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Franz Kafka im Kino, im Archiv
und im ‚Nebel des Unabsehbaren’

von Roman Halfmann

 

Hat Franz Kafka im Proceß-Roman konkrete historische Ereignisse verhandelt und aus Angst vor antisemitischen Anfeindungen sorgsam verschlüsselt? Oder ging es ihm stets allein um Originalität, die er einerseits als intertextuelles Spiel mit klischierten Versatzstücken zu erreichen versuchte oder mithilfe der Etablierung eines kinematographisch motivierten Erzählverfahrens? Und wie ist sein oft vermerkter Hang zur doppelten Verneinung nun tatsächlich zu bewerten?

Vier neuere Veröffentlichungen widmen sich unter anderem diesen Fragen.

 

 

Marie Vachenauer – Kafkas Roman Der Proceß als Spiegelung historischer Ereignisse aus der Stadt Prag.
159 S., geb., Frank & Timme Verlag, Berlin 2014.
24,80 €; ISBN-13: 9783732900572

 

 

 

Marie Vachenauer möchte in Kafkas Texten gar zu gerne historische Begebenheiten identifizieren, „die nicht selten in das Leben insbesondere der Prager Juden einschneidend eingegriffen haben“. Tatsächlich sei das Prager Judentum des 16. und 17. Jahrhunderts Hauptthema eines Kafkas, den wir uns also als gründlich recherchierenden und umfassend informierten Menschen vorzustellen haben, der wohl nur deshalb keine historischen Romane geschrieben hat, weil er antisemitischen Vorwürfen auswich und aus diesem Grund die Fakten findig chiffrierte – zu findig vielleicht, muss doch selbst Vachenauer immer wieder zugeben, dass es an eindeutigen Markierungen fehle und die „angenommene Assoziation […] nur zufällig passend sein mag und Kafka ein gänzlich anderes Thema im Sinn hatte“. Immerhin ist dies für die Interpretin keineswegs Anlass, den grundsätzliche Sinn des Anliegens infrage zu stellen, eher im Gegenteil, denn je tiefer sie in die Prager Archive hinabtaucht, desto unzweifelhafter deucht ihr, dass der Proceß-Roman „auf einer realen historischen Grundlage“ beruht und zwar maßgebend auf der Tötung des Simon Abeles im Jahr 1694: „Die Prager Juden wurden beschuldigt, ein Kind aus Religionshass ermordet zu haben.“ Hieraus habe Kafka nun eine umfassende Reflexion über Gericht und Gerichtsbarkeit im Verlauf der Jahrhunderte entworfen und die „Frage nach der Rechtmäßigkeit einer permanent vorhandenen historischen Schuldzuweisung“ gestellt.
Nun, es ist sicherlich stets sinnvoll, neue Deutungswege zu versuchen – und, ganz ehrlich, die Verlobungsgeschichte à la Canetti und Konsorten reicht nun wirklich nicht aus, um dem Roman in seiner faszinierenden Komplexität gerecht zu werden, da ist Vachenauer zuzustimmen. Allein, die Kafka-Forschung hat Felice Bauer ja längst überwunden und auch der im Roman dargestellte jüdische Diskurs ist bereits fest etabliert – erinnert sei an Christoph Stölzls wunderbares Kafkas böses Böhmen und nur hingewiesen auf die Hilsner-Affäre, die seit 1899 als ‚Fall Polnà‘ die Gemüter erregte und unter anderem von Benno Wagner
[1] und Bernd Neumann[2] mit Kafka in Beziehung gesetzt wird: Dass Kafka durchaus (auch) historisch schreibt, ist also längst in der Forschung bekannt, doch sind die Bezugnahmen eben stets verdeckt, weshalb eine diesbezügliche Analyse im Gegenzug außerordentlich sorgfältig vonstatten gehen sollte, will sie nicht Gefahr laufen, sich im Beliebigen zu verlieren – leider mangelt es Marie Vachenauers Untersuchung an eben dieser Akkuratesse, wie bereits ihr Umgang mit dem Primärtext belegt.


