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Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren

September 1939 - September 1941

 

Band 3 der Reihe: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945
Bearbeitet von Andrea Löw

 


Der Band dokumentiert die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren seit März 1939 und im Deutschen Reich vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum September 1941.
Nach Kriegsbeginn lebten die deutschen, österreichischen und tschechischen Juden inmitten der Gesellschaft wie Ausgestoßene: sie erhielten mindere Lebensmittelrationen, mussten Zwangsarbeit leisten und in speziellen Judenhäusern auf engstem Raum zusammenwohnen. Auswanderung war kaum mehr möglich. In ersten Deportationen wurden mehrere Tausend nach Polen oder Frankreich verschleppt. Mit der Ausbreitung des Kriegs gerieten immer mehr Juden unter deutsche Herrschaft, und die Verantwortlichen suchten nach einer "Gesamtlösung der Judenfrage". Erste Vertreibungsexperimente scheiterten, die angedachten Lösungen wurden immer radikaler. Im September 1941 waren die Juden im Deutschen Reich durch einen "Judenstern" gekennzeichnet und ihre Deportation stand unmittelbar bevor.


Vorabdruck einiger Texte

 

Der Schriftsteller Walter Tausk notiert am 1. September 1939, wie er in Breslau den Kriegsbeginn erlebt(1)

Tagebuch von Walter Tausk,(2) Eintrag vom 1.9.1939(3) 
 

Freitag, den 1.9.1939.
Keinerlei Zweifel, daß es losgeht. Gestern ist u.a. das gesamte jüdische Krankenhaus, bis auf die Gynäkologie, Siechenhaus und Altersheim, Knall und Fall evakuiert worden, um 380 Betten freizumachen; hat man schon in der vergangenen Woche in anderen hiesigen Krankenhäusern rigoros gewirtschaftet, hier machte Gestapo und Militär eine "negative Ausnahme", d.h.: sie überbot sich in der Unmenschlichkeit; was kein Fieber hatte, wurde nach Hause entlassen, auf die Straße gesetzt oder sonstwie "umgelegt" (teils privat, teils in leere Zimmer des Gemeindehauses, Wallstraße, schwere und schwerste Fälle kamen auf die Gynäkologie); man evakuierte Frischoperierte (z.B. Blinddärme), die kaum transportfähig waren; man warf alte Leute, über 80, die in ausgebauten Mansarden des Krankenhauses ihre Tage beschließen sollten, mit Sack und Pack raus und brachte sie bei den Siechen mit unter: alles wahllos durcheinandergemengt, hierzu kamen Irre und Halbirre. Und nachmittags ein langer Gewitter-Platzregen, als die Evakuierung mitten im Gange war. Eine Vorstudie, wie es in [den] nächsten Tagen aussehen wird, und was dieser "Schittelhuberkrieg"(4) der ahnungslosen Menschheit bringen wird.
Meine Auswanderung ist auf Null. Ich habe am 17.8. das wichtigste, das Fahrgeld, nicht ausgezahlt bekommen (siehe Anlage)(5) und bin also wirklich das Opfer meiner "lieben Glaubensgenossen" (vor denen mich der Himmel weiter bewahren möge) und der eigenen Mittellosigkeit.(6) Mit England ist kein Postverkehr mehr möglich.(7)
Heute morgen von zirka ¾ 5 bis 7 zog es pausenlos über die Stadt gen Osten; Bombenflieger, Jagd- u.a. Flieger. Um ½ 9 erschien die Hausmeisterin mit einem Runderlaß der Polizei: "Alles fertigmachen für plötzliche Verdunkelung und gegen Flieger-Angriffe. Wasser bereitstellen, vor allem Luftschutzkeller instand halten" usw.(8)
11 Uhr vorm.: von 10 - jetzt hörte man durch die Lautsprecher in unserer Nähe die Redeübertragung von "ihm" im Reichstag. Seit Jahren nichts Neues: kein Volk und kein Staatsmann ist so unschuldig, so mißverstanden, verraten und verlästert als "er" und "sein Volk", kein Volk und Staatsmann so ausschließlich friedliebend usw. Die Stimme: gurgelnd, röchelnd, sich verschluckend, dröhnend, jammernd, betend, Mitleid erregend, dann wieder lostobend, um bald wieder zu ersticken. Und an allem hat der Pole natürlich schuld.(9) Dann sang man natürlich auch das Horst-Wessel-Lied: "Kameraden, die Rotfront … erschossen, marschier'n im Geist in unseren Reihen mit."(10) Dies trotz des Russenpaktes.(11) Schittelhuber legte auch für das "festgezimmerte 1000jährige Reich" die Dynastiefolge fest, "falls mir etwas zustößt" (er will nämlich "als einfacher Gefreiter mit hinaus ziehen"). Nach ihm, dem Gefreiten, käme der Generalfeldmarschall Göring, nach diesem (im Falle einer "Zustoßung") der ehemalige Heilgehilfe Hess. Das Haus dröhnte, wie üblich, vor Beifall. - Gleichzeitig marschierten die Truppen bereits überall nach Polen ein.

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Aufbau: Artikel vom 15. September 1939 über die Bedeutung dieses Kriegs für die Zukunft des Judentums

"Auserwählt-" auch in diesem Kampf!
Des ganzen Judentums Schicksal steht auf dem Spiel

