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2011 wurde mit einem europäischen Projekt an den 100. Geburtstags des polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz erinnert, Anfang Dezember 2011 die deutsch-polnische Publikation

Briefe an Milosz im Polnischen Institut Berlin - Filiale Leipzig vorgestellt.

Der Band enthält Essays unter anderen von Ihar Babkou (Belarus), Artur Becker (Deutschland/Polen), Peter Haffner (Schweiz), Drago Jančar (Slowenien), Aljalsandr Lukašuk (Belarus), Pedrag Matvejević (Italien/Kroatien), Pierre Pachet (Frankreich), Donatas Petrošius (Litauen), Ostap Slyvynsky Ukraine) und Igor Stokfiszewski (Polen) – jeweils in der Originalsprache und in deutscher Übersetzung. Wir stellen den tschechischen Beitrag vor:


 

 

 

Petra Hůlová

Brief an Miłosz (Letter to Miłosz)

Essay 2011

dt. Übersetzung: Doris Kouba


 

Sehr geehrter Herr Miłosz,


 

es war ein Sommermorgen, etwa vier oder fünf Uhr früh. Die Luft wie Email im Inneren einer Muschel, rosa und grau sich wandelnd, so schreiben Sie im Jahr 1958 in Ihrem Essay „West und Östliches Gelände“. Email und nicht E-Mail, ich weiß. Die Zeiten ändern sich. Ich sehe Sie vor mir, wie Sie einem echten Franzosen gleich in einem gemütlichen kleinen Restaurant am Montmartre sitzen und – eine weiße Serviette auf dem Knie – eine Muschel nach der anderen öffnen. Nicht ganz dreißig Jahre später, im Sommer 1987, sammle ich mit meinen Eltern Muscheln am verdreckten Strand der grauen Ostsee. Unter den Wolken ist es kühl und der einzige Imbiss weit und breit serviert nur mehlige polnische Bratwürste. Im Hotel gibt es zum Frühstück warme Milchsuppe, und meiner Schwester und mir dreht sich jedes Mal der Magen um.

Sie schreiben, dass Sie 1931 von Prag, Ihrer ersten westeuropäischen Metropole, von seiner perlenden Luft, dem Lachen und der Musik ganz berauscht waren. Angeblich hatten Sie große Lust, diese Wärme und umarmende Menschlichkeit voll und ganz in sich aufzunehmen. Sie waren zwanzig Jahre alt, und als schüchterner Jurastudent an der Wilnaer Universität kannten Sie eigentlich nur Litauen. Die damalige Reise – mit Ihren Freunden haben Sie sich in Prag ein Kanu gekauft, um vom Bodensee über den Rhein bis kurz vor Paris zu paddeln – war diese Reise Ihre Idee? Sie schreiben nur, der Plan sei der folgende gewesen, Doppelpunkt. Und trotzdem widmen Sie in Ihrem „West und Östlichen Gelände“ ausgerechnet diesem relativ kurzen Ausflug Richtung Westen beachtliche fünfzehn Seiten. Zum ersten Mal draußen, wie wir im Osten gesagt haben, ist eine Erinnerung, die einem fürs ganze Leben bleibt, da haben Sie völlig Recht. (Meinen großen regenbogenfarbenen Ball von der Wiener Mariahilferstraße, den ich mit Zehn bekommen habe, werde ich nie vergessen. Man schrieb das Jahr 1990, die Grenzen waren offen und vor den Wiener Geschäften hing ein Schild mit der Aufschrift: Tschechen, nicht stehlen.)

