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Noch einmal Ludvík Vaculík

Der Meister des geschliffenen Wortes

von Volker Strebel



 

Mit seinem Manifest der 2000 Worte im Sommer des dramatischen Jahres 1968 ist Ludvík Vaculík über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus berühmt geworden. Damals wurde unter der Führung des charismatischen Reformkommunisten Alexander Dubček der Versuch unternommen, das verkrustete politische System in der ČSSR zu reformieren. Die Schlagworte „Prager Frühling“ und „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mobilisierten in der damaligen Tschechoslowakei die Massen und gingen in die Weltpresse ein. Da der Druck der Gegner dieses Reformprozesses aus Moskau und Ostberlin immer deutlicher wurde, appellierte Ludvík Vaculík an die Prager Reformer wie auch an das tschechoslowakische Volk, sich jetzt nicht vom eingeschlagenen Kurs abbringen zu lassen. Wenige Wochen später erfolgte freilich die gewaltsame Niederschlagung des „Prager Frühlings“.

 

Im Rahmen der politischen Konsolidierung wurde 1969 unter der neuen Führung der von Gustáv Husák verantwortete Prozess der sogenannten „Normalisierung“ eingeleitet und Ludvík Vaculík, wie hunderttausend andere reformorientierte GenossInnen, aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.

1926 im mährischen Brumov geboren, erlernt Ludvík Vaculík zunächst das Schuhmacher-Handwerk. Seine Herkunft aus der ostmährischen Walachei leugnet Vaculík nie: „Entstanden bin ich in Mähren, leben tu ich in Böhmen in Prag, begraben wird man mich wieder in Mähren: Daheim ist daheim!“ Die Herkunft aus einfachen Verhältnissen prägt seine Mentalität als lebenslustiger Mensch mit einer Bindung zum ländlichen Leben – bei festlichen Anlässen tritt Vaculík auch mal in der landesüblichen Tracht auf.

Wenn ihn abstrakte Diskussionen zu langweilen beginnen, weicht er gerne in ein Gespräch über Gärten aus. Damit irritiert er auch und gerade in den bleiernen 1970er- und 1980er-Jahren zuweilen die Beamten der Staatssicherheit, die ihn immer wieder zu Verhören vorladen. Und Vaculík wiederum greift derlei groteske Situationen auf, um darüber einen neuen Text für das Feuilleton zu schreiben – stets geschliffen und pointiert, versteht sich.

 

       

Der tschechisches Samisdat

 

Verlag hinter Schloss und Riegel

 

Jan Skácel

 

Bereits seit den 1960er-Jahren gehören Vaculíks Erzählungen, Glossen und Romane wie Das Beil, Die Meerschweinchen (s. hier unter: Ludvik Vaculik) oder Tagträume zu den Zeugnissen eigenständiger Stimmen in der Tschechischen Literatur. Da er, wie die allermeisten der besten tschechoslowakischen SchriftstellerInnen, während der zwanzig Jahre anhaltenden Phase der Normalisierung von der Öffentlichkeit seines Landes abgeschnitten ist, gründete Vaculík kurzerhand seinen eigenen Verlag. Die edice petlice / Edition hinter Schloss und Riegel stellt eine Publikationsform im Untergrund dar, die von Hand zu Hand, auf Schreibmaschinen abgetippt, weitergegeben wird. An die vierhundert Titel erscheinen auf diese Weise im sogenannten Samisdat. 


„Heute sieht das natürlich aus wie ein Werk von nationaler Größe, ein Werk des Widerstandes. Aber entstanden ist es doch vor allem aus ganz gewöhnlichem und vielleicht sogar kindischem Trotz.“


Auch nach der Samtenen Revolution von 1989 büßt Vaculík sein Temperament als Querdenker und Tabubrecher nicht ein. Wiederholt wendet er sich gegen das Unrecht der Vertreibung der sog. sudetendeutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei. Dass das reformkommunistische Ringen um mehr Bürgerrechte und Freiheiten in der heutigen Zeit ausgerechnet von Persönlichkeiten kleingeredet wird, die in den schweren Jahren angepasst oder gar als Zuträger über die Runden gekommen sind, hat ihn verbittert.

Bis zuletzt kämpft er in seinen regelmäßig erscheinenden Kolumnen des Literárny noviny unermüdlich gegen die Mischung aus Ahnungslosigkeit und Zynismus, die sein Land heute in weitem Maße bestimmt.