m.g.(13) Nun hat die Welt ihren Krieg. Den Krieg, den sie verhüten wollte und den zu verhüten sie nichts tat. Egoistisch-soziale Interessen und eine fast unbegreifliche Stupidität im Begreifen der Situation auf der einen Seite, Größenwahn, Blutdurst und ein manischer Imperialismus auf der anderen haben es zuwege gebracht, daß Europa in ein Schlachtfeld verwandelt wurde. Über den ganzen Erdteil spannt sich ein blutiger Himmel. Und er weint blutige Tränen über sein verlorenes Kind Erde.
Zwischen den Völkern stehen wir Juden. So fern stehen wir diesem Geschehen, daß nicht einmal ein Hitler uns mehr als durch ein paar herausgebrüllte Gewohnheitsphrasen in Berührung zu dem gesetzt hat, was an Grauenhaftem nun geschieht. So fern stehen wir und so nah zugleich, daß der Körper unseres Volkes nicht weniger zerrissen und zerschmettert, gequält und geschändet wird von Feuer und Blei als der anderer Nationen.
Wenn einer vor diesem Krieg hat zittern müssen, weil er um seine Brüder bangte, so war es der Jude. Es mag ein paar unter uns geben, die aus unbeherrschtem Haß und natürlicher Rachsucht freudig erregt die Weltbrandstifter von Berlin in ihre furchtbarste Probe hineintaumeln sahen, aber wer über sich und die Grenzen seiner unreinen und unklaren Gefühle hinaussah, der wußte von vornherein, daß, wenn auch der Jude nichts mit dem Krieg zu tun hat, er von seinem Ausgang abhängt. Diesem Krieg wird und kann niemand entgehen. Die meisten Menschen stehen erst am Anfang des Begreifens. Er ist des Weltkriegs zweiter Teil und wird in seinen Folgen weiterhin die uns gewohnten Lebensformen zerstören. In unreparierbarer Breite und Tiefe. Was an Scheußlichem bereits geschehen ist, ist ein freundliches Kinderspiel gegen das, was noch kommen wird. Die Plätze, auf denen gekämpft wird, sind kleine und enge Bezirke gegen das Ausmaß der Felder, auf denen das Ende entschieden werden wird. Wer mit biblischen Worten sprechen will, kann ruhig sagen, daß hier eine letzte und äußerste Prüfung von höllischen Ausmaßen gekommen ist und daß auf weiten Strecken der Erde kein Stein auf dem anderen bleiben wird.(14)
Niemand von uns weiß, wie die Welt am Ende dessen aussehen wird, was jetzt begonnen hat. Manche Staatsmänner sprechen vom Kampf bis zum "bitteren Ende".(15) Sie stellen sich darunter noch etwas vor. Alles, was jetzt geschieht, ist vorläufig noch faßbar. Aber bald wird alles unfaßbar sein! Was jetzt in Polen vorgeht, diese Zerstampfung eines ganzen Landes, in dem das Kind im Mutterleib bereits nicht mehr sicher ist und Hospitäler für tuberkulöse Mädchen bereits zum Bombenobjekt entmenschter Flieger werden, was in diesem Land geschieht, dessen Felder und Bewohner in einen roten Saftbrei aus zersplittertem Menschenfleisch und zerwühlter Erde zusammengekocht werden, das ist erst der Anfang. Noch sind die Gase nicht losgelassen, noch brach das Feuer nicht aus den Flammenwerfern, noch hat die Vergiftung der Ströme und die Entfesslung des Bazillentodes nicht begonnen.
Dieser Krieg wird das scheußlichste und umfassendste Morden werden, das die Welt gesehen hat. Er muß es werden, weil er von den scheußlichsten und gründlichsten Mördern begonnen wurde, die sich je zu Volksführern aufgeworfen haben. Nicht umsonst hat Hitler den barbarischen Dschingis Khan zum nordischen Arier ernannt. Er brauchte für sein Vorbild den Rassentitel.
Auf solch einen Krieg müssen wir Juden uns einstellen. Wir sind ohnmächtig und schwächer denn je. Drei Millionen allein von uns in Polen sind im Augenblick vor den Gewehren ihrer Todfeinde. Millionen sind behaftet mit dem Aussatz elenden Flüchtlingstums in aller Welt, nicht wissend, über welche Grenzen sie morgen gejagt werden. Nur ein kleiner Bruchteil lebt unter einem günstigeren Himmel. Ja, auch das Land der Zukunft jüdischer Jugend, Palästina, starrt in Waffen, und diese Waffen werden von Juden getragen.
Und deshalb ist dieser Krieg, zu dem wir nichts getan haben in seinen Ursachen und Zielen, auch unser Krieg. Weil es um unser Leben geht. In diesem Krieg entscheidet sich noch viel gründlicher als das Schicksal anderer Völker das Schicksal des jüdischen. Von dem Ausgang dieses Krieges hängt die Zukunft jedes Einzelnen von uns ab. Man kann sich nicht früh und rechtzeitig genug, nicht tief und ernsthaft genug dieser entscheidenden Wahrheit bewußt werden. Denn durch die Kräfte, die diesen Krieg gewinnen werden - und niemand weiß, welche Kräfte das sein werden -, wird wesentlich die gesamte Zukunft des Judentums mitbestimmt werden.
Dieser Krieg ist ja nicht nur ein Krieg der Leiber, sondern auch grundsätzlicher, moralischer Haltungen, so sehr er auch aus den Gasen einer Jauchegrube voll Unmoral in diesen sonnendurchwärmten Herbst hineinexplodiert ist. Und so müssen wir zur Sympathie und zur Tat, die wir im Kampf gegen das Böse stellen, noch eines hinzufügen: den Glauben an den Wert, den wir als ein in einer göttlichen Moral zusammengehaltenes Volk für diese Welt darstellen, in der alle Begriffe schwanken. Wenn der so oft töricht ausgelegte Begriff "auserwählt" einen zeitlichen Sinn in diesen Tagen des beginnenden Chaos hat, so den, daß uns neben dem äußersten Einsatz der Kampfbereitschaft mit allem, was wir sind und haben, noch die tausendfach schwerere Aufgabe zufällt, unseren Menschheitsglauben an Recht und Moral aus dem Tumult zu retten. Nicht nur für uns, sondern für die Welt.
Das ist der Sinn der großen Schicksalsstunde, die mit furchtbar donnerndem Schlag sich für uns angekündigt hat.

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Rica Neuburger nimmt sich im Oktober 1939 aufgrund der Schikanen gegen Juden das Leben (16)
Meldung (ungez.) über den Selbstmord von Rica Neuburger(17) vom 13.10.1939(18)