Es freut mich, dass Sie ausgerechnet Prag als Ihre erste westeuropäische Metropole bezeichnen. Wir hier sind uns nie westlich vorgekommen. Zumindest nicht, soweit ich mich erinnern kann. Wir waren höchstens Mitteleuropa, häufig jedoch nur der Osten. Je weiter man Richtung Osten und Russland kommt, desto wahrscheinlicher wird es, dass man Sie davon überzeugen will, dass Sie sich ganz genau jetzt im Herzen Europas befinden. Nicht nur in Polen oder bei uns in Tschechien beschwört man das feierlich, sondern auch in der Slowakischen Republik, in der Ukraine und selbst in Belarus. Den Leuten das ausreden zu wollen hieße, ihnen ihre Hoffnung zu nehmen. Für die Polen bedeutet Tschechien, schon mit einem Fuß im Westen zu stehen, und deshalb pflegen sie eine gewisse Hassliebe für uns. Hassliebe deshalb, weil wir für die Polen ein Haufen katzbuckelnder Feiglinge sind und keiner Helden wie sie selbst. Ich schreibe von Ihnen, den Polen, obwohl Sie in Litauen geboren sind und dort auch Ihre Jugend verbracht haben. Aber das ist egal: Nationalismus verabscheuen Sie, und darum auch Ihre Allergie auf die Rechte. Nationalisten sind in Ihren Augen nationale Obskuranten, was mich nicht weiter wundert, obwohl gerade Sie mit Ihrer linken Vergangenheit – wäre da nicht Ihr kugelsicherer Ruf – bei uns in Tschechien heute wahrscheinlich anecken würden. Sie schreiben, Sie hätten Schwierigkeiten, eine gemeinsame Sprache mit denen zu finden, die nicht dieselben marxistischen Erfahrungen gemacht haben. Aber in Tschechien würden gerade die Unerfahrenen Sie weit besser verstehen als die Älteren. Nicht wenige tschechische Intellektuelle der mittleren und älteren Generation sind wegen ihrer Karriere als Vertreter der Volksrepublik zumindest verdächtig. Ein Zwanzigjähriger, der eher diesen unseren seltsamen Kapitalismus kritisiert und das Übel des tschechischen Kommunismus nur aus der Schule kennt, geht mit solcherlei Engagement wesentlich nachsichtiger um. Aber mit den Menschen ohne marxistische Erfahrung haben Sie sowieso das Pack aus dem Westen gemeint, oder? In ganz Europa können nur wir, die alles kritisierenden Slawen, uns verschwörerisch zuzwinkern und den Westen als Pack bezeichnen. Glauben Sie mir, auch mich überkommt das zuweilen. Zum Beispiel, als ich mit Achtzehn das erste Mal in Amerika war. Und irgendwie ist mir diese Distanz bis heute geblieben. Diese eigenartige Mischung aus Bewunderung und Verachtung. Diese Sehnsucht danach, alles schön und sorglos zu schlucken und sich wie eine Gans stopfen zu lassen. All das, was Sie bei Ihrem Besuch in Prag empfunden haben, kenne auch ich aus den USA. Solange der Komfort anhält, sind deren Leistung, Logik, Verantwortungs- und Selbstbewusstsein unschlagbar, und ich könnte fortfahren: die amerikanische Sichtweise, der Humanismus, die Demokratie. Aber wenn wir den Glasdeckel lüften und ein bisschen Frost aus der chinesisch-sibirischen Steppe oder etwas todbringende Hitze aus einer arabischen Wüste hineinweht, hat der gesamte Westen ausgespielt. Gegen den Einfall der Barbaren härte ich mich mit kalten Duschen ab und das Aussterben Europas bekämpfe ich, indem ich Kinder habe. Lächerlich, was? Aber ist bei sich selbst anfangen lächerlich?