Ich habe meine Ansicht über den Charakter, die Entwicklung und das Verhalten einer jeden Macht dargelegt, und ich habe mich bemüht, nachzuweisen, dass die Kontrollmechanismen, die der Staat dagegen hat, versagen, so dass der Bürger die Achtung vor sich selbst verliert .


Am 6. Juni 2015 ist Ludvík Vaculík im Alter von achtundachtzig Jahren in Dobřichovice bei Prag gestorben. Mit seinem Namen sind der Prager Frühling, die Charta 77 und der tschechische Samisdat untrennbar miteinander verbunden. Viele seiner Texte sind leider nicht ins Deutsche übersetzt oder werden nicht mehr aufgelegt.



© Mit freundlicher Genehmigung des Autors; Erstveröffentlichung: http://goo.gl/ID2EvK; Fotos: novinky.cz; ludvikvaculík.cz

 

Eine Übersicht über Leben und Werk (ins Deutsche übersetzt und im Buchhandel erhältlich) bietet Ludvik Vaculik

 

 

   

Gespräch über Frösche, Kaulquappen oder Funktionäre?

 

Auf der Suche nach dem neuen Frühling?

 © Fotos: J. Zéman; lidovky.cz



Das vom Schriftsteller Ludvík Vaculík verfasste Manifest der 2000 Worte gehört zu den Schlüsseltexten des Prager Frühlings. Veröffentlicht im Juni 1968 in der Zeitschrift Literární listy und drei weiteren Tageszeitungen, war der Aufruf nicht unumstritten. Selbst den Reformern in der Kommunistischen Partei galt er – zumindest offiziell – als unverantwortlich. Unter der Bevölkerung stießen die von siebzig Wissenschaftlern, Arbeitern und Künstlern unterzeichneten Dva tisíce slov dagegen auf viel Zustimmung. Hier eine leicht gekürzte Fassung.





Erst bedrohte der Krieg das Leben unserer Nation. Dann kamen weitere schlechte Zeiten mit Ereignissen, die ihre seelische Gesundheit und ihren Charakter bedrohten. Mit Hoffnungen hatte die Mehrheit der Nation das Programm des Sozialismus angenommen. Dessen Leitung geriet jedoch in die Hände unrechter Leute. Es hätte nicht so sehr geschadet, dass sie nicht genügend staatsmännische Erfahrungen, sachliche Kenntnisse und philosophische Bildung besaßen, wenn sie wenigstens mehr gewöhnliche Weisheit und anstand gehabt hätten, die Meinung anderer anhören zu können, und ihre schrittweise Ablösung durch fähigere zugelassen hätten.

Die Kommunistische Partei, die nach dem Krieg das große Vertrauen der Menschen genoss, tauschte dieses Vertrauen allmählich gegen Ämter ein, bis sie alle bekam und nichts anderes mehr hatte. Wir müssen das so sagen und das wissen auch jene Kommunisten unter uns, deren Enttäuschung über die Ergebnisse ebenso groß ist wie die Enttäuschung der Übrigen. Die fehlerhafte Linie der Führung hat die Partei aus einer politischen Partei und einem von einer Idee durchdrungenen Bund in eine Machtorganisation verwandelt, die große Anziehungskraft auf herrschsüchtige Egoisten gewann, auf neiderfüllte Feiglinge und auf Leute mit schlechtem Gewissen. Ihr Zustrom beeinflusste Charakter wie Verhalten der Partei, die im Inneren nicht so eingerichtet war, dass in ihr ohne beschämende Vorfälle ordentliche Menschen hätten Einfluss gewinnen können, die sie stetig gewandelt hätten, damit sie jederzeit in die moderne Welt passt. Viele Kommunisten bekämpften diesen Verfall, es misslang ihnen jedoch, irgend etwas davon zu verhindern, was geschehen ist.