So liest sie, unvorstellbar eigentlich, den ersten Satz des Proceß-Romans und die dort angedeutete Schuldlosigkeit Josef K.s als „vorweggenommene Feststellung des Autors“ und folgert: „Der Autor kennt seinen K. Seine Aussage über ihn ist deshalb als wahr anzusehen. Warum dann die Verhaftung?“ – Natürlich, Vachenauer möchte Denunziantentum, schuldlose Verurteilung und willkürlich motivierte Prozessverläufe im Roman verorten und in der Folge als Anschlüsse an den Diskurs um Simon Abeles kennzeichnen, doch ist der Preis einfach zu hoch und die Untersuchung allein aufgrund dieser unstatthaften Vereinfachung eines im Roman höchst komplex angelegten Schuldkomplexes bereits empfindlich beschädigt, wenn nicht gar gänzlich diskreditiert. Man könnte demnach annehmen, dass Vachenauer in der Folge von weiteren Deutungen ablässt und sich ganz auf den Vergleich des Romans mit den Gerichtsakten um den Abeles-Prozess und diversen hiermit verknüpften historischen Fakten konzentriert – doch verliert sie hierbei endgültig jedes wissenschaftliche Gespür und deutet zunehmend wahl- sowie sinnlos vor sich hin. So zeigt sie sich, trotz aller berechtigten Zweifel und ohne einen Beleg in der Hinterhand, davon überzeugt, dass Kafka die Gerichtsakten des Abeles-Prozesses gelesen und in seinem Roman verarbeitet habe, was notgedrungen zu oberflächlichen und beliebig gesetzten Einsichten führt: Wirft Josef K. in der Dom-Szene etwa das Album mit Bildern von Sehenswürdigkeiten auf den Boden, korrespondiere dies mit dem historischen Prozess, da dort der Angeklagte eine Bibel auf den Boden wirft. Und so fort. Das ist nicht nur willkürlich, sondern geradezu konspirativ im Sinne der Verschwörungstheoretiker, die aus dem Faktum, dass es an Beweisen fehlt, wiederum einen Beweis zimmern: „Das Wort Jude“, erklärt Vachenauer folgerichtig in eben diesem Impetus, „sucht man im [sic] Kafkas Proceß vergebens und dennoch wird über das Judentum indirekt, anhand des Handelns seiner Figuren, gesprochen“. Wie gesagt, als Ausgangsthese ist dies erst einmal durchaus zulässig, immerhin leben wir nicht mehr in den werkimmanenten 1950er Jahren des letzten Jahrhunderts, doch sollte man eben gewichtige Muster nachweisen können, welche das Handeln der Protagonisten hinreichend als Anschlüsse an jüdische Diskurse kennzeichnet. Wirft jedoch Josef K. im Dom ein Bilderalbum auf den Boden, ist nicht unmittelbar der wegen Mordes angeklagte Jude aus dem Jahr 1694 zu erkennen, der im Gefängnis eine Bibel wegwirft: Es soll ja schon öfter vorgekommen sein, dass irgendwelche Menschen irgendwelche Bücher auf irgendwelche Böden geworfen haben. Spätestens hier stellt sich während der Lektüre Skepsis ein, trotz der in sicherlich mühseliger Arbeit den Archiven entrissenen Straßenkarten, Fotos und diversen Hinweisen. Wenn aber Vachenauer am Ende konstatiert, dass der Affe Rotpeter in dem Bericht an eine Akademie zur Menschwerdung womöglich nicht Schnaps, sondern Weihwasser getrunken habe, also zwangskonvertiert sei, bleibt einem angesichts der waltenden Willkür schier der Atem stehen – wenn man sich nicht bemüßigt fühlt, die vorliegende Untersuchung seinerseits auf den Boden zu werfen. 



Peter-André Alt – Kafka und der Film.
Über kinematographisches Erzählen.
240 S., geb., Verlag C. H. Beck, München 2009.