 

Die Westeuropäer werden es mir nachsehen, denn wofür sonst rackern wir uns ab, wenn nicht dafür, so zu sein wie sie? Und wir haben es fast geschafft. Ein Deutscher, Franzose oder Brite würde vielleicht sagen: „Ein Dreck seid ihr! Trotz eurer verspiegelten Touristensonnenbrillen erkennen wir euch aus hundert Metern Entfernung!“ Aber ein Kaukasier oder jemand vom Ural würde beipflichten: „Aber ja doch! In Warschau und Dortmund ist alles gleich, ganz und gar gleich.“ Mit dem Ural wollte ich nur ein bisschen sticheln, ich weiß doch, wie groß Ihre Abneigung gegen Russland ist. Sie verachten und bewundern es zugleich. Genau wie den Westen, nur umgekehrt. Die Barbarei hat eine starke Hand, und deren Druck ist unseren beiden Ländern ebenso vertraut wie der gesamten Kulturwelt die russische Literatur. Daher diese Bewunderung. Oh, du große Literatur! Wegen der großen russischen Romane werden Intellektuelle in ganz Europa reihenweise ohnmächtig. Mit der Literatur steht und fällt alles. Und selbst wenn es so wäre: Ist das nicht genau das, worum es Ihnen eigentlich gegangen ist? Lesen und gelesen werden?

Nur dass das Leben eben nicht nur Literatur ist, nicht wahr? Sie sind keiner dieser Schriftsteller, die ein Leben lang im stillen Kämmerlein hocken und keinerlei Interesse an ihrer Umgebung zeigen. Sie haben sogar im wahrsten Sinne des Wortes Karriere gemacht. Noch zu Lebzeiten wurde Ihnen weltweite Anerkennung zuteil, Ihre Werke wurden übersetzt und Sie haben in Berkeley gelehrt. Warum also dieses ständig wiederkehrende Bedürfnis nach allseitiger Rechtfertigung? Weil wahrhaftige und tiefgründige Menschen einfach nicht anders können? Ich könnte wetten, dass Sie so denken und dass Sie außerdem glauben, dass das ein Beweis Ihrer Größe sei. Große Menschen sind Ihrer Meinung nach nämlich keine Menschen des Extrems, sondern vielmehr des ausgewogenen Widerspruchs. Selbst wenn Sie sich vom Marxismus verabschiedet haben, Dialektiker sind Sie geblieben. Nicht nur, dass Sie Russland zugleich bewundern und verachten – dasselbe empfinden Sie für sich selbst und Ihre polnische Heimat.

Aber trotz all Ihrer Vorbehalte Polen gegenüber: Wehe, wenn sich jemand an Ihrer imaginären Brücke zwischen Ost und West vergreift! Diese Grätsche zwischen Ost und West vollziehen Sie ebenso wie die tschechischen Intellektuellen – zumindest die Älteren, denn die Jüngeren pfeifen drauf. Von denen ist keiner mehr Emigrant, und was übrig geblieben ist, ist ein Haufen Weltenbummler. Und dennoch ist Ihr verwinkeltes Lebens- und Philosophiedreieck Polen-Russland- Westen nach wie vor aktuell. Ihr großes Thema West- und Osteuropa hat überdauert, diese Achse zwischen Barbarei und Zivilisation, die sich wie eine verlängerte transsibirische Eisenbahn vom Osten bis nach Berlin und Paris zieht. Was Polen für Sie ist, ist Tschechien für mich. In den Osten reise ich, um mich abzuhärten und – überspitzt formuliert – um mich inspirieren zu lassen. Der Osten ist wie ein Gewitter, das die Sinne schärft. Der Westen dagegen schleift alle Ecken wie ein mahlströmendes Meer. Bei einem Tässchen Kaffee mit Blick auf die Straße einer westlichen Großstadt lässt sich der Kapitalismus großartig kritisieren. In einem nach Schweiß riechenden Zug, der Richtung Wladiwostok rumpelt, sehnt man sich dagegen vergebens nach der Feinheit des Westens. In den Osten reise ich inkognito: „Wo haben Sie Ihren Mann gelassen? Und was ist mit den Kindern, so ganz allein ohne Mutter?“, werde ich besorgt gefragt. In den Westen reise ich, um mich und meine Bücher zu verkaufen. Dort fragt man mich nach dem Kommunismus, und zwar insbesondere nach dem, an den ich mich noch erinnern kann. Mittlerweile bin ich es leid, aber neue Themen sind schwer zu finden. Vor fünf, ganz sicher aber vor zehn, fünfzehn Jahren waren tschechische Schriftsteller ein westlicher Exportschlager, Exoten aus dem wilden Osten. Aber die Andersartigkeit hat sich abgenutzt und ist aus den meisten Bereichen gewichen. Nach zwanzig Jahren Demokratie und Kapitalismus sind wir nicht mehr anders genug, aber auch nicht gleich genug, um für den Westen noch interessant zu sein. Wir sind ganz und gar gleich, nur eben ein ganz kleines bisschen schlechter. Und nichts ist weniger sexy als gleich zu sein, dabei aber ein ganz kleines bisschen hinterherzuhinken.