Die Verhältnisse in der Kommunistischen Partei waren das Modell und die Ursache der gleichen Verhältnisse im Staat. Ihre Verbindung mit dem Staat führte dazu, dass sie den Vorteil des Abstandes von der ausübenden Macht einbüßte. Die Tätigkeit des Staates und der Wirtschaftsorganisationen unterlagen keiner Kritik. Das Parlament verlernte zu beraten, die Regierung zu regieren und die Direktoren zu leiten. Die Wahlen hatten keine Bedeutung, die Gesetze verloren ihr Gewicht. Wir konnten unseren Vertretern in keinem Ausschuss vertrauen, und wenn wir das konnten, ließ sich von ihnen wiederum nichts verlangen, weil sie nichts erreichen konnten. Noch schlimmer war jedoch, dass wir einander persönlich beinahe nicht mehr vertrauen konnten. Die persönliche und kollektive Ehre verfiel. Ehrlich währte nicht mehr am längsten und von irgendeiner Wertung nach der Fähigkeit konnte nicht die Rede sein. Darum verloren die meisten Leute das Interesse für öffentliche Dinge und kümmerten sich nur um sich selbst und ums Geld, wobei zu den schlechten Verhältnissen auch gehört, dass nicht einmal aufs Geld heutzutage Verlass ist. Die Beziehungen zwischen den Menschen verkamen, die Freude an der Arbeit verflüchtigte sich, kurzum, über die Nation brachen Zeiten herein, die ihre seelische Gesundheit und ihren Charakter gefährdeten.


Für den heutigen Zustand sind wir alle verantwortlich, mehr jedoch die Kommunisten unter uns, die Hauptverantwortung aber tragen jene, die Bestandteil oder Instrument der unkontrollierten Macht waren. Es war das die Macht einer eigensinnigen Gruppe, die sich mit Hilfe des Parteiapparates von Prag aus bis in jeden Bezirk und in jede Gemeinde erstreckte. Dieser Apparat entschied, wer was tun und nicht tun durfte, er leitete für die Genossenschaftler die Genossenschaften, für die Arbeiter die Betriebe, für die Bürger die Nationalausschüsse. Keine Organisation, nicht einmal eine kommunistische, gehörte in Wirklichkeit ihren Mitgliedern. Die Hauptschuld und der allergrößte Betrug dieser Herrscher ist, dass sie ihre Willkür für den Willen der Arbeiterschaft ausgaben. Wollten wir diese Vorspiegelung glauben, so müssten wir heute der Arbeiterschaft die Schuld am Niedergang unserer Wirtschaft zusprechen, an den an schuldlosen Menschen verübten Verbrechen, an der Einführung der Zensur, die verhinderte, dass man über all dies schreiben konnte, dann wären die Arbeiter schuld an den Fehlinvestitionen, an den Verlusten des Handels, am Wohnungsmangel. Kein vernünftiger Mensch wird selbstverständlich an eine solche Schuld der Arbeiterschaft glauben. Wir alle wissen, insbesondere jeder Arbeiter, dass die Arbeiterschaft praktisch nichts entschied. Über die Arbeiterfunktionäre ließ jemand anderer abstimmen. Während viele Arbeiter meinten, sie regierten, regierte in ihrem Namen eine eigens erzogene Schicht von Funktionären des Partei- und Staatsapparates. Diese nahmen faktisch den Platz der gestürzten Klasse ein und wurden selbst zur neuen Obrigkeit. gerechterweise wollen wir jedoch sagen, dass sich manche von ihnen dieses üble Spiel der Geschichte seit langem vergegenwärtigten. Wir erkennen sie heute daran, dass sie unrecht wiedergutmachen, Fehler berichtigen, die Entscheidungsgewalt der Mitgliedschaft und den Bürgern zurückerstatten, die Vollmacht und den zahlenmäßigen Stand des Beamtenapparates einschränken. Mit uns wenden sie sich gegen rückständige Ansichten innerhalb der Parteimitgliedschaft. Aber ein großer Teil der Funktionäre sträubt sich gegen Veränderungen und hat noch immer Gewicht! Noch immer hält er Machtmittel in den Händen, insbesondere in den Bezirken und Gemeinden, wo er sie insgeheim und unbelangbar anwenden kann.


