LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
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30.05.2014Jürgen Habermas zu den Erfolgen der Rechtsextremen bei der Europawahl: „Ich finde es gut, dass die Europagegner ein Forum gefunden haben, auf dem sie den politischen Eliten die Notwendigkeit vor Augen führen, die Bevölkerungen selbst endlich in den Einigungsprozess einzubeziehen. Der Rechtspopulismus erzwingt die Umstellung vom bisherigen Elitemodus auf die Beteiligung der Bürger.“ 

 

26.05.2014: Stell´dir vor, es ist Europawahl und keiner geht hin... das gilt auf alle Fälle für Tschechien. In keinem anderen europäischen Land war die Wahlbeteiligung so niedrig: Laut Prognosen stimmten nur 19,5 Prozent der Wahlberechtigten ab, sogar noch weniger als 2009, als die Beteiligung bei auch schon niedrigen 28,2 Prozent lag. Tschechien kann einundzwanzig Abgeordnete nach Brüssel bzw. Straßburg entsenden, die Slowakei dreizehn, wovon vier Sitze im EU-Parlament an die sozialdemokratische Regierungspartei entfallen, die restlichen neun verteilen sich auf bis zu acht Splitterparteien.

„Europa kann man nur von jenseits des Ozeans aus sehen. Von Peking, Buenos Aires und Kinshasa aus sieht man es gut. Aber man kann Europa nicht von Berlin, Ljubljana, Odessa oder Sarajevo aus sehen, weil zu viel Deutschland, Slowenien, zu viel Ukraine und Bosnien im Weg stehen. Deshalb haben die Leute in Europa nicht die geringste Ahnung davon, wie Europa aussieht. Sie wissen nicht, wo es anfängt oder aufhört, sie wissen nicht, wer diese berühmten Europäer sind, wie sie sind oder wie sie sein sollten. Und deshalb ist Europa immer noch Europas größtes Geheimnis. Goran Vojnovic (s. hier: Manifest zu Europa)

 

16.04.2014: Der aus dem nordmährischen Velké Losiny / Groß Ullersdorf stammende Grünen-Politiker Milan Horáček, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in die Bundesrepublik emigrierte, Gründungsmitglied der Grünen und lange Jahre Bundestags- sowie Europaabgeordneter der Partei war, wird beim Pfingsttreffen des 65. Sudetendeutschen Tages am 07.06.2014 um 10.30 Uhr in Augsburg mit dem Europäischen Karlspreis (nach Kaiser Karl IV., zugleich deutscher und böhmischer König, benannte Auszeichnung) „für Verdienste um eine gerechte Völkerordnung in Mitteleuropa“ geehrt.


Tomáš Podivínský (KDU-ČSL),ehemalige Umweltminister in der Übergangsregierung Rusnok, soll neuertschechischer Botschafter in Berlin werden. Er habe sehr gute Chancen, da er „auf der Burg einen guten Ruf genieße“, allerdings war er bisher nur Generalkonsul in Dresden. Der seit acht Jahren in Berlin amtierende Botschafter Rudolf Jindrák möchte sich verändern. In Tschechien werden Botschafter vom Präsidenten auf Vorschlag des Außenministers ernannt, was in der Vergangenheit zu einigen Konflikten zwischen Ex-Außenminister Schwarzenberg und Präsident Zeman geführt hat. Für die tschechische Diplomatie ist der Botschafterposten in Deutschland einer der wichtigsten überhaupt. Auch der derzeitige Botschafter in DublinTomáš Kafka (auch Autor) sowie die Leiterin der tschechischen UN-Mission in New York Edita Hrdá, sind noch im Gespräch. (idnes.cz)

 

05.04.2014: Präsident Miloš Zeman hat im tschechischen Rundfunk Russland vor einer Invasion in die Ostukraine gewarnt. Mit einem Einmarsch wäre eine „rote Linie“ überschritten: „In einem solchen Fall würde ich nicht nur für die schärfsten möglichen Sanktionen plädieren, sondern sogar für eine militärische Bereitschaft des Nordatlantik-Pakts und den Einsatz von Nato-Soldaten auf ukrainischem Gebiet“. Man müsse sich allerdings damit abfinden, dass die Krim zukünftig zu Russland gehöre. Dezentralisierung könne eine weitere Spaltung des Landes vermeiden, Beispiele seien etwa Deutschland oder die Schweiz.