Vor einigen Tagen hat ein deutscher Verlag meinen Roman abgelehnt mit der Begründung, dass, ich zitiere: „... der darin vorhandene Avantgardismus zu altmodisch“ sei. Und ich hatte beim Schreiben ehrlich das Gefühl, einen neuen Kontinent zu entdecken. Mein verletzter Stolz geht auf keine Kuhhaut. Aber ist nicht gerade heute eine hochwertige, altmodische Avantgarde die Ausnahme? Ein anderer meiner Romane wurde in Deutschland mit den folgenden Worten abgelehnt: „Für den tschechischen Leser zweifellos interessant, aber...“. Bekäme ein deutscher Autor so etwas in Tschechien zu hören?

Wie bequem ist es doch, die eigene Unzulänglichkeit auf die Staatsangehörigkeit zu schieben, nicht wahr? Überhaupt suhlen wir Osteuropäer uns gern in Selbstmitleid. Und darum sei ergänzt, dass der Westen die Polen zwar häufig mit Putzfrauen oder Klempnern assoziiert, aber was würde ich für diese Putzfrau geben in Momenten, in denen mein Land in den USA sogar mit Tschetschenien verwechselt wird (die Tschetschenen mögen mir meine Überheblichkeit verzeihen).

Bei uns kursiert ein Polen-Witz: Ein Pole ist ein Russe, der sich öfter wäscht. Und ein Tscheche, der ist was?

Letzten Endes wird sowieso jeder Dialog zwischen Ost und West von Political Correctness erschlagen. Darum sagt auch kein Westeuropäer einem Osteuropäer, dass er sich wie ein Schwein benimmt, wenn er in einem besseren Restaurant die Gabeln verwechselt und es noch nicht mal auf die Reihe kriegt, eine Krabbe kultiviert zu pulen. Oder dass sein Englisch eine Katastrophe ist. Dass er wohl seit zehn Jahren schon zum Friseur muss. Dass er keinen Geschmack hat. Und dass bei ihm zu Hause das Klo stinkt, und er selbst eigentlich auch ein bisschen.

Der Westler glaubt, dass das stärkste Gefühl, das ein Ostler ihm gegenüber empfinden kann, der Neid ist, weil der Ostler sich niemals wird leisten können, was der Westler besitzt. Der Westler weiß nicht, dass duftig geschniegelte Typen aus dem Westen eher etwas schwul rüberkommen. Und schwul sind sie auch, wenn sie weder das Auto noch die Waschmaschine reparieren können, weder Zelten gehen noch Feuer machen, sondern stattdessen bis in die Morgenstunden windowshoppen, und am nächsten Tag wieder frisch geduscht auf ihrem Bürostuhl thronen mit ihren gegen die Falten eingecremten Modelgesichtern – und im Bewusstsein dessen, dass ihr Land eine kulturelle Großmacht ist, von der der Osten noch was lernen kann. Aber der Osten will nur ihr Geld, das Geld dieser wunderbaren Kulturstiftungen, ohne das kein tschechischer Schriftsteller überleben könnte.