 
Frau Rica Neuburger, 72 Jahre alt, war seit längerer Zeit herzleidend. Sie wohnte zusammen mit ihrer Schwester(19) in der Zeppelinstr. 161. Große Sorge und Unruhe bereitete ihr die Wohnungsfrage.(20) Sie fürchtete, kein geeignetes Unterkommen zu finden und soll öfters gesagt haben: "Ich lasse mich nicht so herumstoßen."
Die Abgabe des Rundfunkgeräts am höchsten jüdischen Feiertag(21) hat sie sehr mitgenommen.
Die letzten 4 Wochen mußte sie meistens im Bett verbringen. Da die Kranke sich kaum selbst helfen konnte, ließ sie die Schwester fast nie allein zu Hause. Am 1. Tag, als es etwas besser ging, und sie, auf den Stock gestützt, einige Schritte allein gehen konnte, drängte sie die Schwester, einige Besorgungen in der Stadt zu machen. Als diese gegen 6 Uhr abends nach Hause kam und die Kranke weder auf dem Sofa noch im Bett fand, öffnete sie die Küchentüre. Dort saß die Kranke auf einem Stuhl, den Kopf über den Gasherd geneigt. Der Gashahn war geöffnet. Der sofort herbeigerufene Arzt konnte nur noch den Tod feststellen.
Man fand an ihrem Kleid einen Zettel mit einer Stecknadel angeheftet. Der Zettel hatte folgenden Inhalt:
Die Wohnungsfrage und alles, was man uns antut und über uns verhängt, ist zu grausam und schwer und kann ich nicht überleben. Liebe Rosa, habe vielen Dank für Deine Pflege, leb wohl mit allen Lieben. Dort ist man besser wie hier. Ich halte es nicht mehr aus, wie man uns bedrückt. Verzeihe mir den Schritt!
Rica

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Josef Löwenherz berichtet der Gestapo in Wien am 20. November 1939 von Todesfällen in Buchenwald und bittet darum, Juden mit Auswanderungsmöglichkeiten freizulassen(22)

Schreiben des Leiters der IKG Wien, Dr. Josef Israel Löwenherz,(23) an die Geheime Staatspolizei Wien vom 20.11.1939


Im Zuge des Monates September 1939 wurde eine Reihe von staatenlosen Personen, die vormals im Besitze der polnischen Staatsbürgerschaft waren, in Schutzhaft genommen und nach einem vorübergehenden Aufenthalt in verschiedenen Wiener Gefängnissen nach dem Konzentrationslager in Buchenwald bei Weimar gebracht.(24)
Die Israelitische Kultusgemeinde Wien wird seither von den Angehörigen dieser Personen bestürmt, die zuständige Behörde um deren Enthaftung zu bitten. Inzwischen hat eine Anzahl von Familien von der Leitung des Konzentrationslagers Buchenwald die Verständigung erhalten, daß ihre dort in Schutzhaft befindlichen Verwandten verstorben sind; die Urnen sind nach Wien zur Bestattung übersendet worden. Aus den Aufzeichnungen des Friedhofsamtes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien - die selbstverständlich für jeden Außenstehenden unzugänglich sind - ist zu ersehen, daß bisher insgesamt 199 Urnen aus Buchenwald in Wien bestattet wurden. Diese hohe Sterblichkeitsziffer ist darauf zurückzuführen, daß sich unter den in Schutzhaft Genommenen eine größere Anzahl von Personen befindet, für welche wegen hohen Alters oder aus sonstigen Gründen die Haft mit schwerer Schädigung ihrer Gesundheit verbunden ist.
Aus dem Bericht der Israelitischen Kultusgemeinde Wien vom 16. November l.J.(25) ist zu ersehen, daß ein großer Teil dieser Schutzhäftlinge im Besitze von Einreisen(26) ist, die es ihnen sowie ihren Familienangehörigen ermöglichen würden, das Reichsgebiet innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit zu verlassen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß auch andere im Falle ihrer Enthaftung in der Lage wären, sich Einreisebewilligungen zu verschaffen, um dann mit ihren Familienangehörigen auszuwandern. Diese Tatsache würde eine wesentliche Erhöhung der Auswanderungszahlen ergeben und die Tätigkeit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien erleichtern.
Es wird daher gebeten, die Überprüfung der einzelnen Schutzhaftfälle sowie die Enthaftung der Schutzhäftlinge veranlassen zu wollen.(27)
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(1) Biblioteka Uniwersytecka we Wroclawiu, Ako. 1949 KN 1351-1354. Abdruck in: Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933-1940, hrsg. von Ryszard Kincel, Berlin (Ost) 1975, S. 229 f.
(2) Walter Tausk (1890-1941), Handelsvertreter und Schriftsteller; trat 1917 vom Judentum zum Buddhismus über, verfasste Beiträge für buddhistische Zeitschriften, seit 1933 Gelegenheitsarbeiter, am 25.11.1941 von Breslau nach Kaunas deportiert und dort ermordet; Autor von "Olaf Höris Tod. Skizze zu einer Vollmondphantasie" (1924).
(3) Im maschinenschriftl. Original verzichtet der Autor auf Großschreibung.
