalsozialismus Bilanz und Perspektiven der Forschung“ lediglich der erste Band einer langen Serie von Publikationen vor. Diese würden dann von den hier Erwähnten und jenen Forschern, die sich im Sammelband selbst darüber hinaus als Referenz noch finden, nach und nach besorgt. Der Präsident der Bundesärztekammer aber sponserte alle sowohl gedanklich als auch finanziell in gleichbleibend vorbildlicher Weise. Falle ich gerade aus der Rezension ins Märchen? – Wohl möglich! Aber: erst dann, wenn dem so würde, könnte Kafkas Poseidon eine kleine Pause einlegen und die Erben des hippokratischen Behemoths auch: eine Rechenpause eben, nach der es sich umso frischer aufs Neue anheben ließe.
[1] Zitiert nach: Benno Wagner: Poseidons Gehilfe. Kafka und die Statistik, In: Marbacher Magazin 100/2002: Kafkas Fabriken. Bearbeitet von Hans-Gerd Koch und Klaus Wagenbach, S.109. Neuere diskurshistorische Forschungen, wie eben diese und andere von Wagner u. a., legen ja nahe, dass ein angemessenes Vermessen der nationalsozialistischen Verbrechen nur gelingen kann, wenn man die zu Kafkas Zeiten Grund gelegte anthropologische Reduzierung auf den versicherbaren Durchschnittsmenschen entsprechend in ihren Auswirkungen Ernst nimmt.
[2]Vgl. auch Franz Neumann: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944. Frankfurt am Main 1984, S. 16 „Bemerkung zum Namen Behemoth“.
[3] Hermanns Ludger M. und Schultz-Venrath, Ulrich (Hrsg.): Ernst Simmel. Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main 1997, S. 12. Vgl. dort auch den Beitrag von Ernst Simmel, der erstmals 1932 erschien: „Nationalsozialismus und Volksgesundheit“, S. 151ff.
[4] Ernst Simmel (Hrsg.): Antisemitismus, Frankfurt am Main 1993, darin sein Beitrag: Antisemitismus und Massen-Psychopathologie, S. 59 und 62.
[5] Gerhard Baader und Ulrich Schultz: Medizin und Nationalsozialismus: tabuisierte Vergangenheit – ungebrochene Tradition?; Dokumentation des Gesundheitstages Berlin 1980. Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 4 1989.
[6] Ibid., S. 7
[7] Ibid., S. 7.
© Text: mit freundlicher Genehmigung der Autorin / Fotos: Bundesarchiv; Humboldt Universität Berlin: Anlässlich des 70. Geburtstages des Gynäkologen Walter Stoeckel am 14. März 1941 ist Joseph Goebbels in den Hörsaal der Frauenklinik geladen. Die laufende Ringvorlesung widmet sich u.a. der politischen Gynälokogie an den Berliner Universitätsfrauenkliniken.
Poseidon von Franz Kafka
Poseidon saß an seinem Arbeitstisch und rechnete. Die Verwaltung aller Gewässer gab ihm unendliche Arbeit. Er hätte Hilfskräfte haben können, wie viel er wollte, und er hatte auch sehr viele, aber da er sein Amt sehr ernst nahm, rechnete er alles noch einmal durch und so halfen ihm die Hilfskräfte wenig. Man kann nicht sagen, daß ihn die Arbeit freute, er führte sie eigentlich nur aus, weil sie ihm auferlegt war, ja er hatte sich schon oft um fröhlichere Arbeit, wie er sich ausdrückte, beworben, aber immer, wenn man ihm dann verschiedene Vorschläge machte, zeigte es sich, daß ihm doch nichts so zusagte, wie sein bisheriges Amt. Es war auch sehr schwer, etwas anderes für ihn zu finden. Man konnte ihm doch unmöglich etwa ein bestimmtes Meer zuweisen; abgesehen davon, daß auch hier die rechnerische Arbeit nicht kleiner, sondern nur kleinlicher war, konnte der große Poseidon doch immer nur eine beherrschende Stellung bekommen. Und bot man ihm eine Stellung außerhalb des Wassers an, wurde ihm schon von der Vorstellung übel, sein göttlicher Atem geriet in Unordnung, sein eherner Brustkorb schwankte. Übrigens nahm man seine Beschwerden nicht eigentlich ernst; wenn ein Mächtiger quält, muß man ihm auch in der aussichtslosesten Angelegenheit scheinbar nachzugeben versuchen; an eine wirkliche Enthebung Poseidons von seinem Amt dachte niemand, seit Urbeginn war er zum Gott der Meere bestimmt worden und dabei mußte es bleiben.
Am meisten ärgerte er sich - und dies verursachte hauptsächlich seine Unzufriedenheit mit dem Amt - wenn er von den Vorstellungen hörte, die man sich von ihm machte, wie er etwa immerfort mit dem Dreizack durch die Fluten kutschiere. Unterdessen saß er hier in der Tiefe des Weltmeeres und rechnete ununterbrochen, hie und da eine Reise zu Jupiter war die einzige Unterbrechung der Eintönigkeit, eine Reise übrigens, von der er meistens wütend zurückkehrte. So hatte er die Meere kaum gesehn, nur flüchtig beim eiligen Aufstieg zum Olymp, und niemals wirklich durchfahren. Er pflegte zu sagen, er warte damit bis zum Weltuntergang, dann werde sich wohl noch ein stiller Augenblick ergeben, wo er knapp vor dem Ende nach Durchsicht der letzten Rechnung noch schnell eine kleine Rundfahrt werde machen können.
(aus: Franz Kafka, Erzählungen, Fischer Verlag)
02X2012