Seit Beginn des Jahres befinden wir uns im Erneuerungsprozess der Demokratisierung. Er hat in der Kommunistischen Partei begonnen. Wir müssen das sagen, und das wissen auch die Nichtkommunisten unter uns, die von dort nichts Gutes mehr erwartet hatten. Ergänzen muss man allerdings, dass dieser Prozess auch nirgendwo anders beginnen konnte. Konnten doch nur die Kommunisten volle zwanzig Jahre lang eine Art politisches Leben führen, war doch nur die kommunistische Kritik dort, wo die Dinge gemacht wurden, hatte doch nur die Opposition in der Kommunistischen Partei das Vorrecht, mit dem Gegner in Fühlung zu stehen. Darum sind die Initiative und die Bemühungen der demokratischen Kommunisten nur eine Abzahlung auf die Schuld, die die gesamte Partei gegenüber den Nichtkommunisten trägt, die sie in einer keineswegs gleichberechtigten Stellung erhalten hat. Der Kommunistischen Partei gebührt somit Dank, zugestanden werden muss ihr vielleicht werden, dass sie sich ehrlich bemüht, die letzte Gelegenheit wahrzunehmen, um ihre Ehre und die Ehre der Nation zu retten. Der Erneuerungsprozess kommt mit nichts, was allzu neu wäre. Er bringt Gedanken und Themen, von denen viele älter sind als die Irrtümer unseres Sozialismus und andere unter der Oberfläche der sichtbaren Geschehnisse entstanden, die längst hätten ausgesprochen werden sollen, aber unterdrückt wurden. Hegen wir nicht die Illusion, dass diese Gedanken jetzt durch die Kraft der Wahrheit siegen. Über ihren Sieg hat eher die Schwäche der alten Führung entschieden, die offensichtlich erst durch zwanzigjährige Herrschaft ermüden musste, an der sie niemand hinderte. Sichtlich mussten alle fehlerhaften Elemente voll ausreifen, die bereits in den Grundlagen und in der Ideologie dieses Systems verborgen lagen. Überschätzen wir darum nicht die Bedeutung der Kritik aus den Reihen der Schriftsteller und Studenten, Quelle der gesellschaftlichen Veränderungen ist die Wirtschaft. Ein richtiges Wort hat nur dann Bedeutung, wenn es unter Verhältnissen ausgesprochen wird, die schon richtig bearbeitet sind. Richtig bearbeitete Verhältnisse – darunter muss man bei uns leider unsere gesamte Armseligkeit und den gänzlichen Zerfall des alten Herrschaftssystems verstehen, in dem sich in Ruhe und Frieden Politiker eines gewissen Typs auf unsere Kosten kompromittierten. Die Wahrheit siegt somit nicht, die Wahrheit bleibt einfach übrig, wenn man alles sonstige verschleudert! Darum besteht kein Anlass zu nationalem Siegesjubel, nur Grund zu neuer Hoffnung.

Wir wenden uns an Euch in diesem Augenblick der Hoffnung, die jedoch ständig gefährdet ist. Es hat mehrere Monate gedauert, bis viele von uns das Vertrauen gewannen, dass sie frei sprechen können, viele aber glauben das nicht einmal jetzt. Doch wir haben endlich so gesprochen und uns soweit enthüllt, dass wir unsere Absicht, dieses Regime zu vermenschlichen, einzig und allein vollenden müssen. Sonst würden die alten Kräfte grausam Vergeltung üben. Wir wenden uns vor allem an jene, die bisher nur abgewartet haben. Die Zeit, die anbricht, wird für viele Jahre entscheidend sein.



Die Zeit, die anbricht, ist ein Sommer mit Ferien und Urlaub, in dem wir nach altem Brauch Lust haben werden, alles stehen- und liegenzulassen. Wetten wir jedoch, dass sich unsere lieben Gegner keine Sommerfrische gönnen werden, sie werden die ihnen verpflichteten Leute mobilisieren und sich schon jetzt ruhige Weihnachtsfeiertage verschaffen wollen! Passen wir darum auf, was geschehen wird, suchen wir es zu verstehen und zu antworten. Geben wir die unmögliche Forderung auf, dass uns stets irgendein Höherer zu den Dingen eine einzige Auslegung und eine einzige einfache Schlussfolgerung liefert. Jeder wird seine Schlussfolgerungen selber ziehen müssen, auf eigene Verantwortung. Gemeinsame übereinstimmende Schlussfolgerungen kann man nur in einer Diskussion ermitteln, zu der man jene Freiheit des Wortes benötigt, die eigentlich unsere einzige demokratische Errungenschaft dieses Jahres ist.

In die nächsten Tage müssen wir jedoch mit eigener Initiative und mit eigenen Entschlüssen gehen.