 

Wahlen in Europa - „Demokratie ist Krise“. Von optimistischen wie pessimistischen Fatalisten hält David Runciman nichts: Europa, so glaubt er, wird weder auseinanderbrechen noch in einem Superstaat aufgehen. Krisensitzung mit einem Politikwissenschaftler aus Cambridge und Michael Wiederstein für den Schweizer Monat: http://www.eurozine.com/articles/2014-02-24-runciman-de.html

 

29.01.2014: Tomio Okamura, rechter „Rechtspopulist“ ist ganz oben auf der tschechischen Beliebtheitsskala: „Wenn Sie zum Beispiel das Ergebnis der letzten Umfrage nach der Vertrauenswürdigkeit der Politiker betrachten, wird es nicht leicht für Sie sein, sich zu orientieren. Zunächst finden Sie es lustig, weil Sie sich sagen, das ist ein toller Witz, eine gelungene Mystifikation. Nach einer Weile aber stellen Sie fest, dass das ernst gemeint ist. Und die Betrübnis wird tief sein, fast apokalyptische Gefühle werden sich Ihrer bemächtigen. Viele werden sich sogar fragen, was sie hier noch suchen, ob sie hierhin gehören, ob sie nicht aus Versehen oder zur Strafe hierhin geraten sind.“ (Literární noviny, monatliche, nicht mehr wöchentliche Literaturzeitschrift)


27.01.2014: Für die Beibehaltung der sog. Beneš-Dekrete gibt es bald keine Mehrheit mehr in der tschechischen Bevölkerung. Eine aktuelle Umfrage endete mit einem Patt. Für ihre Abschaffung sprachen sich 14 Prozent der Befragten aus, mehr als 30 Prozent hatte keine Meinung. Damit ist die Zahl der Befürworter der Beneš-Dekrete deutlich gesunken: Noch vor fünf Jahren stimmten zwei Drittel der Bevölkerung für sie. Kritisch wird auch die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg gesehen: etwa 40 Prozent der Befragen halten sie zwar nach wie vor für gerecht, 36 Prozent aber für ungerecht. Die über Sechzigjährigen sind mehrheitlich für die Dekrete und die Vertreibung, bei den unter Dreißigjährigen hält nur rund ein Drittel an den Beneš-Dekreten und der Richtigkeit der Vertreibung fest. (čtk)


Des Kaisers neue Kleider.. äh.. Repräsentanten: In Tschechien ist die Regierungsbildung abgeschlossen und hiermit komplett. Präsident Zeman bat "seine" Minister auf die Burg in Prag und verteilte Sympathien und Antipathien, lobte und maßregelte, nahm übel und vergab huldvoll - und ließ sich mit diversen Gastgeschenken verwöhnen. 

 

Ukraine: „[...] Präsident Zeman, schweigt – und was schlimmer ist, er besteht vielsagend schweigend auf seiner Einladung an Janukowitsch für April nach Prag. Das alles geschieht in einem Land, das so sehr an das ihm in der Vergangenheit zugefügte Unrecht erinnert, als es allein gegen die nackte Gewalt stand. Dabei betrifft uns die Situation in der Ukraine wahrhaft essentiell. Es geht nicht allein darum, dass ein Stück weiter nach Osten von uns eine Diktatur entstehen kann, von wo Massen von Flüchtlingen zu uns strömen werden mit der Bitte um Asyl. Die Ukraine ist für Mitteleuropa auch ein Puffer gegen das expansive Russland. Je weiter die Putinsche politische Kultur von uns entfernt bleibt, umso besser. (Respekt, tschechisches Wochenmagazin)


Berlusconisierung der Politik: „Das Problem mit Babiš liegt darin, dass er sein ganzes Leben genau das machte, was für ihn selbst nützlich war – was für sich genommen nichts Schlechtes ist. Sein Drang zum Ziel bedeutet allerdings auch, dass er fähig ist, sich jedweder Mittel zu bedienen. [...] Gerade diese Kombination von Eigenschaften, jetzt in Verbindung mit großer Macht, weckt freilich bei Vielen Nervosität. Wird er nun wirklich den Menschen dienen oder bloß der Chef von zehn Millionen Beschäftigten sein?“ (Ekonom, tschechisches Wirtschaftsmagazin)

 