Der Westler weiß nicht, was ein hartes Leben ist. Angeblich. Auch Sie behaupten das. Und deshalb reist der Westler in den Osten, um wenigstens mal ordentlich ficken zu gehen.

Soviel also zu den Stereotypen. Während wir uns die Hände reichen, zeigen wir uns von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs (wie lange noch?) eine lange Nase. Und das in einem vereinten Europa, in einer Union.

Als wir Tschechen im Jahr 2003 in einem Referendum über den EU-Beitritt abgestimmt haben, war ich dagegen. Als Einzige in der Familie, als Einzige unter meinen Freunden und all meinen Bekannten. Die unmittelbar vor dem Referendum durchgeführte Kampagne war nämlich eine beispielhafte Gehirnwäsche: Für Europa, weil man dort jung, blitzgescheit und gebildet ist? Oder gegen Europa genau wie ein verbitterter Rentner oder xenophober Dorftrottel? Entscheiden Sie jetzt, Sie haben die Wahl!

Heute sind wir ein vereintes Europa, na und? Ist es Blasphemie, so direkt darüber zu sprechen? Muss man sich für eine bestimmte Denkweise schämen? Vielleicht. Im Namen der geltenden Ordnung. Scham ist eine intuitive Mauer gegen das Chaos, und nein, Selbstzensur muss nicht unbedingt schlecht sein. Im Gegenteil: Eine Chance gegen den Rest der Welt haben wir hier in Europa nur, wenn wir zumindest ein bisschen zusammenhalten. Und deswegen zeigen wir uns auf höchst kultivierte Weise die Zähne. Im Namen höherer Ziele lebe sie hoch, die so verspottete Political Correctness!


 

Und die Literatur? Bisher habe ich kaum ein Wort darüber verloren. Auch ich saß ein paar Mal verträumt in alten Pariser Cafés. Dort, wo man sich all die literarischen Richtungen und Ismen ausdenkt, Sie wissen schon. Wenn ich hier in Tschechien mit jemandem ein Café besuche, dann verweigern wir uns wie zum Trotz jedwedem Gespräch über Literatur. Und das gilt insbesondere bei Treffen mit Bekannten, die selber schreiben. Ob das an der Geschichte liegt, die die Osteuropäer gelehrt hat, sich für ihr Intellektuellendasein zu schämen? Sie werden es kaum glauben, aber bei uns hat das Wörtchen „Intellektueller“ noch immer einen reaktionären Beigeschmack. Wenn ich gefragt werde, was ich mache, sage ich nicht, dass ich schreibe. Bis vor Kurzem habe ich wahrheitsgemäß geantwortet, dass ich studiere. Aber seit ich mich nicht mehr ans Studium klammern kann, winde ich mich und rücke mit der Wahrheit erst dann heraus, wenn mir nichts anderes übrigbleibt. Bei Formularen mit dem Feld Berufsbezeichnung kritzle ich womöglich etwas Unleserliches hin, da ansonsten zu befürchten steht, dass jemand vor Lachen losprustet. Oft sage ich einfach, dass ich auf Mutterschaftsurlaub bin – das allerdings nur, wenn ich nicht mit Leuten aus dem Literaturbetrieb zusammentreffe. Vor denen mauere ich, solange ich kann. Gleichzeitig Schriftstellerin und Mutter zu sein ist ein Widerspruch in sich, oder? Das geht natürlich nicht, einerseits selbstlos für Andere zu leben und andererseits nur für sich und das eigene Werk. Oder haben Sie jemals irgendeine Frau getroffen, der beides gelungen ist? Und die so geschrieben hat, dass es lesenswert war? Sobald Kinder herumtollen, erkundigen sich die Leute außerdem, ob man Kinderbücher schreibt. Im Inneren ein Gefühl von Scham und Erniedrigung (so tief empfunden, dass ich niedersinken könnte), antworte ich lachend und mit fester Stimme, dass ich nichts dergleichen plane.