(4) Gemeint ist: Schicklgruber. Diese Anspielung auf den Geburtsnamen von Hitlers Vater war unter Hitlers Gegnern geläufig, um auf die sowohl kleinbäuerliche als auch uneheliche Herkunft seines Vaters hinzuweisen; Letztere gab zudem zu Vermutungen über jüdische Vorfahren Anlass.
(5) Liegt nicht in der Akte.
(6) Walter Tausk hatte sich seit 1936 um seine Auswanderung bemüht. Am 17.7.1939 erhielt er eine Einreiseerlaubnis für Großbritannien, die Fahrtkosten sollte der Hilfsverein der deutschen Juden, der die Auswanderung in das nicht-palästinensische Ausland organisierte, übernehmen.
(7) Der Postverkehr nach Großbritannien wurde zum 1.9.1939 für die gesamte Kriegsdauer ausgesetzt; Mitte bzw. Ende Sept. 1939 folgte die offizielle Einstellung des Telegraphen- und Fernsprechdienstes.
(8) 10. DVO zum Luftschutzgesetz vom 1.9.1939, RGBl., 1939 I, S. 1570-1572.
(9) In seiner Reichstagsrede vom 1.9.1939 machte Hitler Polen wegen angeblicher Grenzverletzungen für den Kriegsausbruch verantwortlich; Abdruck in: VB (Berliner Ausg.), Nr. 245 vom 2.9.1939, S. 1 f.
(10) Die Zeile lautet vollständig: "Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen/Marschieren im Geist in unseren Reihen mit." Horst Wessel hatte den Text "Die Fahne hoch!" 1929 in der NSDAP-Zeitung Der Angriff veröffentlicht; nach Wessels gewaltsamem Tod im Febr. 1930 avancierte das vertonte Gedicht zu einer Art Parteihymne der NSDAP.
(11) Gemeint ist der deutsch-sowjet. Nichtangriffspakt vom 23.8.1939.
(12) Aufbau, Nr. 17 vom 15.9.1939, S. 1 f. Der Aufbau erschien von Dez. 1934 an in New York und wurde vom German-Jewish Club herausgegeben - bis 1939 14-tägig, danach wöchentlich. Die Auflage stieg von 500 auf 8000 im Jahr 1938.
(13) Vermutlich Dr. Manfred George, geb. als Manfred Georg Cohn (1893-1965), Jurist, Journalist, Schriftsteller; 1917-1923 Mitarbeiter des Ullstein Verlags, 1923-1928 des Mosse-Verlags; 1924 Mitbegründer der Republikanischen Partei Deutschlands (RPD); 1928-1933 Feuilletonchef der Zeitung Tempo, emigrierte 1933 in die Tschechoslowakei, 1938 in die USA, 1939-1965 Chefredakteur des Aufbaus; Autor von "Theodor Herzl: Sein Leben und sein Vermächtnis" (1932).
(14) Die Anspielung zielt auf Jesu Ankündigung der Zerstörung Jerusalems: "Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden […] dich belagern und an allen Orten ängsten; und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist" (Lukas, Kap. 19, Vers 42-44).
(15) Der brit. Minister für die Dominions Anthony Eden (1897-1977) hatte am 11.9.1939 in einer Radioansprache verkündet, der Commonwealth werde, wenn nötig, bis zum bitteren Ende kämpfen, um die Welt von Hitler zu befreien; The Times, Nr. 48408 vom 12.9.1939, S. 8: Nazi leaders' illusions. Mr. Eden on British determination, sowie NYT, Nr. 29816 vom 12.9.1939, S. 18: Text of Anthony Eden's Address.
(16) LBI JMB, Karl Adler Collection, MF 572, reel 2, box 3, folder 1.
(17) Vermutlich Rica Neuburger, geb. Metzger (1867-1939).
(18) Aus dem Original ist nicht ersichtlich, wer die Meldung verfasst hat.
(19) Vermutlich Rosa Adler, geb. Metzger (*1874); am 22.8.1942 nach Theresienstadt und von dort am 29.9.1942 nach Treblinka deportiert; für tot erklärt.
(20) Infolge des Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden vom 30.4.1939 waren viele Juden gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen; RGBl., 1939 I, S. 864 f., siehe auch VEJ 2/277.
(21) Die Radiogeräte mussten an Jom Kippur, der 1939 auf den 23. Sept. fiel, abgegeben werden; siehe auch Dok. 15 vom 28.9.1939, Anm. 5.
(22) Original in Privatbesitz, Kopie: DÖW, 8496. Abdruck in: Widerstand und Verfolgung in Wien 1934-1945. Eine Dokumentation, Band 3: 1938-1945, hrsg. vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1984, S. 266.
(23) Dr. Josef Löwenherz (1884-1960), Jurist; 1911-1915 Delegierter auf dem 10.-15. Zionistenkongresse, von 1918 an Rechtsanwalt in Wien, 1924-1937 Vizepräsident, 1937-1942 Amtsdirektor der
IKG Wien, im Mai 1938 von Eichmann mit der Neuorganisation der Jüdischen Gemeinde Wien beauftragt, nach deren Auflösung am 1.1.1943 offiziell zum Judenältesten in Wien ernannt; 1945 von sowjet. Soldaten wegen Kollaboration verhaftet, nach drei Monaten entlassen, lebte nach 1945 in New York.
(24) Am 7.9.1939 hatte Heydrich die Verhaftung aller männlichen Juden poln. Staatsangehörigkeit sowie die Sicherstellung ihres Vermögens angeordnet. In Wien wurden 1038 Männer verhaftet und ins KZ Buchenwald gebracht. Bis zum Sommer 1940 kamen zwei Drittel von ihnen um.
(25) Nicht aufgefunden.
(26) Gemeint sind Visa bzw. Einreisebewilligungen.