Vor allem werden wir, falls sie auftauchen sollten, Ansichten entgegentreten, dass es möglich sei, irgendeine demokratische Wiedergeburt ohne die Kommunisten vorzunehmen, gegebenenfalls sogar gegen sie. Das wäre ungerecht, aber auch unvernünftig. Die Kommunisten haben ausgebaute Organisationen, in denen man den fortschrittlichen Flügel unterstützen muss. Sie besitzen erfahrene Funktionäre, sie haben schließlich ständig die entscheidenden Hebel und Drücker in ihren Händen. Vor der Öffentlichkeit steht jedoch ihr Aktionsprogramm, das auch das Programm des ersten Ausgleichs der größten Ungleichheit ist, und niemand anderer hat irgendein ebenso konkretes Programm. Man muss verlangen, dass sie mit ihren örtlichen Aktionsprogrammen in jedem Bezirk und in jeder Gemeinde vor die Öffentlichkeit treten. Hier wird es plötzlich um sehr einfache und schon lange erwartete richtige Taten gehen. Die KPC bereitet sich auf den Parteitag vor, der ein neues Zentralkomitee wählen wird. Fordern wir, dass es ein besseres sei als das jetzige. Wenn die Kommunistische Partei heute sagt, dass sie künftig ihre führende Stellung auf das Vertrauen der Bürger stützen will und nicht auf Gewalt, so lasst uns das glauben, sofern wir den Leuten glauben können, die sie schon jetzt als Delegierte auf die Bezirks- und Kreiskonferenzen entsendet.

In letzter Zeit sind die Leute beunruhigt, der Fortschritt der Demokratisierung könnte zum Stillstand gekommen sein. Dieses Gefühl ist teils eine Ermüdungserscheinung infolge des bewegten Geschehens, teils entspricht es einer Tatsache: Eine Saison voller überraschender Enthüllungen, hoher Demissionen und berauschender Reden von nie dagewesener Kühnheit ist abgelaufen. Das Ringen der Kräfte hat sich jedoch nur einigermaßen verborgen, man kämpft um den Inhalt und Wortlaut von Gesetzen, um den Umfang praktischer Maßnahmen. Außerdem müssen wir den neuen Leuten, den Ministern, Staatsanwälten, Vorsitzenden und Sekretären Zeit zur Arbeit vergönnen. Sie haben ein Anrecht auf diese Zeit, damit sie sich entweder bewähren oder unmöglich machen können. Darüber hinaus kann man in den zentralen politischen Organen heute nicht mehr erwarten. Ohnedies haben sie unwillkürlich bewundernswerte Tugenden bezeigt.

Die praktische Qualität der zukünftigen Demokratie hängt jetzt davon ab, was mit den Unternehmen und in den Unternehmen geschehen wird. Bei allen unseren Diskussionen haben uns schließlich die Wirtschaftler in der Hand. Gute Wirtschaftler muss man suchen und durchsetzen. Es ist wahr, dass wir alle im Vergleich mit den entwickelten Ländern schlecht bezahlt sind und manche noch schlechter. Wir können mehr Geld fordern, das sich drucken und damit entwerten lässt. Fordern wir jedoch lieber von den Direktoren und Vorsitzenden, dass sie uns darlegen, was und für wieviel Geld sie herstellen wollen, wieviel man verdienen wird, was davon man zur Modernisierung der Produktion anlegen wird und was man verteilen kann. Unter scheinbar langweiligen Überschriften verläuft in den Zeitungen der Widerhall eines überaus harten Kampfes um die Demokratie oder um Futtertröge. In ihn können die Arbeiter als Unternehmer dadurch eingreifen, wen sie in die Verwaltungen der Unternehmen und in die Werksräte wählen werden. Als Angestellte können sie für sich am besten handeln, wenn sie als ihre Vertreter in die Gewerkschaftsorgane ihre natürlichen Führer wählen, fähige und ehrenhafte Menschen ohne Rücksicht auf ihre Parteizugehörigkeit.