Eine dumme Frau, so schreiben Sie in Ihrem ABC1 über Simone de Beauvoir, und ein Stück weiter, dass Sie nur die Feministinnen zu schätzen wüssten, die aus Mitgefühl mit dem weiblichen Schicksal für Frauen einträten. Meinetwegen. Mit Céline würde ich mich auch auf keine Diskussion über Rassismus einlassen und mit Sartre nicht Mao analysieren. Also warum mit Ihnen über Feminismus streiten? Darin, dass die Schriftstellerei alles ist und nichts, darin sind wir uns zweifellos einig. Ein Stapel vollgeschriebenes Papier, was ist das schon? Und der Schriftsteller selbst? Autobiografisches Schreiben liegt mir unendlich fern. Dieser Text auf dem Papier, das bin nicht ich. Aber wenn jemand mein Schreiben kritisiert, weiß ich, dass sein Degen nicht über das Papier meiner Bücher gleitet, sondern dass er mir seinen Dolch mitten ins Herz rammt.

Die Hauptsache schließlich, in der ich es wagen würde, Ihnen zu widersprechen, ist Ihr bereits erwähnter Dialektismus. Zwischen Auflehnung und Geschichtlichkeit, zwischen Göttlichem und Historischem, auf diesem gespannten Seil sind Sie ein Leben lang gewandelt. Und zwar immer in dem Bewusstsein, dass man weder im Leben noch im Werk mit dem Kopf durch die Wand kann. Weil der Schriftsteller doch Zeugnis ablegen muss darüber, was ist und wohin die Reise geht. Genau wie ein Hund, der an seiner Kette reißt innerhalb des ausgetretenen Kreises um seine Hütte herum und nie auch nur ein Stückchen weiter. Ein Stückchen weiter liegt die Utopie. Zum Beispiel die kommunistische, die Ihnen so zugesagt hat wie vielen anderen auch. Und weil man begriffen hatte, dass sich die Geschichte in Krämpfen windet, lief alles unter der Parole, einer sei dem anderen gleich. Außerhalb des ausgetretenen Kreises um die Hundehütte herum liegt der Wahnsinn, das Extrem, das Wunderland. Wenn ein Mensch über seine Zeit Zeugnis ablegen will, muss er sich Ihrer Meinung nach zumindest ein klitzekleines bisschen nassmachen und mit dem Strom schwimmen. Darunter fällt für mich Ihr diplomatisches Engagement, Ihre chamäleonhafte Natürlichkeit als Kundschafter in einer Welt, die Ihnen so fremd war. Gleiches gilt schließlich auch für Sie als Akademiker und Künstler. In der Welt der Durchtriebenen wollten Sie kein Künstlerkind sein, und in der Welt der Scharfsinnigen kein romantisch-naives Dummerle. An marxistischen Akzentuierungsaktionen auf Kosten sogenannter eitler Grübeleien hatten Sie keinen Anteil, und doch hat es Sie gequält. Denn was sind Worte gemessen an Taten, nicht wahr? Papier vergilbt, Festplatten-Daten werden unbrauchbar – und im Internet das Herumgeistern und Flüstern von Millionenundeinem Text. Daher Ihre Überzeugung, dass zwischen Künstlern und Revolutionären eine stillschweigende Waffenruhe herrsche. Nur dass Sie sehr wohl wissen, dass ideologische Prosa an Hohlheit nicht zu überbieten ist. Ihr Dialektismus beruht auf dem Wissen um Maß und Gleichgewicht, und er hat sich bewährt in ehrenwerten Erfahrungen und einem ehrenwerten Leben. Aber was, wenn sich der Hund von der Kette losreißt? Den osteuropäischen Hund meine ich, wohin wird er laufen? Wird er mit den sibirischen Wölfen heulen? Oder seinen Herrn auffressen? Der westeuropäische Hund ist ganz zufrieden, er würgt sein Trockenfutter runter und hat schon lange nichts mehr auf die Schnauze gekriegt. Ein freilaufender Hund läuft ins Leere. Er weiß noch nicht wohin, aber er läuft. Und genau das ist Literatur: von Wille und Talent genährte Rücksichtslosigkeit. Vielleicht halten Sie mich deshalb für einen verwöhnten Fatzke. Und vielleicht bin ich schon so aufgewachsen, weil die neue Freiheit all dies möglich macht. Für diese neue Freiheit zumindest gebührt auch Ihnen Dank. Dank dafür, dass der Westen schon zu Zeiten des Eisernen Vorhangs von uns Ostlern gewusst hat.