(27) Eine Reaktion auf dieses Schreiben ist nicht bekannt.


 

In einem Merkblatt wird 'ausgesuchten' Parteigenossen die Vorgehensweise in der Nacht vor der Deportation der Stettiner Juden am 12./13. Februar 1940 erläutert(28)

Merkblatt, ungez., o.D.
Merkblatt!
 

 

© Foto: Stettin, Paradeplatz mit Ufa-Palast, wbg.khd-research.net

 

 

 

 

 

 

Durch Ihren Kreisleiter sind Sie ausgesucht, an einer wichtigen Aktion teilzunehmen.(29) Es handelt sich darum, den Regierungsbezirk Stettin möglichst judenfrei zu machen. Durch den Kreisleiter wird Ihnen gemeinsam mit einem oder zwei Parteigenossen bzw. SA-Männern eine bestimmte Judenfamilie zugewiesen werden. Diese haben Sie am 12.2.1940 um 20 Uhr aufzusuchen, sich dort diesem Merkblatt entsprechend zu verhalten und mit den Juden in der Wohnung zu bleiben, bis Sie abgeholt werden. Das wird zwischen 3 und 6 Uhr sein in der Nacht vom 12. auf den 13. Ich erwarte, daß Sie mit der notwendigen Härte, Sorgfalt und Umsicht diesen Befehl ausführen. Die Juden werden versuchen, Sie durch Bitten oder Drohungen oder sonst etwas weich zu stimmen, oder sich widerspenstig zeigen. Sie dürfen sich dadurch in keiner Weise beeinflussen und in der Ausführung Ihrer Pflichten hindern lassen.
In diesem Merkblatt ist niedergelegt, was von Ihnen alles zu veranlassen ist. Diese Regelung kann natürlich nur eine allgemeine sein. Im Einzelfall werden Sie deshalb selbst zu entscheiden haben, was erforderlich ist, um eine ordnungsmäßige Abwicklung zu gewährleisten. Es ist veranlaßt, daß in der Zeit, während Sie sich in der Judenwohnung aufhalten müssen, Streifen in die Wohnung kommen. Diesen Streifen, die sich durch Kriminalmarke oder SD-Ausweis ausweisen, teilen Sie Schwierigkeiten oder Fragen, die sich ergeben haben, mit. Die Streifen sind genauestens unterrichtet, welche Dienststellen in Alarmbereitschaft liegen, und werden diese zu Ihrer Hilfe herbeirufen (z.B. Ärzte, Krankenwagen, NSV, Leute zum Transport des lebenden Inventars usw.). Soweit in der Judenwohnung ein Fernsprechapparat ist, können Sie auch bei der Staatspolizeileitstelle Stettin Rückfrage halten (Ruf-Nr. 3 52 31, Nebenanschluß 770). Ein Zettel, auf dem die wichtigsten Anschlüsse [notiert sind], die für etwaige Rückfragen in Betracht kommen, wird Ihnen gleichzeitig mit dem Merkblatt ausgehändigt.(30) Sie verfahren am zweckmäßigsten folgendermaßen:
1.) Um 20 Uhr begeben Sie sich in die Ihnen zugeteilte Judenwohnung. Vor Betreten der Judenwohnung nehmen Sie mit dem Hauswirt Fühlung und sorgen dafür, daß die Haustür die Nacht über nicht verschlossen wird. Einer von Ihnen wird sich auch in der Folgezeit ab und zu davon überzeugen müssen, daß die Haustür noch offen ist. Dies ist notwendig, damit die Streifen jeweils zu Ihnen gelangen können. Falls die Juden Ihnen den Einlaß verweigern und nicht öffnen, bleibt einer von Ihnen an der Wohnung, während der andere sofort das nächste Polizeirevier benachrichtigt. In der Judenwohnung rufen Sie sämtliche Familienangehörige zusammen und verlesen ihnen die "Staatspolizeiliche Verfügung", die Ihnen ebenfalls zugleich mit dem Merkblatt ausgehändigt worden ist.(31) Die Juden haben nunmehr in einem Raum zu bleiben, den Sie ihnen anweisen. Der oder die Ihnen zugeteilten SA-Männer oder Pg. bleiben während der ganzen Zeit bis zum Abtransport mit den Familienmitgliedern des Juden zusammen. Sie selbst wenden sich an den Haushaltungsvorstand der Judenfamilie.
2.) Mit dem Haushaltungsvorstand gehen Sie durch die Wohnung. Soweit in der Wohnung geheizte Öfen sind, ist nicht mehr nachzulegen. Handelt es sich um Dauerbrandöfen (Kachelöfen oder ähnliches), so ist die Ofentür aufzuschrauben, damit das Feuer noch in der Zeit, die Sie in der Judenwohnung sind, ausgeht. Wenn Sie die Wohnung verlassen, muß das Feuer gelöscht sein.
3.) Alsdann machen Sie sich mit dem Haushaltungsvorstand daran, die Koffer zu packen. Sie müssen dabei beachten, daß nur das in der Staatspolizeilichen Verfügung Vorgesehene mitgenommen wird. Sie sind dafür verantwortlich, daß Wertgegenstände usw., die nach der Verfügung nicht mitgenommen werden dürfen, auch nicht in den Koffer gepackt werden. Soweit Rückfragen bei anderen Familienmitgliedern erforderlich werden, gehen Sie mit dem Haushaltungsvorstand wieder in den Raum, in dem sich alle Juden aufhalten, zurück und lassen sich sagen, was sonst gepackt werden soll. Notfalls lassen Sie den Haushaltungsvorstand da und gehen mit der Jüdin einpacken. Falls Sie 2 Parteigenossen oder SA.-Männer zu Ihrer Unterstützung zugeteilt bekommen haben, kann einer von diesen auch mit einem Familienmitglied packen. Es muß jedoch auf jeden Fall dafür gesorgt sein, daß die übrigen Familienmitglieder auch unter Aufsicht stehen und nicht einen Augenblick allein sind.
4.) Die Decken, die mitgenommen werden dürfen, müssen eingerollt oder doch so gelegt werden, daß sie ohne Schwierigkeiten transportiert werden können.
5.) Gehen Sie mit dem Haushaltungsvorstand durch die Wohnung (auch Keller und Bodenräume!) und stellen fest, was an Lebensmitteln und lebendem Inventar in der Wohnung ist. Diese Sachen tragen Sie, wenn sich das möglich machen läßt, mit dem Haushaltungsvorstand in einem Raum zusammen. Die Streifen benachrichtigen Sie und lassen die Sachen abtransportieren.
6.) a) Füllen Sie mit dem Juden die anliegende Vermögenserklärung aus. Die Erklärung ist von jedem Familienmitglied gesondert zu erstellen. Hier müssen Sie ganz besonders aufmerksam sein, damit der Jude auch auf jeden Fall alles angibt, was er hat. Auch die Außenstände und Schulden müssen genau angegeben werden. Dies ist unbedingt erforderlich. Weiterhin ist zu beachten, daß sehr viele Juden sich Scheinkonten angelegt haben. Weisen Sie diese daraufhin, daß sie verpflichtet sind, auch diese Scheinkonten anzugeben. Vielfach haben die Juden auch ihre Grundstücke mit Hypotheken usw. belastet, die in Wirklichkeit nicht oder doch nicht in der im Grundbuch eingetragenen Höhe bestehen. Auch hier müssen Sie die Juden darauf hinweisen und darauf drängen, daß Ihnen alles angegeben wird. Fragen Sie die Juden auch, ob sie in der Wohnung etwa irgendwelche Geheimfächer haben, sei es nun in der Wand, in Schränken, Tischen oder sonstwo. Auch diese müssen Ihnen angegeben werden. Angegeben werden muß auch, wenn der Jude wertvolle Kunstgegenstände oder besonders wertvolles Mobiliar hat. Soweit Wertgegenstände in der Wohnung angefunden werden, die nicht in der anliegenden Vermögenserklärung fragemäßig vorgesehen sind, so ist der Fragebogen von Ihnen entsprechend zu ergänzen. Der Fragebogen ist in 4facher Ausfertigung für jedes Familienmitglied zu erstellen. Achten Sie darauf, daß der Bogen in deutlich leserlicher Schrift geschrieben wird, wenn der Jude nicht richtig schreiben kann, übernehmen Sie es. Der Fragebogen ist von Ihnen und dem Juden zu unterschreiben.
