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Apokalypse am Fluss

von Katja Schickel


 

Helon Habila – Öl auf Wasser

Kriminalroman
240 S., geb., Das Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2012
24,80 Euro, ISBN 9783884233917



 

(auch bei Büchergilde Gutenberg erhältlich)







Port Hartcourt, Nigeria, im Delta des Niger. Eine Frau verschwindet. Dies wäre keine Nachricht in den Medien wert, würde es sich nicht um eine Britin, die Ehefrau eines hochrangigen Mitarbeiters einer ausländischen Ölgesellschaft, die im Delta und vor der Küste Öl bohren, handeln.

Es ist eine reale Katastrophe, auf der Helon Habilas Roman Öl auf Wasser basiert: Seit fünfzig Jahren fördern hier ausländische Konzerne das leicht zu raffinierende nigerianische Öl. Nach Schätzung von Umweltschützern sind seither bis zu zwei Milliarden Liter davon ins Niger-Delta geflossen. Schwarzes Rohöl verpestet die Sümpfe, die Mangroven und Wasserläufe im Niger-Delta und gefährdet das Leben seiner Bewohner.


Keine andere Lesung auf der ilb 2013 hat mehr aufgewühlt als die als Krimi getarnte schonungslose Offenlegung einer auch von Autofahrern mitverschuldeten, entsetzlichen Umwelt- und sozialen Katastrophe im Niger-Delta. Der Polit-Thriller basiert auf Tatsachen, nämlich der von internationalen Großkonzernen verursachten gigantischen Ölpest, die nicht nur die Natur, die Tier- und Pflanzenwelt, sondern auch das Leben von rund dreißig Millionen Menschen bedroht. Es ist ein wahr gewordener Alptraum, eine Apokalypse mitten im „Herz der Finsternis“, die sich aus Umweltzerstörung, Ausbeutung, Korruption, Gewalt und Kriminalität speist. Ken Saro-Wiwa, Aktivist und Schriftsteller hatte bereits in den 1980er Jahren auf die verheerenden Auswirkungen, vor allem im Ogoni-Land hingewiesen, was in den Niederlanden zu ersten Protesten gegen Shell führte, wurde jedoch in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aufgrund des Imageschadens und der Konflikte im westlichen Teil des Niger-Deltas hat sich Shell 2006 zumindest nominell aus diesem Gebiet zurückgezogen.



 

Das Niger-Delta ist das Mündungsdelta des Nigers in Nigeria. Der westafrikanische Fluss Niger mündet westlich der Stadt Port Harcourt in den südwestlich gelegenen Golf von Guinea, der Teil des Südatlantiks ist. Die Fläche des Deltas beträgt ungefähr 70.000 km²seine Breite über 200 Kilometer.Aus fünftausend Bohrquellen und siebentausend Kilometern Rohrleitungen werden im Delta pro Tag mehr als zwei Millionen Fass Öl gefördert. Heute sind noch Chevron, ExxonMobil und Total maßgeblich an der Ölförderung und damit am Raubbau beteiligt. An Erneuerung und Sicherheitsstandards wird gespart. Durch die Verschmutzung von Luft, Gewässern und Böden sank die Lebenserwartung der Bevölkerung signifikant um etwa zehn Jahre, wichtige Lebensgrundlagen (landwirtschaftliche Flächen, für Fischerei genutzte Gewässer) der Bevölkerung wurden zerstört. Die Rebellengruppe Movement for the Emancipation of the Niger Delta kämpft seit Anfang 2006 um die Kontrolle der einheimischen Minderheiten über das Niger-Delta. Die größte Minderheit im Niger-Delta bildet das Volk der Ijaw, viele Angehörige des Volksstammes sind rebellisch und versuchen, sich gegen ihre Ausbeutung zu wehren. Wie viele andere Minderheiten halten sie sich erfolgreich in den Mangrovensümpfen versteckt. Die Ölfelder im Ogoniland liegen heute aufgrund verschiedener Kämpfe zum Teil brach. Im Niger-Delta gibt es immer wieder Sabotagen und Entführungen sowie Vergeltungsschlägen von Seiten der Regierung. 