13. 01. 2014EU-Gelder gestrichen. Rund vier Milliarden Euro der Förderprogramme Unternehmen und Innovation sowie des regionalen Förderprogramms Mittelböhmen sind wegen mangelnder Kontrolle und möglicher Interessenkonflikte zwischen tschechischem Wirtschaftsministerium und Wirtschaftskammer, in der viele Unternehmer organisiert sind, die bereits Fördergelder erhalten haben, gestrichen worden. Details zu möglichen Manipulationen wurden nicht bekannt. Allerdings droht Tschechien eine Strafe von elf Millionen Euro. „Die Europäische Kommission kritisiert einige Vorgehensweisen im Bereich der Auswahlverfahren und fordert Korrekturen in einer Größenordnung von circa 300 Millionen Kronen“, hieß es aus dem Ministerium für Regionalentwicklung. (čtk)

Wie sich bereits drei Tage später, am 16.01.2014, herausstellt, handelt es sich bei den monierten Manipulationen um gezielte Betrugsfälle der Wirtscahftskammer. Der Tschechische Rundfunk meldete, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) habe festgestellt, dass Unterschriften von Personen gefälscht worden seien, denen man damit bestätigte, als Experten für die Kammer zu arbeiten. Gleichzeitig sollen gefälschte Eidesstattliche Versicherungen dieser Personen ohne das Wissen der Betroffenen vorgelegt worden sein. Mit diesen Fälschungen seien europäische Gelder erschlichen worden. Gegen die Ermittlungsergebnisse soll die Wirtschaftskammer zwar Einspruch eingelegt, ihr Vorsitzender den Betrug jedoch eingeräumt haben. OLAF wollte die Ermittlungsergebnisse nicht kommentieren, bestätigte lediglich, sie den tschechischen Behörden und dem Oberstaatsanwaltschaft übergeben zu haben. (čtk)

 

Wahlen in Tschechien

19.12.2013 – Auf die Kritik der Bürgerinitiative Rekonstrukce státu (Rekonstruktion des Staates), dass bei den von ihnen vorgeschlagenen Gesetzesentwürfen zur Korruptionsbekämpfung entscheidende Passagen im Koalitionsvertrag ausgelassen wurden, antworten die tschechischen Koalitionsparteien ausweichend: Auf fünfzig Seiten könne nicht jeder Punkt im Detail dargelegt werden. Den Gesetzesentwürfen zur Rekonstruktion des Staates hatte sich auch ANO, die Partei des Milliardärs Andrej Babiš, im Wahlkampf zu eigen gemacht. Als Programmpunkt geblieben ist jetzt nur, dass Tschechien zukünftig unabhängig von Lebensmittelimporten werden soll, dafür sollen die Landwirte, vor allem der Großmastbetriebe, mehr staatliche Unterstützung erhalten. Kurzfristig schaffen diese Pläne in manchen Regionen vielleicht Arbeitsplätze, vor allem jedoch fördern sie das größte Lebensmittelkonsortium, Babiš´ Agrofert. Hatten vor den Wahlen die Interessenskonflikte zwischen Babiš als Unternehmer und Babiš als Abgeordneter noch zu Unruhe und Diskussion in den Medien geführt, scheint das jetzt niemand mehr zu interessieren: weder die Journalisten noch die Opposition, schon gar nicht die jetzt entstehende Regierung. Natürlich möchte man auch keine unnötige Verlängerung der Amtszeit von Zemans Beamtenregierung und von seiner Gnade. Allerdings wird offensichtlich gerade an einer unheilvollen Verquickung medialer, ökonomischer und politischer Macht gearbeitet, anstatt dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten – und zwar mit einem detaillierten Koalitionsvertrag.


 

Der deutsche GroKo-Vertrag ist zwar dreimal so lang, aber nicht unbedingt gehaltvoller. Quantität ist eben nicht gleich Qualität. Wie CDU, CSU & SPD Deutschlands Zukunft gestalten wollen: offenbar mit viel Politprosa, Hüllen und Null-Sprech. Irgendwie dahin soll es in den nächsten vier Jahren gehen. Es sollen Leitplanken sein, mit denen man vergleichen kann, wo man sich gerade befindet, oder auch nicht. Der Koalitionsvertrag, 2013, 185 Seiten, unter: Der Koalitionsvertrag

zum Download [PDF, 1,3 MB] >>>

 