19,90 €; ISBN-13: 9783406587481




Doch Obacht!, stellen wir das Werk lieber behutsam ins Regal, beruht die These Peter-André Alts, dem unumstrittenen Doyen gegenwärtiger Kafka-Forschung, letzten Endes auf eben jener ersten, sich so fatal auswirkenden Folgerung Vachenauers, nach welcher Kafka etwas ganz besonders bejaht, indem er es vehement verschweigt oder gar negiert. Deutet demnach nach Vachenauer das Fehlen eines jüdischen Diskurses im Proceß auf eine Verhandlung eben dieses Diskurses hin, der Spekulation Tür sowie Tor öffnend, erkennt wiederum Alt in Kafkas Schreiben eine Etablierung der kinemotagraphischen Perspektive, gleichwohl (oder weil?) Kafka sich in seinen Aufzeichnungen hierüber ausschweigt – wie er sich ja ohnehin stets auszuschweigen pflegt und es den Interpreten arg schwer macht oder arg einfach, je nach Gemütslage.

Natürlich, dass Kafka ein begeisterter, nach Aufführungen gar bisweilen weinender und, jedenfalls einige Jahre lang, in seinem Tagebuch das Gesehene eifrig reflektierender Kinogänger war, das ist spätestens seit Hanns Zischlers Kafka geht ins Kino bekannt: „Franz Kafka hat sich immer wieder mit dem Kino beschäftigt“, hebt auch Alt mit Zischler an, doch geht er weiter, deutet nämlich das Kafka’sche Schreiben als maßgeblich von dieser Art „neuen Sehens“ bestimmt und erkennt in der „kinospezifischen Struktur“ nun einen „Schlüssel[ ] für die Analyse seiner poetischen Einbildungskraft und der narrativen Umsetzung, die sie im Schreiben durchläuft“. Kafka sei in dieser Hinsicht in seiner Erzähltechnik und der Auswahl von Sujets enorm vom Kino beeinflusst, wobei Alt ersteres vor allem in der betont unpsychologischen Darstellungsart Kafkas nachweist, die nichts mehr erkläre, sondern letztlich allein das bedeute, was man äußerlich erkennen könne: „Im filmischen Erzählen wird die Erklärung von Ursachen durch die Sequenzierung, die Analyse durch die Reihung ersetzt.“ Vor allem in der Betrachtung und also im Frühwerk seien derartige filmästhetische Reflexionen verstärkt zu finden, wie Alt nun anhand arg geraffter Analysen entwickelt, die aber eigentlich nicht aufklären, sondern das Mysterium Kafka’schen Erzählens allein auf eine andere, bedauerlicherweise ähnlich und sogar per Definition undurchdringliche Ebene verschieben, nach dem Motto: Wenn es nicht zu erklären ist, haben wir es mit der Verarbeitung filmischer Muster zu tun, denen die Undurchdringlichkeit einverleibt ist – der Text ist ein Film ist ein Text ist ein Film …


