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Erzählen als höchste Stufe der Erkenntnis

von Friedrich Goedeking



Jiří Langer
Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim.
Erstmals vollständig aus dem Tschechischen von Kristina Kallert.
Mit einem Vorwort von František Langer.
Herausgegeben und mit einem Essay von Andreas Kilcher.
Bibliothek der Böhmischen Länder, Bd. 9, Arco Verlag, 2012
360 Seiten, Hardcover, Leinen, € 28,00; ISBN 978-3-938375-40-2
 









Der tschechisch-jüdische Autor František Langer beschreibt, wie sein Bruder Jiří Mordechai 1913 nach einem mehrmonatigen Aufenthalt bei den chassidischen Juden im galizischen Städtchen Belz nach Prag zurückkehrt: „Ich war entsetzt, als ich den Bruder sah. Er stand mir in einem schäbigen, kaftanähnlich geschnittenen schwarzen Rock gegenüber, der vom Kinn bis zum Boden reichte, und auf dem Kopf hatte er einen runden, breiten Hut aus schwarzem Plüsch, tief in den Nacken geschoben. Er stand gebeugt, Wangen und Kinn waren von einem rötlichen Bart überwachsen und vor den Ohren hing ihm das Haar in spiraligen Locken bis zu den Schultern.“ Die Familie ist schockiert. Der Vater hat es mit seinem Spirituosenhandel in den Königlichen Weinbergen zu Wohlstand und Ansehen gebracht.

Die jüdische Religion, die sein Vater als Dorfjude noch praktizierte, ist ihm als einem assimilierten Prager Juden fremd geworden. Er kleidet sich wie die nichtjüdischen Prager Bürger. Und nun muss er erleben, wie sein Sohn als Kaftan-Jude und mit Schläfenlocken wie ein Relikt aus der Zeit des jüdischen Ghettos durch Prag geht und zum Gespött der Leute wird.

Im Gegensatz zu Jiří fühlt sich Langers ältester Sohn František eng verbunden mit der tschechischen Kultur. Er gehört als Schriftsteller und Dramaturg bald zur geistigen Elite der jungen Republik und wird ein führender Vertreter des tschechischen Dramas in der Zwischenkriegszeit. Im Ersten Weltkrieg beweist er seine patriotische Gesinnung und wird Chefarzt des 1. Corps der Tschechoslowakischen Legion.
Jiří Langer besucht wie sein Bruder das tschechische Gymnasium. Doch mit fünfzehn Jahren bricht er die Schule ab, beginnt Hebräisch zu lernen und studiert intensiv religiöse jüdische Schriften. Mit neunzehn Jahren verlässt er heimlich Prag, um das Zentrum der chassidischen Bewegung in Belz kennenzulernen.
Insgesamt verbringt er vier Jahre unter den Chassidim („Fromme“) und wird ein Schüler des Belzer Wunderrabbis Rokeach. Als er 1918 nach Prag zurückkehrt, passt er sich zwar äußerlich dem westeuropäischen Lebensstil an, bleibt aber ein leidenschaftlicher Anhänger des Judentums. Zunächst hat ihn die chassidische Bewegung fasziniert, die mit ihrer Lebensfreude, dem Tanz, dem Gesang und der Ekstase die einfachen Leute anzieht. Unter der Anleitung eines Zaddik („Gerechten“), der als heiliger Lehrer verehrt wird, und durch die Einübung in mystische Erfahrungen wird jedem Frommen der Zugang zum Göttlichen eröffnet, nicht nur der Elite der Rabbiner mit ihren Gesetzesauslegungen und dogmatischen Lehren.


In seinen Schriften wirbt Jiří Langer unter den assimilierten Westjuden in Prag und bei den Nichtjuden für eine chassidisch-jüdische Tradition der Weisheit und Lebensfreude. Langer ist einer der ganz wenigen westlichen Intellektuellen, der die Welt der Chassidim persönlich erlebt hat. 1937 erscheint sein wichtigstes Werk Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim. Neun Tore durchwandert der Leser mit dem Erzähler und nach jedem Tor wird ein neues Geheimnis jüdischer Lebensweisheit aufgedeckt.
Erzählt wird von den Zaddikim, wobei nicht deren Lehren über Gott, die Schöpfung und die Auslegung der Gebote den Inhalt bilden, sondern deren praktische Frömmigkeit, ihre Bescheidenheit, ihr anspruchsloser Lebensstil, sowie ihre Tätigkeit als Wunderheiler. Für die Chassidim bildet das Erzählen die höchste Stufe der Erkenntnis, das mehr bewirken kann als Gebete oder das Befolgen der Gebote.
Das Erzählen gilt als eine heilige Handlung, die eine magische Wirkung auslösen kann. Wird zum Beispiel die Wundertat eines Heiligen erzählt, so kann durch das Erzählen das Wunder erneut seine Kraft entfalten. So erzählt ein Rabbi in einer chassidischen Geschichte von seinem Großvater, der alt und lahm war und aufgefordert wurde, von seinem berühmten Lehrer, dem Baalschem zu erzählen: „Und er erzählte, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt.“ Der Rabbi fügte hinzu: „So soll man Geschichten erzählen!“