© Foto: Krokotasche, RVO-Berlin


27.10.2013 - Schwierige Regierungsbildung

Nur neunundfünfzig Prozent der Wahlberechtigten haben in Tschechien ihre Stimme abgegeben, mehr als vierzig Prozent davon entschieden sich für Parteien, die vorher den etablierten Kräften den Kampf angesagt hatten. Wahlsieger sind die Sozialdemokraten, vor allem aber ANO, die „Bewegung unzufriedener Bürger“ des Milliardärs Andřej Babiš, und die Kommunisten. Unklar ist, in welcher Konstellation regiert wird. Klar ist: Eine Regierungsbildung wird extrem schwer, die politische Dauerkrise ist längst nicht gebannt. Zwei Männer haben jetzt das Sagen: Präsident Miloš Zeman und Babiš. Gemeinsam ist ihnen vermutlich nur der Wille zur Macht.

Mit 20,5 Prozent von erwarteten dreißig Prozent siegten zwar die Sozialdemokraten, mit wem sie koalieren wollen, ist jedoch vollkommen unklar. Die „Aktion unzufriedener Bürger“ (ANO) kam mit 18,7 Prozent aus dem Stand auf Platz zwei, die Kommunisten erlangten mit einem Plus von 3,6 Prozent 14,9 Prozent. Auf dem rechten Flügel kamen außer der ODS die liberal-konservative Top 09 mit zwölf Prozent sowie die Christdemokraten und die offen rassistische Partei „Morgendämmerung der direkten Demokratie“ (Usvit) mit jeweils knapp sieben Prozent ins Parlament. Zeman könnte dieses Ergebnis zum eigenen Machtausbau nutzen. Nach einer von ihm lancierten Verfassungsänderung verfügt er über weitreichende Machtbefugnisse mit durchaus autoritärem Zuschnitt. Deutlich wurde dies nach dem Rücktritt von Premier Petr Nečas im Sommer, als sich Zeman weigerte, die konservative ODS wieder mit der Regierungsbildung zu betrauen und stattdessen Rusnok ins Amt hob.

Die Korruptions- und Abhöraffäre um Nečas und die ODS bildete den vorläufigen Tiefpunkt einer Skandalserie, die den Politikbetrieb in Prag seit der Republikgründung nach 1989 begleitet. Obwohl Babiš vor der Wahl gesagt hatte, seine Partei wolle nicht an die Regierung, wird in Prag davon ausgegangen, dass er alles tun wird, was seinen eigenen Geschäftsinteressen nützt.

Wahrscheinlich ist zurzeit, dass Zeman den Regierungsauftrag an die Sozialdemokraten vergibt. Parteichef Sobotka sprach von einer möglichen Minderheitsregierung, die von den Kommunisten gestützt würde. Denkbar ist jedoch auch eine Koalition mit Babiš und der liberal-konservativen Top 09 des früheren Präsidentschaftskandidaten Karel Schwarzenberg. Man traut Zeman allerdings auch zu, dass er jemand anderen mit der Regierungsbildung beauftragt.

Babis könnte aber zum „Königsmacher“ werden. Die von ihm gegründete populistische Bewegung ANO warb mit großzügigen Versprechen um Wählerstimmen. Der Milliardär, in Anlehnung an den italienischen Politiker auch „Babisconi“ genannt und seit kurzem Eigentümer zweier etablierter Tageszeitungen, lenkt über seine Holding Agrofert mehr als zweihundert Lebensmittel- und Chemiebetriebe mit 28.000 Mitarbeitern. Er sagt: „Ich will den Staat wie eine Firma lenken.“, das ist vielen ein Indiz vor allem für weitere soziale Ungleichheit. -ks

 

22.10.2013 – Der überdimensionierte, Richtung Prager Burg ausgestreckte Mittelfinger ist der unübersehbare Beitrag des tschechischen (Aktions-)Künstlers David Černý „zur vorgezogenen Parlamentswahl“. Sein neues Kunstwerk, direkt neben der Karlsbrücke in der Moldau verankert, soll – laut Nachrichtenportal idnes.cz – seine Verärgerung zeigen: „Das ist ein Stinkefinger für die beschissenen kommunistischen Bastarde auf der Prager Burg“ - und vor allem für Staatspräsident Miloš Zeman bestimmt. Nach der Wahl wird die zehn Meter hohe Skulptur wieder abgebaut. (© Foto: Reuters)