Dass sich mit Erfindung und Etablierung des Kinos Wahrnehmung und Deutung von Welt sowie Mensch nachhaltig veränderten und als kulturelle Irritationen in der Folge auch die Literatur beeinflussten, ist sicherlich unstrittig, doch bleibt die Frage, ob und wie dieses Klischee von der Perspektiverweiterung nun tatsächlich auf Kafka anzuwenden ist. Und hier tut Alt sich denn auch recht schwer – und es ist auf den ersten Blick bereits äußerst aufschlussreich, wie unsouverän Alt die Gewährsmänner seiner These auswählt: Da werden zur Bekräftigung recht willkürlich Herren wie etwa der ohnehin allgegenwärtige Georg Lukács genannt, die eine derartige weitreichende Beeinflussung durch den Film wahrnehmen, indes Verweise auf etwa Robert Walser oder Franz Blei, die nach Alt den Schritt hin zu den Möglichkeiten filmästhetischer Daseinsbeschreibung nicht vollzogen, wiederum das Gefälle andeuten sollen, welches den modernen Kafka von diesen konventionellen, altmodischen Autoren scheide. Da Kafka sich zu keiner Zeit in diesem Diskurs zu Wort meldet und es ohnehin äußerst schwer scheint, die Prosa etwa von Robert Walser und Franz Kafka auf ihr Potenzial an filmästhetischer Modernität hin abzuklopfen und unter diesem Gesichtspunkt gar zu vergleichen, verpuffen diese Verortungsversuche, Analogien und Fingerzeige. Allein in einem Nebensatz wiederum weist Alt darauf hin, dass der Expressionismus genauso die Psychologisierung infrage stellt und somit auf andere Weise die diagnostizierten filmästhetischen Implikationen ins Feld führt, weshalb sich die Frage stellt, ob Kafka nicht in einem umfassenderen Sinn an kulturelle Diskurse anschließt und die Rezeption des Films allenfalls Symptom ist – doch, wie gesagt, dies deutet Alt nur an, der eben allein den Film im Blick hat. Diese eindeutig zweckgerichtete und daher auf unstatthafte Weise motivierte Verortung des Pragers ins kulturelle Treiben seiner Zeit ist, Koryphäe hin oder her, geradezu amateurhaft betrieben und würde in einer Seminararbeit Punktabzüge nach sich ziehen, da der Hauptgegenstand, nämlich Kafka selbst, völlig aus dem Blick gerät. Dies weiß natürlich auch Alt, der aber nicht anders kann, da Kafka eben schweigt: manchmal, wenn es Alt passt, eben beredt, manchmal einfach nur so.


Eklatant ist dies, wenn sich die Untersuchung den Sujets zuwendet, die Kafka vom Kino übernommen habe. So erklärt Alt, Murnaus 1922 gezeigter Film Nosferatu sei in den Schloß-Roman eingegangen, weil es gar nicht anders sein kann: Kafka muss den Film gesehen haben, denn Alt hätte ihn an Kafkas Stelle sicherlich gesehen, und er muss von ihm beeindruckt gewesen sein, und zwar auf Alt’sche Weise, und daher notwendig im gerade entstehenden Roman auf irgendeine Weise verarbeitet worden sein. Ohnehin: In beiden Werken sind Schlösser! Kafka selbst, man registriert es nur linde überrascht, schweigt auch hierzu. Nun, die dargereichten intertextuellen Markierungen, die Alt dann bemüht, überzeugen so wenig wie die Herleitung selbst, weshalb der Komplex um den Vampir insgesamt ein durchaus jedem Studenten der Literaturwissenschaft zu empfehlendes Exempel fehlgeleiteter, nämlich von der Eingangsthese bereits korrumpierter Intertextualität ist. Wie die gesamte Untersuchung auf tönernen Füßen durchs trübe Gewässer Kafka’scher Provenienz stakt und dem Anspruch wissenschaftlichen Arbeitens oftmals nicht gerecht wird – besser wäre wohl gewesen, das kinematographische Erzählen selbst zum Hauptgegenstand einer schlichtweg essayistischen Untersuchung zu machen und in einem schmalen Kapitel – einer Fußnote eventuell gar? – auf Kafka zu verweisen.



Helena Rödholm Siegrist – Wenn die Wahrnehmung kippt.
Transformationen in Franz Kafkas Die Verwandlung
127 S., geb., Igel Verlag, Hamburg 2014.

18,90 €; ISBN-13: 9783868155938




Die interessanteste und Kafka unmittelbar betreffende These wiederum verhandelt Alt nur sehr knapp: Es geht um die Tatsache, dass Kafka jeden Einfluss in seinen Aufzeichnungen sogleich transformierte und jede Spur zum Primärtext verwischte, so natürlich auch die filmästhetischen Bezüge. Diese Eigenart treibt ja die Kafka-Forschung von Beginn an um und ist nicht nur maßgebliche Ursache der Deutungsschwierigkeit der Prosa, sondern auch der immer wieder vorgenommenen Erhebung Kafkas in den Kreis der wahren Genies, die ex nihilo schaffen. Und wie das wahre Genie per Definition nicht mehr zu erklären ist, hat man zwar immer wieder auf Kafkas Taktik hingewiesen, sie aber nur äußerst selten zu beschreiben oder gar zu erklären versucht.