Wenn zur Zeit von den gegenwärtigen zentralen politischen Organen nicht mehr zu erwarten ist, gilt es mehr in den Bezirken und Gemeinden zu erreichen. Fordern wir den Abgang der Leute, die ihre Macht missbraucht, das öffentliche Eigentum geschädigt, ehrlos oder grausam gehandelt haben. Man muss Methoden ausfindig machen, ums sie zum Abgang zu veranlassen. Zum Beispiel: Öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, demonstrative Arbeitsbrigaden. Spendensammlung für ihren Abgang in den Ruhestand, Streik, Boykott ihrer Türen. Abzulehnen sind jedoch ungesetzliche, unanständige und grobe Methoden, da sie diese zur Beeinflussung Alexander Dubceks ausnützen würden. Unsere Abscheu gegen das Schreiben grober Briefe muss derart allgemein sein, dass man jeden derartigen Brief, den sie noch erhalten werden, als einen Brief betrachten kann, den sie sich selber haben zuschicken lassen. Beleben wir die Tätigkeit der Nationalen Front. Fordern wir öffentliche Sitzungen der Nationalausschüsse. Für Fragen, mit denen niemand etwas zu schaffen haben will, bilden wir eigene Bürgerausschüsse und -kommissionen. Das ist ganz einfach: Ein paar Leute kommen zusammen, wählen ihren Vorsitzenden, führen ordnungsgemäß Protokoll, veröffentlichen ihren Befunde, fordern eine Lösung, lassen sich nicht einschüchtern. Verwandeln wir die Bezirks- und Ortspresse, die meist zu einem amtlichen Sprachroh degeneriert ist, in eine Tribüne aller positiven politischen Kräfte, fordern wir die Bildung von Redaktionsräten aus Vertretern der Nationalen Front oder gründen wir andere Zeitungen. Bilden wir Ausschüsse zur Verteidigung der Freiheit des Wortes. Organisieren wir bei unseren Versammlungen einen eigenen Ordnungsdienst. Sollten wir Gerüchte hören, so lasst uns sie beglaubigen, entsenden wir Delegationen zu den zuständigen Stellen, veröffentlichen wir unsere antworten, etwa durch Anschlag am Tor. Unterstützen wir die Sicherheitsorgane, wenn sie wirkliche Straftaten verfolgen, unser Streben geht nicht dahin, Anarchie und einen Zustand allgemeiner Unsicherheit herbeizuführen. Vermeiden wir nachbarlichen Zank, ergehen wir uns nicht in politischen Vermutungen! Enthüllen wir Spitzel!


Die belebte sommerliche Bewegung in der gesamten Republik wird Interesse für die Regelung der staatsrechtlichen Verhältnisse zwischen Tschechen und Slowaken hervorrufen. Wir erachten die Föderalisierung als eine Art und Weise, die nationale Frage zu lösen, ansonsten ist sie nur eine der bedeutsamen Maßnahmen zur Demokratisierung der Verhältnisse. Diese Maßnahme an und für sich muss auch den Slowaken noch kein besseres Leben bringen. Das Regime – gesondert in den tschechischen Ländern und gesondert in der Slowakei – wird dadurch noch nicht geregelt. Die Herrschaft der parteilich-staatlichen Bürokratie kann weiterbestehen, in der Slowakei sogar um so eher, weil sie gewissermaßen „größere Freiheit erkämpft hat“.

Große Beunruhigung geht in letzter Zeit von der Möglichkeit aus, dass ausländische Kräfte in unsere Entwicklung eingreifen könnten. Angesichts jeglicher Übermacht können wir einzig und allein anständig auf unserem Standpunkt beharren und mit niemandem Streit vom Zaun brechen. Unserer Regierung können wir zu verstehen geben, dass wir notfalls mit der Waffe hinter ihr stehen werden, solange sie das tun wird, wofür wir ihr unser Mandat geben werden, und unseren Verbündeten können wir versichern, dass wir unsere Bündnis-, Freundschafts- und Wirtschaftsverträge einhalten werden. Unsere gereizten Vorwürfe und unbelegten Verdächtigungen müssen die Stellung unserer Regierung nur erschweren, ohne uns zu helfen. Gleichberechtigte Beziehungen können wir uns ohnehin einzig und allein dadurch sichern, dass wir unsere inneren Zustände qualitativ verbessern und unseren Erneuerungsprozess so weit führen, dass wir durch Wahlen Staatsmänner erwählen, die soviel Standhaftigkeit, Ehre und politisches Können besitzen werden, um solche Beziehungen herzustellen und aufrechtzuerhalten. Das ist übrigens ein Problem durchweg aller Regierungen sämtlicher kleineren Staaten der Welt!

In diesem Frühling ist von neuem wie nach dem Krieg eine große Chance zu uns zurückgekehrt. Von neuem haben wir die Möglichkeit, unsere gemeinsame Sache in die Hände zu nehmen, die den Arbeitstitel Sozialismus trägt, und ihr eine Gestalt zu verleihen, die unserem einst guten Ruf und der verhältnismäßig guten Meinung entspräche, die wir ursprünglich von uns hatten. Dieser Frühling ist soeben zu Ende gegangen und wir nie wiederkehren. Im Winter werden wir alles erfahren.

Damit endet dieser unser Aufruf an die Arbeiter, Bauern, Angestellten, Künstler, Wissenschaftler, Techniker und an alle. Geschrieben wurde er auf Anregung der Wissenschaftler.



© Jan Vaculík, ludvikvaculik.cz



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