Eigentlich kein Interesse an Politik


9,00 Uhr morgens, in der Eingangshalle der Metro-Station wartet Andrej Babiš. Der grau melierte Milliardär trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und macht Wahlkampf für seine politische Bewegung ANO. Babiš verteilt 'Berliner'. Die Menschen reißen ihm die Tüten mit dem fettigen Gebäck aus der Hand. Babiš spricht die Passanten wahlweise mit „schönes Fräulein“, „Omi“ oder „Chef“ an. Sie bedanken sich. Das Wahlprogramm interessiert kaum jemanden. Viele wollen ein Foto mit dem Selfmademan, der scheinbar aus dem Nichts ein gigantisches Lebensmittel- und Medienimperium aus dem Boden gestampft hat. Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 25. und 26. Oktober wird seine 2012 gegründete politische Bewegung Umfragen zufolge mit bis zu 16 Prozent ins Parlament einziehen.

Babišs Protestbewegung ist links und rechts – je nach Bedarf. Das Wahlmotto ist ein Versprechen: „ANO, bude líp“. Das Kürzel ANO steht dabei für „Aktion unzufriedener Bürger“, der Slogan lässt sich ins Deutsche mit den Worten „Ja, bessere Zeiten werden kommen“ übersetzen. Möchte man von Babiš wissen, wie er das anstellen möchte, dann sagt er: „Indem wir anfangen. Wir sind zwanzig Jahre in die falsche Richtung gelaufen, wir müssen anfangen, das zu ändern“. Konkreter wird Babiš selten. Warum auch? „Wir sind keine Politiker, wir arbeiten“, steht auf den Wahlplakaten von ANO. Babiš scheint nicht nur der Überflieger dieser Wahlen zu werden, sein Erfolg steht auch stellvertretend für das, was diesen Wahlkampf ausmacht: Fast alle Parteien meiden Inhalte, flüchten sich in leere Phrasen oder gar in die völlige Inhaltslosigkeit.

Beispiel TOP 09. Nur 33 Sekunden zählt der offizielle Wahlspot der konservativ-liberalen Partei. Der Vorsitzende Karel Schwarzenberg – von den Wahlkampfstrategen zum Agent TOP 009, „im Dienste unserer Republik“, karikiert – knattert darin auf einem Chopper über die Nachwende-Geschichte des Landes, nur um dann zu sagen: „Dieser Kampf hört nie auf“, und: „Geht zu den Wahlen, wählt TOP 09“.

Der Vorsitzende der Sozialdemokraten (ČSSD) Bohuslav Sobotka hingegen wandert durch die Hügellandschaft des böhmischen Mittelgebirges und sagt: „Ich möchte einen Staat“. Wie dieser aussehen soll, steht in großen weißen Lettern im herbstlichen Tal, in das Sobotka blickt. Was da steht, ist weder konkret noch besonders überraschend: Er soll die Bürger schützen und ihnen ein würdiges Leben im Alter ermöglichen. Und: Er soll funktionieren, der Staat.

Ein weiteres Merkmal der diesjährigen Wahlkampagnen: Sie sind überwiegend positiv. Dem Kampf für den funktionierenden Staat verschreiben sich die Sozialdemokraten auch auf ihren orangen Wahlplakaten. Noch vor drei Jahren war die ČSSD auf den riesigen Werbetafeln an den Autobahnen und Häuserfassaden des Landes vor allem dagegen: Gegen höhere Strompreise, gegen weniger Mutterschaftsgeld.

Allgegenwärtig waren damals auch Plakate, die sich als Wahlwerbung des politischen Gegners ausgaben und ihn ins Lächerliche zogen. So ließ die ČSSD den damaligen Chef der Bürgerdemokraten Petr Nečas verkünden: „Wir pfeifen auf die einfachen Leute“. Solche Negativ-Kampagnen sind 2013 zur Seltenheit geworden.

Heute versprechen die Christdemokraten (KDU-ČSL) vor einem Meer von Sonnenblumen: „Wir bringen das Land in Ordnung“, die Kommunisten (KSČM) haben „eine andere Lösung“, Babišs ANO will, dass „auch unsere Kinder hier leben möchten“.

Ausnahmen gibt es dennoch: Die politische Bewegung Úsvit přímé demokracie (dt.: Die Morgendämmerung der direkten Demokratie) von Populist Tomio Okamura verspricht „Schluss mit dem Saustall“ zu machen. Damit meint der Unternehmer und Senator die Politik, wie sie die Tschechen bislang kennen. Mit dem Versprechen der direkten Bürgerbeteiligung und fremden- und romafeindlichen Sprüchen schaffte es Okamura in einer Umfrage der Meinungsforscher von STEM zum beliebtesten Parteichef dieser Wahlen. Er hat eine reelle Chance, ins Parlament einzuziehen.