b) Sämtliche Wertgegenstände (z.B. Ringe, Schmucksachen, Schalen, Ohrringe, Becher usw. aus Edelmetallen) hat der Jude zusammenzutragen. Dazu gehören auch Sparkassenbücher, Hypothekenbriefe und sonstige Papiere von Wert und Bargeld. Diese Gegenstände sind in ein Säckchen zu tun. Ist kein derartiges Säckchen in der Judenwohnung aufzutreiben, so ist ein Koffer oder ein Kopfkissenbezug oder eine sonst genügende Sache zu nehmen. Falls größere Gegenstände vorhanden sind, ist dafür Sorge zu tragen, daß der betr. Behälter auf dem Transport nicht zerreißen kann. Über das, was mitgenommen wird, ist eine ganz genaue Liste in 3facher Ausfertigung zu erstellen. Es ist darin alles genauestens aufzuzählen, z.B. (genau!) wieviel kleine silberne Löffel und wieviel große silberne Löffel, wieviel Silber- und Goldringe, wieviel und welche Sparkassenbücher usw. Die Liste ist von dem Blockleiter, der mit dem Haushaltungsvorstand verhandelt hat, und dem betreffenden Juden zu unterschreiben. Diese Listen sind mit genauer Anschrift zu versehen und mit zu den Wertgegenständen zu legen.
7.) Lassen Sie sich von dem Juden die Personalpapiere zeigen. Sofern ein über 14 Jahre alter Jude nicht im Besitz einer Kennkarte ist, sind für diesen 2 Lichtbilder (möglichst Paßbilder, wenn keine Paßbilder vorhanden, irgendwelche Aufnahmen, die den Juden allein darstellen. Sind auch solche nicht da, so ist doch irgendeine Gruppenaufnahme da. Aus dieser ist dann das Bild des Juden herauszuschneiden) mitzubringen.
8.) Sämtliche Sachen (Koffer, Decken, lebendes Inventar, der zu 6b) erwähnte Behälter, sowie diejenigen Wohnungsschlüssel, die Sie abzuziehen und der Polizei abzugeben haben - vergl. Ziffer 9! -) sind mit haltbaren Schildern zu versehen, auf der Name und genaue Wohnungsangabe des jüdischen Eigentümers an[zu]geben(33) ist. Diese Schilder müssen fest angebracht sein, damit sie auf keinen Fall abgehen. Die Beschriftung muß deutlich lesbar sein. Diese Schilder müssen Sie noch in der Wohnung fertigen und an den genannten Gegenständen [befestigen].(34) Außerdem muß jeder Jude ein Schild um den Hals tragen, auf dem sein Name und Geburtstag angegeben sind.
9.) Sind Sie dann mit der Aufstellung der Verzeichnisse, Sichtung der Wohnung, Boden- und Kellerräume, die - wie ich noch einmal betonen muß - nur gemeinsam mit dem jüdischen Haushaltungsvorstand vorgenommen werden darf, fertig, so warten Sie noch in der Wohnung. Frühestens um 3 Uhr nachts werden Sie dann von einem Kraftwagen abgeholt werden. Ich weise darauf hin, daß zu diesem Zeitpunkt aber auch alles in der Wohnung geregelt sein muß! Sie müssen sich also auch überzeugt haben, daß bis auf das Zimmer, in dem Sie sich mit den Juden aufhalten, in den übrigen Zimmern die Feuer ausgegangen sind, das elektrische Licht gelöscht ist, daß Gas und Wasser abgestellt ist, Fenster geschlossen sind. Auch in dem Raum, in dem Sie mit den Juden warten, muß bis 3 Uhr das Feuer ausgegangen sein. Wenn Sie dann abgeholt werden, so nehmen Sie die eingesammelten Wertsachen und verlassen gemeinsam mit den Juden die Wohnung. Die Wohnungstür schließen Sie ab. Den Türschlüssel nehmen Sie an sich, ebenso den Schlüssel zur Haustür, nachdem Sie auch an diesem Schlüssel einen entsprechenden Zettel (aus Pappe o.ä.) [mit](35) Wohnungsangabe befestigt haben. Alsdann versiegeln Sie die Wohnung so, wie Ihnen das durch den Kreisleiter erklärt werden wird. Außerdem schreiben Sie die Uhrzeit, um die Sie die Wohnung verlassen, auch auf das Siegel und machen weiterhin auf jedes Ende 2 gekreuzte Tintenstiftstriche, die auch noch bis auf den Holzpfosten reichen. Erst dann dürfen Sie sich auf die Straße begeben.
Es kann nun auch sein, daß der Jude in Untermiete wohnt, in diesem Fall ist selbstverständlich nur die Tür zu der Wohnung, in der der Jude wohnt, zu versiegeln, jedoch nicht nur der zu dieser gehörende Schlüssel von Ihnen mitzunehmen, sondern auch der dem Juden vom Vermieter ausgehändigte Korridor- und Hausschlüssel. Falls in der Wohnung des Juden wiederum Arier als Untermieter wohnen, so sind sämtliche Türen der Wohnung zu versiegeln. Die Schlüssel zu den einzelnen Räumen sind in der vorgesehenen Weise mit einem Schild zu versehen. Kommt es vor, daß eine arische Familie mit den Juden eine Küche benutzt, so sind die dem Juden gehörenden Gegenstände aus der Küche herauszuholen und in den Wohnraum zu bringen. Es ist in solchen Fällen auch festzustellen, wie die Gas- und Lichtzähler stehen, und dieses auf einen Zettel zu schreiben unter Angabe des Namens und der Wohnung des Juden. Falls sich irgendwelche Zweifel bei derartigen Verhältnissen ergeben, ist bei der Streife oder bei der Staatspolizeileitstelle direkt anzufragen.
10.) Die Fahrt von der Judenwohnung bis zum Hafen macht nur der Blockleiter mit, der mit dem Haushaltungsvorstand die Verhandlung geführt hat. Der oder die anderen sind in diesem Augenblick entlassen. Am Hafen angekommen, meldet der Blockleiter seine Juden und übergibt das Päckchen mit den Wertsachen und die Schlüssel. Ebenfalls sind dieses Merkblatt, die den Juden zu verlesende staatspolizeiliche Verfügung und die nicht gebrauchten Siegelmarken oder Klebestreifen zurückzugeben! Das Weitere erfährt er dann dort.
Über die Durchführung und den Verlauf der Aktion ist auch nachher strengstes Stillschweigen zu wahren. Sie werden ausdrücklich auf Ihre Geheimhaltungspflicht hingewiesen.