Für Alt hingegen ist in erfrischend wirkender Geradlinigkeit klar, dass es Kafka beim Schreiben auch um Originalität ging: „Wenn ein literarischer Entwurf im Schatten des Autobiographischen oder seines Vorbildes blieb, wurde er abgebrochen“, da, wie es an anderer Stelle heißt, der Einfall „nicht originell genug“ schien. – Originalität und das Streben danach aber sind in der Kafka-Forschung bisher weitgehend vernachlässigte, nichtsdestotrotz jedoch meiner Ansicht nach äußerst vielversprechende Ansatzpunkte einer Darstellung des Schaffensprozesses Kafkas, weshalb es zunächst einmal erfreulich ist, deutet Helena Rödholm Siegrist in ihrer Untersuchung der Verwandlung eben einen derartigen Impuls der Schöpfung vom Neuen als Hauptmerkmal Kafka’scher Texte, wenngleich das Ergebnis dann leider eher bescheiden anmutet.


Kafkas Prosa, so die Hauptthese, sei eine „sehr bewusste Mischung von Stilebenen und Genres“, „die zu einer humoristisch-satirischen Dekonstruktion eines bekannten und oft klischeeartigen Inhalts“ führten. Symbol hierfür wird Siegrist das Vexierbild, welches zwischen zwei oder mehr Ansichten pendelnd eine Deutungsvielfalt und Unbestimmtheit etabliert und damit einer „Automatisierung der Wahrnehmung“ entgegenwirkt. Dieser an sich verheißungsvolle Ausgangspunkt, den der noch zu besprechende Mathias Mayer mit seiner Definition der doppelten Verneinung auf anderer Ebene weiterführt, wird jedoch rasch durch einige unstatthafte Vergleiche und eine insgesamt altbackene Definition von Intertextualität empfindlich torpediert. So mäandert Siegrist allein auf den Seiten 63ff wenig motiviert von Shakespeare zur Gestalttheorie und führt über Nietzsche hin zur so genannten Wertheim-Kasse, die in der Verwandlung erwähnt wird – etwas später kommt dann recht überraschend ein Gedicht Carl Theodor Körners ins Spiel, worauf die Argumentation bei Arthur Schopenhauer und Johann Wolfgang von Goethe erst einmal pausiert – der Leser benötigt die Ruhe auch dringend, schwirrt ihm doch der Kopf angesichts der Sprünge, die allein auf Vermutungen beruhen. „[N]icht ganz im Klaren“ ist sich die Autorin dann über den Sinn der von ihr gemutmaßten Faust-Rezeption: Markiert sie „Ernst und Tiefe oder eher eine parodistische Sentimentalität“? Egal, denn der nächste Sprung steht kurz bevor: Friedrich Nietzsche muss abermals herhalten, dann der jüdische Witz, der direkt zu Gilles Deleuze und Félix Guattari hin pointiert, danach Ovids Metamorphosen. Man merkt, hier wird jedes Lektüre-Erlebnis – der Interpretin wohlgemerkt – sorglos-naiv zusammengeführt, ganz im Sinne der so missverstandenen These Julia Kristevas. Den Leser endgültig verliert Siegrist aber, wenn sie zehn Seiten vor Schluss Tarotkarten ins Spiel bringt, „mit denen Franz Kafka eventuell in Verbindung kam“. Die Idee aber – sechs Seiten vor Schluss – Gregor Samsa mit dem Skarabäus in Beziehung zu bringen und konsequent zu deuten, die Familie Samsa habe, „ohne dass sie es wahrzuhaben vermochte, einen Gott unter ihrem Dach“ beherbergt, ist schon wieder so kokett, dass man immerhin lächelnd zum Ende kommt.