Das verbindende Lachen
Wichtig ist Jiří Langer, dass seine Geschichten-Sammlungen Witz und Humor ausstrahlen. Die Ironie macht auch vor dem Göttlichen nicht halt. So wird von einem Chassidim erzählt, dass er eine Klage gegen Gott eingereicht habe. Als das Gericht darüber beraten will, stellt er den Antrag, dass Gott gefälligst den Raum verlassen solle. Die jüdischen Menschen zeichnen sich für Langer dadurch aus, dass sie über sich selbst lachen können. Das befähigt sie, die eigene Person und die eigene Ethnie in ihrer Bedeutung zu relativieren. Für Langer ist die Kunst der humorvollen Relativierung ein Mittel gegen nationale Überheblichkeit. Jede Form von Nationalismus ist ihm fremd. Er wirbt für den Austausch zwischen den Kulturen, für ein gleichberechtigtes Nebeneinander der hebräischen, tschechischen und deutschen Kultur in Böhmen. Er selbst verkörpert die kulturelle Vielfalt, indem er die Sprachen so perfekt beherrscht, dass er nicht nur auf Tschechisch, sondern auch auf Deutsch schreibt und als wohl letzter tschechischer Autor hebräische Gedichte verfasst.
Es geht ihm um ein interkulturelles Verstehen, das fähig ist, auch das Fremde zu tolerieren. Damit wendet er sich auch gegen den wachsenden Antisemitismus. Der gefeierte tschechische Schriftsteller Jan Neruda hatte bereits 1869 das Judentum als das total Fremde angeprangert, das unvereinbar sei mit der europäischen Kultur (in dem Pamphlet Die Angst vor dem Judentum - Pro strach židovský). Er hatte Tschechen, Slawen und Europäer zu einer Vereinigung gegen die Juden aufgerufen.

Jiří Langer würde sicher zu den Kritikern des von Samuel Huntington geprägten Slogans vom Kampf der Kulturen („Clash of civilizations“) gehören, der nach dessen Überzeugung zwischen der westlichen Welt auf der einen und dem Islam und China auf der anderen Seite ausgetragen wird. Langer war überzeugt, dass eine Rückbesinnung auf die jüdische Religion helfen könnte, eine Koexistenz der verschiedenen Kulturen zu ermöglichen. Das Spätjudentum habe sich der hellenistischen Welt geöffnet und genauso arabische Traditionen in sich aufgenommen. So habe es eine Brücke geschlagen zwischen der europäischen und der orientalischen Kultur. Jüdisches Denken und jüdische Weisheit könnten – so Langer – dazu beitragen, den Nationalismus zu überwinden und die Bereitschaft fördern, den Orient bis hin nach Indien und China als eine Bereicherung für die Europäer zu entdecken.
Jiří Langer ist wenige Tage vor seinem 49. Geburtstag als Emigrant in Tel Aviv gestorben, an den Nachwirkungen von Monate langen Strapazen auf der Flucht von Prag im Jahr 1939 über Bratislava bis nach Israel. Er war ein letzter Zeuge der chassidisch-jüdischen Glaubenswelt in Galizien, bevor sie dem Holocaust zum Opfer fiel. Sein wichtigstes Werk Die neun Tore liegt nun erstmals in einer vollständigen deutschen Übersetzung im Arco-Verlag vor.

Weiterführende Literatur:
Jiří Mordechai Langer: Die neun Tore. Geheimnisse der Chassidim. Aus dem Tschechischen von Kristina Kallert. Bibliothek der Böhmischen Länder (Band 9). Arco Verlag 2012. 360 Seiten. 28,00 Euro. ISBN 978-3-938375-40-2
Walter Koschmal: Der Dichternomade.Jiří Mordechai Langer – ein tschechisch-jüdischer Autor. Böhlau Verlag 2010. 408 Seiten. ISBN 978-3-412203-93-1

© Text mit freundlicher Genehmigung von Friedrich Goedeking


František Langer, *1888 in Prag; †1965 ebenda, war Militärarzt und ein erfolgreicher tschechischer Schriftsteller, Autor von Theaterstücken, Dramaturg, Essayist, Literaturkritiker und Publizist. Viele seiner Lustspiele und Komödien dienten als Filmvorlagen. In der Tschechoslowakei konnte er nach 1948 allerdings kaum noch publizieren.

Devět branNeun ToreNine Gates ist auch der Name eines seit 1999 alljährlich in Prag stattfindenden Festivals der tschechischen, jüdischen und deutschen Kultur (Juni/Juli).



 

© Fotos: Arco-Verlag; wgsebald.de; wikipedia.org

 

02.02.2013

 



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