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Himmler ordnet am 10. April 1940 für die Dauer des Kriegs eine Entlassungssperre für Juden an, die in Konzentrationslagern einsitzen(36)

Funkspruch des RSHA, IV C 2(37) (Allg. Nr. 28/731/40 KL. G), ungez., an alle Staatspolizeileit- und Staatspolizeistellen vom 10.4.1940(38)

 

 

Dringend - Sofort vorlegen - Geheim -
Der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei hat für alle in den KL. einsitzenden jüdischen (Unterstr.) Häftlinge für die Dauer des Krieges allgemeine Entlassungssperre angeordnet. Er hat jedoch gleichzeitig mitteilen lassen, daß er der Entlassung von Juden, deren Auswanderung bereits vorbereitet ist und die in Kürze - Apr[il] - auswandern können, zustimmt, sofern politische und andere Bedenken nicht bestehen - Alle hier bereits vorliegenden Anträge auf Entlassung von jüdischen Häftlingen haben dadurch ihre Erledigung gefunden -
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(28) RGVA, 503k/1/337, Kopie: USHMM, RG-11.001M04, reel 72.
(29) Die Gestapo organisierte die Stettiner Deportationen in Zusammenarbeit mit der NSDAP-Kreisleitung.
(30) Liegt nicht in der Akte.
(31) Laut staatspolizeilicher Verfügung hatten die betroffenen Juden sieben Stunden Zeit, einen Koffer mit dem Notwendigsten zu packen, darunter Bekleidung, Decken und Geschirr, nicht aber. Wertpapiere, Devisen, Schmuck u.ä. Zudem wurden sie angehalten, ein Schild mit ihrem Namen und Geburtsdatum um den Hals zu tragen; wie Anm. 28.
(32) Liegt nicht in der Akte.
(33) Wort teilweise unleserlich.
(34) Ein Wort unleserlich.
(35) Ein Wort unleserlich.
(36) BArch, R 58/276, Bl. 252.
(37) Das Referat IV C 2 war zuständig für sog. Schutzhaftangelegenheiten und wurde von Dr. Emil Berndorff (*1892) geleitet.
(38) Der Funkspruch wurde am 10.4.1940 um 9.35 Uhr in Berlin aufgegeben, von der Gestapo Düsseldorf aufgenommen und enthält handschriftl. Vermerke.

 

 

The New York Times: Interview mit Nahum Goldmann vom Jüdischen Weltkongress, in dem dieser am 25. Juni 1940 vor der Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden warnt(39)

Nazi-Agitation dient als Deckmantel. Propaganda nur Tarnung, um Demokratie zu zerstören


Der Versuch des Nazi-Regimes, Amerika durch Propaganda und Antisemitismus zu erobern, ist nur der Deckmantel, hinter dem es sein eigentliches Ziel verbirgt: die Zerstörung der demokratischen Institutionen. Dies stellte Dr. Nahum Goldmann,(40) der Vorsitzende des Verwaltungskomitees des Jüdischen Weltkongresses, gestern fest, nachdem er letzten Freitag, aus der Schweiz kommend, hier eingetroffen war.
"Falls die Nazis den Endsieg erringen sollten", sagte Dr. Goldmann in einem Interview im Hotel Astor, "sind sechs Millionen Juden in Europa zum Untergang verurteilt. Ihre einzige Hoffnung liegt in einem Sieg der Briten."
Er forderte die amerikanischen Juden auf, sich dem Beispiel des amerikanischen Volks anzuschließen, und drängte sie zur Bildung einer geschlossenen Verteidigungsfront. Er kündigte die Gründung eines Panamerikanischen Jüdischen Kongresses an, um die Rechte der Juden zu schützen, und teilte mit, dass diese Körperschaft schon bald unter Beteiligung der lateinamerikanischen Delegationen hier in diesem Land zu ihrer ersten Sitzung zusammentreffen werde.(41)
"Die Chancen für eine Massenemigration und Ansiedlung der europäischen Judenheit scheinen gering zu sein, und die europäischen Juden sehen sich mit der drohenden physischen Vernichtung konfrontiert", führte er weiter aus. "Selbst die 4 000 000 Juden unter sowjetischer Herrschaft, die zurzeit frei von rassistischer Diskriminierung sind, werden im Fall eines Endsiegs der Nazis nicht sicher sein."
Dr. Goldmann erklärte, dass der Hauptsitz des Jüdischen Weltkongresses in den Vereinigten Staaten eingerichtet werde. Er ergänze die bereits bestehenden Niederlassungen in London und Genf sowie das neu eingerichtete Büro in Buenos Aires. Die Pariser Niederlassung der Organisation sei an dem Tag, an dem die Nazis Paris besetzten, geschlossen worden.

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Paul Eppstein notiert am 20. Dezember 1940, wie anlässlich seiner Vorladung bei der Gestapo seine eigene Inhaftierung erörtert wird(42)

Aktennotiz (Dr. E./My), gez. Dr. Eppstein,(43) zur Vorladung im Geheimen Staatspolizeiamt, Regierungsassessor Jagusch,(44) am 20.12.1940, 10 Uhr
 

 

2.(45) Betrifft: Schutzhaft Dr. Paul Israel Eppstein
Ass. Jagusch bemerkt, daß mir der Grund für die Schutzhaft wohl bekannt sei. Ich erwidere darauf, daß mir nicht bewußt sei, einer Weisung der Zentralstelle nicht entsprochen zu haben, daß vielleicht ein Mißverständnis, namentlich im Hinblick auf die Ausgestaltung des Nachrichtenblatts, worüber eine Erörterung mit Herrn HSTF Dannecker(46) stattgefunden habe, vorliege. Ich wies darauf hin, daß während der gesamten Zeit, in der ich die einschlägigen Arbeiten im Auftrag der Reichsvereinigung und nach dem Willen der Behörde zu führen hatte, keinerlei Beanstandungen in dieser Hinsicht erfolgt sei[en]. Ich wäre daher für eine Mitteilung des Grundes dankbar. Ass. Jagusch bemerkt, daß einmal die Behandlung der Frage des Nachrichtenblatts beanstandet wurde,(47) darüber hinaus aber die Befolgung von Anordnungen oder ihre verzögerte Durchführung zur Beanstandung Anlaß gegeben hätten, weiterhin Vorstellungen bei Behörden ohne Wissen oder gegen die ausdrückliche Anordnung des zuständigen Referats. Ich bemerke, daß mir in dieser Hinsicht nichts bewußt sei, namentlich was solche Behördenvorstellungen angehe, es sei denn, daß sie, mir unbekannt, von Mitarbeitern erhoben worden sind und ich als verantwortlicher Abteilungsleiter dafür einzustehen hatte. Ass. Jagusch hält dies für möglich. Auf meine Frage, ob hierüber eine Erörterung mit Herrn STBF Eichmann ermöglicht werden könne, antwortet Ass. Jagusch nach einem Telefongespräch, daß Anfang Januar eine solche Erörterung stattfinden könne.
Ich bemerke, daß die allgemeine Begründung in dem Schutzhaftbefehl im Unterschied zu dem besonderen Anlaß der Verhaftung von Dr. Seligsohn(49) keinen Tatbestand enthielt, der den unmittelbaren Anlaß der Verhaftung klargestellt hätte.(50) Ass. Jagusch bemerkt, daß die Gründe, die zu meiner Verhaftung Veranlassung gegeben hätten, auch schwerwiegender gewesen seien als diejenigen bei Dr. Seligsohn. Ich bemerke darauf, daß diese Tatsache die Hoffnung begründe, daß die Haft bei Dr. Seligsohn nicht so lange dauere wie die meinige. Ass. Jagusch bemerkt darauf, daß diese Frage zunächst bis zur nächsten Erörterung ruhen müsse.
Ich erbat die Möglichkeit einer Unterredung mit STBF Eichmann mit der Begründung, daß ich mich durch die Schutzhaft in der etwaigen Fortsetzung meiner Arbeit behindert und mich verpflichtet fühle, um die Entlassung aus dem Amt zu bitten. Ass. Jagusch bemerkt hierauf, daß dies nicht in Betracht komme, daß er mich vielmehr neu in die Arbeit einsetze.(51)