Auch SPOZ, die Partei der Bürgerrechte – Zemans Leute, vermeldet wenig Positives. Die sozialdemokratische Alternative des Präsidenten schmückt sich mit dem Slogan „Wir haben Kalousek gestoppt“. Der Ex-Finanzminister gilt als Strippenzieher in Schwarzenbergs TOP 09, schon im Präsidentschaftswahlkampf konnte Zeman mit der Antikampagne gegen den unbeliebten Vize-Vorsitzenden seinen eigentlichen Kontrahenten, Karel Schwarzenberg schwächen. Nun soll der Kampf gegen Kalousek auch in der Vergangenheitsform wirken.

Von anderen Plakaten guckt der derzeitige Interimsinnenminister Martin Pecina, neben ihm der direktive Wahlslogan „Wählt Zemans Leute“. Die Kampagne der Zeman-Partei gilt als Reinfall und auch in den Umfragen bleibt SPOZ hinter den Erwartungen zurück – sie könnten an der Fünfprozenthürde scheitern. Und das, obwohl ganze fünf Minister der sog. Beamtenregierung auf die SPOZ-Wahlliste gewandert sind. Das und der Einsatz Zemans garantieren Medienpräsenz – obgleich der Präsident gemäß seiner überparteilichen Stellung im Vorfeld ausgeschlossen hatte, sich in den Wahlkampf einzumischen.

SPOZ und ANO sind am sichtbarsten, und das seit dem Startschuss für den Wahlkampf. Ihre Budgets, auch wenn die beiden neuen Parteien die tatsächliche Höhe ihrer Ausgaben verschleiern, sind um ein vielfaches höher als die ihrer Kontrahenten. Die ODS etwa gibt mit knapp 50 Millionen Kronen (umgerechnet etwa 2 Millionen Euro) rund ein Drittel im Vergleich zu den vergangenen Wahlen ins Abgeordnetenhaus aus. Auch der Wahlfavorit ČSSD muss sparen. Der Wahlkampf kam früh und unerwartet und die Sozialdemokraten sind noch dabei, ihre Schulden von 2010 zu begleichen.Gespart wird an den klassischen Formen des Wahlkampfes – sprich an großen Werbetafeln und pompösen Wahlveranstaltungen. Die Parteien suchen alternative Wege zu den Bürgern, im Internet etwa.

Die ODS setzt auf das in Tschechien wenig verbreitete soziale Netzwerk Twitter. Das Hashtag #Volím_pravici (dt.: Ich wähle Rechts) soll die konservative Wählerschaft zum Zwitschern bringen. Auf Wahlplakaten haben die Bürgerdemokraten ihr Parteilogo, die Friedenstaube, gegen das Twitter-Vögelchen eingetauscht und machen es vor: Es wird gereimt bis zum Zungenkrampf. „Chci stát mladým fandící, proto #Volím_pravici“ – „Ich möchte einen Staat, der die Jungen unterstützt, deshalb wähle ich rechts“.

Etwas unverkrampfter wirkt die TOP 09 in den sozialen Netzwerken. Seit Jahren setzen auch die Grünen auf Facebook und Youtube – das hat nicht nur strategische Gründe. Nachdem die Strana zelených (SZ) vor drei Jahren unter drei Prozent blieb, ist der staatliche Zuschuss für die Partei gestrichen. Ein Video, in dem Grünen-Chef Ondřej Liška über die Farbe der Wählerstimme rappt, brachte den Grünen in nur vier Tagen mehr als 150.000 Aufrufe ein. „Unsere Kampagne seid ihr“, sagen die Grünen und spannen Freiwillige in den Wahlkampf im Netz und auf der Straße ein. Die SZ verweist auf ihre weiße Weste – für eine ehemalige Regierungspartei ist das in Tschechien alles andere als selbstverständlich – und sprüht mit Hochdruckreinigern ihr Logo auf dreckige Wände. Neben der Korruptionsbekämpfung schreiben sich die Grünen Themen wie Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt oder die Einführung von Sozialwohnungen und der Prinzipien der Green Economy auf die Fahnen.