Das ist das Szenario, das Habila vorfindet und einbettet in einen Roman, der zunächst mit kühler Präzision und Sachlichkeit seine beiden Protagonisten vorstellt, den nach Erfolg gierenden, gleichwohl unerschrockenen Journalisten Rufus und seinen kranken Kollegen Zaq, der als Reporter-Legende gehandelt wird. Beide wollen den ultimativen scoop landen, als sie von der Entführung einer Engländerin erfahren und den Auftrag erhalten, diese zu finden. Nur die Sorge um die weiße Lady führt die beiden Männer von sehr unterschiedlichem Charakter und Temperament in Gegenden, die sie ansonsten nicht aufgesucht hätten. 

 


Dschungel, Sumpf, Fäulnis – das sind rund um Port Harcourt nicht bloß Metaphern für Krieg und Korruption. Dreck und Gestank bilden mit teuren und billigen Parfüms und Rasierwässern, Drogen und Alkohol eine unerträgliche Mixtur menschlicher Schwäche und Hybris, Bedrängnis und Gewalt liegen buchstäblich in der Luft. Profiteure und Widerständler werden vorgestellt, in ihrem Habitus, mit ihren Denkungsarten. Habila findet Bilder und Szenen für die allgegenwärtige Bedrohung und verwandelt sie in Farben, Gerüche und Klänge, poetisch und surreal zugleich. Jeder Dialog ist doppelbödig, jeder Schritt führt in ein noch schrecklicheres Szenario, von teuren Villen über Slums in die Folterkeller des Regimes.Aus diesen scheinbar antagonistischen Schauplätzen ist die irdische, ganz und gar reale Hölle gemacht. Stilistisch brillant erzählt Henon Habila vom alltäglichen Raubbau an Mensch und Natur, an deren Seelen, wenn man so will – 

und wie beiläufig erfahren wir, wohin der Drang nach immer mehr Wachstum und Fortschritt führt, weil oder solange wir glauben, dass es doch nicht wir sind, die sich die Hände schmutzig machen. Spannend und aufrüttelnd!

 



© Texte: Katja Schickel; wikipedia. Fotos: amnesty-international.com; greenpeace.org; Reuters

 


Helon Ngalabak Habila, *1967 in Kaltungo, heute Gombe State, Nigeria ist Schriftsteller, Dichter und Dozent für Literatur. Mit sieben Geschwistern in einer christlichen Familie aufgewachsen, studierte er Englische Literatur, wurde Dozent und Journalist. 1992 veröffentlichte er die Kurzgeschichte Embrace of the Snake und 1997 eine Biographie über den Häuptling Mai Kaltungo, 2000 den Erzählungsband Prison Stories. Für die Kurzgeschichte Love Poems erhielt er den Caine Prize for African Writing. Zur Preisverleihung reiste er zum ersten Mal ins Ausland. Sein erster Roman Waiting for an Angel (2003) erzählt die Geschichte eines Schriftstellers, der in Nigeria in den 1990er Jahren ins Gefängnis gesperrt wird. Measuring Time (2007) ist ein Roman über eine Familie in einem nigerianischen Dorf. 2010 erschien Öl auf Wasser.Literarisch beeinflusst haben ihn nach eigener Aussage: die NigerianerChinua Achebe und Wole SoyinkaNgugi wa Thiongo aus Kenia und Bessie Head aus Botswana. Er unterrichtet Creative Writing an der George Mason University in Fairfax, USA, wo er mittlerweile mit seiner Familie lebt.


 

22.12.2013 

 

Nachtrag

Was im Niger-Delta längst geschieht, könnte im ältesten Nationalpark Afrikas – Virunga – bald Realität werden. Geplante Ölbohrungen bedrohen das UNESCO-Weltnaturerbe. In seiner atemberaubenden Landschaft leben Gorillas, Elefanten und Okapis. Hier gibt es mehr seltene Tier und Pflanzenarten, als in allen anderen afrikanischen Naturschutzgebieten. Nun will der britische Ölkonzern SOCO hier nach Öl bohren und gefährdet damit die Zukunft des gesamten Nationalparks und auch die Lebensgrundlage vieler Menschen. Weitere Infos und eine Petition unter:
http://www.wwf.de/themen-projekte/projektregionen/virunga/erdoelfoerderung-in-virunga/

 

©Virunga Nationalpark. Brent Stirton, Getty Images 

 



 



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