Hochachtungsvoll

 

Ihre Petra Hůlová


 

Dieser Essay entstand im Rahmen des HALMA Projekts Letters to Miłosz (Briefe an Miłosz) – gefördert durch die European Cultural Foundation, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia und die Polnischen Institute in Paris, Prag, Leipzig und Vilnius. Weitere Infos: www.letterstomilosz.eu; mail@halma-network.eu

1) Czesław Miłosz: Mein ABC. Von Adam und Eva bis Zentrum und Peripherie. München 2001

Fotos: © writersinresidence.nl (Petra Hůlová); polish-jewish-heritage.org (Czesław Miłosz 1911 - 2004)

 

Bio-Bibliographisches:

Die Romanautorin Petra Hůlová wurde 1979 in Prag geboren und studierte Mongolistik und Kulturwissenschaften an der Karlsuniversität.

Sie ist Autorin von sechs Bestseller-Romanen, in denen sie kreativ mit Sprache arbeitet und deren expressives erzählerisches Potenzial sich aus der Kombination von Themen aus exotischen oder multikulturellen Orten (Mongolei, Russland, USA) ergibt: Paměť mojí babičce (2002, Magnesia Litera-Preis) [Kurzer Abriss meines Lebens in der mongolischen Steppe. München 2007], s. hier: Empfehlungen, Umělohmotný třípokoj (2006, Jiří Orten Preis) oder Stanice Tajga (2008, Josef Škvorecký Prize) [Endstation Taiga. München 2010]. Ihr neuester Roman – Strážci občanského dobra – ist 2010 erschienen.

Hůlovás Werke wurden in sechs Sprachen (u.a. Deutsch, Englisch und Polnisch) übersetzt; die englische Übersetzung ihres Werks Paměť mojí babičce ("All of this belongs to me") von Alex Zucker erhielt den National Translation Award (2010) der American Literary Translators Association (Alta).

Bücher von Petra Hůlová in deutscher Sprache sind im Luchterhand Verlag erschienen.

 

Die Übersetzerin Doris Kouba wurde 1974 als Tochter einer Sudetendeutschen und eines Tschechen in Darmstadt geboren. Seit ihrem Studium in Hamburg (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Journalistik, Politik, Slawistik und Jura) arbeitet sie als Übersetzerin aus dem Englischen, Tschechischen und Slowakischen und hat u.a. Petra Hůlovás Novelle „Umělohmotný třípokoj“ (Prager Plastik) ins Deutsche übertragen. Sie lebt in Hamburg und Prag. 

 

Czesław Miłosz (30. Juni 1911 - 14. August 2004) war ein polnischer Schriftsteller, Dichter, Essayist und Übersetzer, dem im Jahre 1980 der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.