Auch suchen die Kandidaten vermehrt den direkten Kontakt zum Volk: die Grünen treten in die Pedale und kutschieren die Wählerinnen und Wähler mit Rikschas durch die Städte. TOP 09 setzt auf das Bewährte: „Bier mit Karel“. Andrej Babiš verschenkt Berliner aus einer seiner Großbäckereien. Dabei wird er nicht müde zu betonen, er sei kein Politiker, er werde den Staat wie eine Firma führen.

Gerade die Abgrenzung von der Politik als solche ist nicht nur laut dem Politologen Jiří Pehe die besorgniserregendste Neuigkeit im Wahlkampf 2013: „Auch wegen der Skandale der gestürzten Regierung sind heute solche Bewegungen und Parteien gestärkt, die offen zum Angriff gegen das politische System blasen. Ergebnis ist ein ungekannter Vormarsch der Antipolitik." © boell.de



Umfrage-Wahl-Poker
Bei den Oktober-Neuwahlen sollen nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS Aisa sieben Parteien den Sprung ins tschechische Parlament schaffen:

Gewinner der Wahl wären danach die Sozialdemokraten (ČSSD) mit 29 Prozent der Stimmen.

Auf Platz zwei kommen die Kommunisten (KSČM) mit 14,5 Prozent.

Mit 11 Prozent wäre überraschend die Bewegung ANO des Unternehmers und Milliardär Andrej Babiš (s. weiter unten) drittstärkste Partei, die knapp vor der konservativ-liberalen TOP 09 mit 10,5 Prozent liegt.

Die ehemalige Regierungspartei ODS käme auf lediglich 9 Prozent. Den Sprung ins Parlament würden außerdem noch die christdemokratische KDU-ČSL (christdemokratisch) mit 5,5 Prozent sowie die vom Unternehmer Tomio Okamura angeführte Bewegung Dämmerung der direkten Demokratie mit 5 Prozent schaffen. An der Fünf-Prozent-Hürde würden Die Grünen und die Zeman-Partei SPOZ scheitern.

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Der deutsche Wahlkampf ist vorbei, die unterschwellige Parole Keine Experimente (aus den 1950er Jahren) war erfolgreich, die tschechischen Wahlen stehen noch aus.

 

Tomáš Konečný, Mitglied der Initiative Inventura demokracie / Inventur der Demokratie sagt: 1. Das Beunruhigende an der aktuellen Politik in Tschechien ist ganz sicher das Bemühen von Präsident Zeman, eine Art halbpräsidiales oder gar direkt präsidiales System einzuführen, und wie er ganz unverhohlen seine Getreuen in strategisch wichtige Positionen hievt. Man spürt förmlich, dass er denkt, dass ihm hier alles gehört und es nur eine Frage der Zeit ist, wann sich auch die anderen darauf einlassen. Darüber hinaus beunruhigen mich rassistische Haltungen und Äußerungen einiger öffentlicher Amtsträger. Diejenigen, die aus ihren Positionen heraus Träger von Normen sind, beteiligen sich daran, gegen Roma Stimmung zu machen. Mir läuft es beispielsweise eiskalt den Rücken hinunter, wenn ich Artikel des Senators Miroslav Krejčí aus Písek lese und feststellen muss, dass er als Senator des tschechischen Parlaments unverhohlen feindseliges und rassistisches Gedankengut verbreitet. Leider scheint dies mittlerweile mehrheitsfähig zu sein und findet auch nicht mehr im Verborgenen statt. - 2. Die tschechische politische Szene polarisiert das Streben einiger Politiker, sich von der politischen Kultur loszulösen, die Václav Havel nach dem November 1989 verkörperte und die viele Leute als vorbildlich für die gesamte tschechische Politik wahrnehmen. Durch die Angriffe auf Havel durch seine politischen Hauptrivalen Zeman und Klaus wurde er zu einer einfachen Zielscheibe für diejenigen, die von der Entwicklung nach 1990 frustriert sind. Dass Klaus kurz vor dem Ende seiner Amtszeit das Andenken an den bereits verstorbenen Havel mit Dreck bewarf, zeigt, was für ein herausragender Kontrahent Havel für Klaus war. Im Gegensatz zu Klaus haben es diejenigen, die sich als Bewahrer des Vermächtnisses Havels ansehen, nicht nötig, ihn zur eigenen Präsentation zu missbrauchen. © Klára Bulantová/goethe.de.  www.inventurademokracie.cz/

Bitte bei Übelkeit wegen der tschechischen Politiker benutzen



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