Und, dies noch, warum hat Kafka nun also derart dialogisch-vexiert geschrieben? Originalität war unmittelbar das Ziel und nur Nebeneffekt, eigentlich ging es ihm nach Siegrist darum, den Menschen die Augen zu öffnen und sie vor diktatorischen Monotonien zu warnen – ein guter Mensch also, ein Rebell. Und dabei belassen wir es denn auch.



Mathias Mayer – Franz Kafkas Litotes.
Logik und Rhetorik der doppelten Verneinung.
155 S., geb., Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015

19,90 €; ISBN-13: 9783770558292




Mathias Mayer untersucht in „Franz Kafkas Litotes“ die doppelte Verneinung in Kafkas Schreiben und legt, wenig überraschend eigentlich, erst einmal fest, dass ein doppeltes Nein eben keine Bejahung bedeutet, sondern „einen Nebel des Unabsehbaren“ ausbilde und sprachliches Merkmal einer von Kafka angestrebten „Deterritorialisierung“ sei, durch welche „eine Unterhöhlung festgefügter Sinnbauten“ erreicht werde. – Auch hier geht es also, wie in der Untersuchung Siegrists, um die Zone der Unentschiedenheit, die Kafka bewusst etabliere und nach Mayer als „Ausnahme von der Ausnahme“ in seinen Texten immer wieder dynamisch entwerfe – rhetorisch, juristisch und letztlich philosophisch.

Das kommt als Ansatz recht gewichtig daher, verliert sich dann aber zunehmend in der Wiederholung bereits sattsam bekannter Einsichten: So sei der erste Satz des Proceß-Romans im Kern eine derart doppelte Verneinung und stelle die behauptete Unschuld Josef K.s infrage. Josefines Pfeifen als Nicht-Pfeifen in der gleichnamigen Mäuse-Geschichte markiere ebenfalls einen „litotetischen Anfang“ und damit eine „raffiniert ausgelegte Deutungsfalle[ ].“ Und so fort. Neu ist das nicht, und zudem in der argumentativen Logik wenig zwingend gestaltet. Auch fällt auf, dass Mayer immer wieder in den von ihm diskreditierten Biographismus verfällt, was selbstverständlich problematisch ist, aber im Grunde nicht weiter negativ auffallen würde, würde Mayer nicht höchst selbst diese Deutungsperspektive so vehement kritisieren. So aber sei eben auch Kafkas Leben von litotetischen Mustern durchzogen, was bedeutet, dass er sich in wesentlichen und unwesentlichen Entscheidungen stets im Zwischenbereich der Alternativen befindet, ohne Stellung zu beziehen – das mag man im Jahre 2015 nun meinethalben litotetisch nennen, am bereits bekannten grundsätzlichen Gehalt ändert eine andere Etikettierung schließlich nichts.


Natürlich, Mayer selbst ist es, der an- und damit zugibt, dass die Litotes „keine Deutungshoheit beanspruchen“ kann, sondern definiert sie als eine Art „,Erprobungstaktikʻ, um weitere Prozesse […] sichtbar zu machen“, doch verbleiben diese angekündigten weiteren Prozesse letztlich im Herkömmlichen und vermögen keine neuen Einsichten zu erbringen. Bleibt die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, der durchaus interessanten Redefigur der Litotes anhand einer textnahen Untersuchung minutiös und kleinteilig auf die Spur zu kommen, anstatt direkt im ungestümen Gestus in die Romane, die Biographie und anderweitig große Probleme zu springen.




Anmerkungen

[1] Wagner, Benno: ‚Das ist ein schlechter Wundarzt …‘. Die Hilsner-Affäre und die Politik des Tabus bei Thomas G. Masaryk und Franz Kafka, in: Juliette Guilbaud/Nicolas Le Moigne/Thomas Lüttenberg, eds., Normes culturelles et construction de la déviance, Geneva 2005, 173-192.

[2] Neumann, Bernd: Franz Kafka und der Große Krieg. Eine kulturhistorische Chronik seines Schreibens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. S. 247ff.


© Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstveröffentlichung: http://goo.gl/8jQjIr

 

 



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