Geboren in Šeteniai / Szetejnie, im damaligen Russischen Reich (heute Litauen), studierte er Rechtswissenschaften in Vilnius (zu jener Zeit eine polnische Stadt), wo seine ersten Gedichte veröffentlicht wurden. In den 1930er Jahren reiste er von Vilnius aus durch Westeuropa nach Paris, wo er später ein Jahr als Stipendiat verbrachte.
Während der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg lebte er in Warschau. Nach dem Krieg arbeitete er im polnischen diplomatischen Dienst in Frankreich und den USA und erhielt 1951 politisches Asyl in Frankreich.
Seit 1960 war Miłosz über 20 Jahre lang als Professor für slawische Sprachen und Literatur an der University of California Berkeley tätig. Er erhielt 1970 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
Im Jahr 1978 wurde Miłosz der Neustadt International Prize for Literature verliehen und 1980 erhielt er den Nobelpreis. Darüber hinaus wurde er als Gerechter unter den Völkern im Yad Vashem in Israel geehrt und gewann weitere renommierte Auszeichnungen wie die U.S. National Medal of Arts, ein Guggenheim-Stipendium und die Ehrendoktorwürde der Universität Harvard.
Vor 1989 waren seine Werke in Polen für längere Zeit verboten, sodass viele seiner Bücher zunächst in Frankreich, den USA oder in der polnischen Untergrundpresse veröffentlicht wurden.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 pendelte Miłosz zwischen Krakau und Berkeley, bis er sich seit 2000 endgültig in Krakau niederließ, wo er 2004 starb.
Miłoszs Poesie gilt als sehr reich an Symbolen und Metaphern, während seine Romane häufig autobiographische Züge tragen. Zu seinen eindrucksvollsten und berühmtesten Werken zählen Zniewolony umysł (Verführtes Denken, 1953) über das Verhalten der Intellektuellen in einem totalitären System, Dolina Issy (Das Tal der Issa, 1955) eine poetische Geschichte über die mythische polnisch-litauische Landschaft und Rodzinna Europa (West und Östliches Gelände, 1958) eine autobiographische Reflexion über die europäische Mentalität und Geschichte des 20. Jahrhunderts.

(Im Rahmen des Czesław-Miłosz-Jahres 2011 fanden zahlreiche Veranstaltungen zu Ehren des großen polnischen Künstler statt, der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.)

 

Ausgewählte Werke

 

Lyrik

Trzy zimy (Drei Winter). Warschau 1936.

Ocalenie (Rettung). Warschau 1945.

Światło dzienne (Tageslicht). Paris 1953.

Traktat poetycki (Poetisches Traktat). Paris 1957.

Król Popiel i inne wiersze (König Popiel und andere Gedichte). Paris 1961.

Miasto bez imienia (Stadt ohne Namen). Paris 1969.

Gdzie słońce wschodzi i kedy zapada (Wo die Sonne aufgeht und wann sie untergeht). Paris 1974. Kroniki (Chroniken). Paris 1989.

Orfeusz i Eurydyka (Orpheus und Eurydike). Krakau 2003.


Prosa

Zniewolony umysł (Verführtes Denken). Paris 1953.

Zdobycie władzy (Das Gesicht der Zeit). Paris 1955.

Dolina Issy (Das Tal der Issa). Paris 1955.

Rodzinna Europa (West und Östliches Gelände). Paris 1958.

The History of Polish Literature (Geschichte der Polnischen Literatur). London / New York 1969. Prywatne obowiązki (Private Verpflichtungen). Paris 1972.

Ziemia Ulro (Das Land Ulro). Paris 1977.

Zaczynając od moich ulic. Paris 1985.

Szukanie ojczyzny (Suche nach der Heimat). Krakau 1992.

Abecadło Milosza (Mein ABC). Krakau 1997.

O podróżach w czasie (Über Zeitreisen). Krakau 2004.

Derzeit sind Bücher von Czesław Miłosz in deutscher Sprache im Hanser Verlag und bei Suhrkamp erhältlich.

 

© Aga ZaryanThis only aus: A Book of Luminous Things, 2011 - Die interantional renommierte polnische Jazzsängerin interpretiert mit neuen Kompositionen und in englischer Sprache Gedichte von Czesław Miłosz sowie Anna Świrszczyńska, Denise Levertov und Jane Hirshfield. Mit ihrem grandiosen Konzert Miłosz und seine Nächsten wurde das 11. Internationale Literaturfestival Berlin 2011 beendet. (s. hier auch: 11.ILB 2011 und MaMa gegen Muttis)



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