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Martha Svoboda aus Wien macht sich am 20. Februar 1941 Sorgen wegen der Deportation ihrer Eltern aus Wien ins Generalgouvernement(52)

Handschriftl. Tagebuch von Martha Svoboda,(53) Wien, Eintrag vom 20.2.1941


Nach dem Besuch bei den Großeltern bin ich jedesmal in furchtbarer Stimmung. Wir wissen jetzt, daß es keine Altersgrenze gibt, alle werden weggeschickt, kleine Kinder, Greise, ja sogar Kranke werden aus dem Spital geholt und werden abtransportiert, ins Ungewisse, ins Elend.(54) Gipfelpunkt der Niedertracht: Die Kultusgemeinde muß Lebensmittelpakete beistellen, die dann am Bahnhof von den nationalsozialistischen Ordnern verteilt werden, das Ganze wird gefilmt und dem Ausland vorgesetzt,(55) dem dann auch erzählt wird, wie gut doch die Juden hier behandelt würden und wie zufrieden und glücklich sie seien, in die neue Heimat zu kommen. Arme, arme Mama!(56) Und ich muß zusehen, wie sie immer mehr und mehr verfällt, und kann ihr nicht helfen. Grete(57) in Amerika, Paul(58) irgendwo in Rußland, ich weiß, wie schwer sie unter dem Gedanken leidet, beide vielleicht nicht mehr zu sehen. Ich frage mich mit Entsetzen, wie die beiden alten Leute eine solche "Übersiedlung" überstehen werden. Wann endlich werden diese furchtbaren Verbrechen gesühnt werden! Wann werden wir wieder leben können?

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Das Ehepaar Malsch berichtet seinem Sohn am 24. Juni 1941 von der Schließung des US-Konsulats in Stuttgart und der damit verhinderten Auswanderung(59)

Handschriftl. Brief des Ehepaars Malsch,(60) Düsseldorf, an seinen Sohn Wilhelm und dessen Frau Trude(61) vom 24.6.41(62)


Meine lieben lieben Kinder! Unsern Brief vom 19. ds, worin wir Euch die Anschrift des Konsulats in Stuttgart(63) mitteilen, habt Ihr wohl inzwischen erhalten. Stuttgart ist ab Donnerstag den 26. ds geschlossen. Wie wir Euch schrieben, war ich zu heute bei dem Hilfsverein hier bestellt. Ich bin trotzdem mal hingegangen. Es ist jetzt ein Herr Kluger aus Essen hier für die hiesige Stelle. Er hatte unsere Akten vorliegen. Wenn nun nichts dazwischengekommen wäre hätten wir Euch ein Kabel gesandt. Also Herr Kluger sah sich unsere Akten durch, er sagte, Frau Malsch, Sie hätten todsicher das Visum bekommen, Trust, Bond, Reise bezahlt alles in Ia Ordnung. Er sagte, ich könnte mir selbst vor den Kopf schlagen Sie waren so nahe dran, der Konsul wollte nur noch mal eine Rückfrage wegen des Herrn Marschütz haben. Es war bei Ihnen alles prima. Jetzt ist leider nichts mehr zu machen, wir müssen abwarten, wie alles kommt. Geliebte Kinder wie mir zu Mute war, könnt Ihr Euch überhaupt gar nicht vorstellen. Sollen wir denn gar nicht zusammenkommen? Es ist doch zu schrecklich, alles und alles geht uns schief. Ihr habt alles nun mit größter Mühe und großen Kosten zusammengebracht, und jetzt war alles umsonst. Es ist einfach nicht auszudenken. Wie sind wir jetzt mit allem wieder zurückgeworfen, vielleicht um Jahre, ob wir dann noch leben, das weiß der l. Gott nur allein. Unser Herzens-Wunsch Euch wiederzusehen, hat uns noch aufrechterhalten, und weiß wie alles noch kommt. Ich bin so niedergeschlagen wie noch nie in meinem Leben, alles ist so hoffnungslos für uns geworden, was haben wir denn sonst noch auf der Welt als Euch. Herr Marschütz schrieb uns dieser Tage, er wird nun mit abreisen, hoffentlich. Was soll man machen, wir müssen alles wagen, wie es kommt, aber das ist ein Schlag für uns, den Ihr Euch nicht denken könnt. Ihr tut mir auch schrecklich leid, ich glaube, ich hätte vor lauter Freude in den ersten Stunden keine Silbe herausbringen können, wenn wir dort angekommen wären. Es hat nicht sollen sein. Bitte gebt uns sofort eine Antwort. Euer letzter Brief war vom 21. Mai, seitdem haben wir nichts mehr von Euch gehört, wir warten täglich auf Post von Euch.
Geliebtes Mäusle. Zu Deinem 28. Geburtstage meine allerherzlichste Gratulation, möge der l. Gott dich weiter behüten und beschützen und Dich segnen, Gesundheit und Glück sei Dir an der Seite deiner lb. Trudi beschieden. Ich kann es in Worten gar nicht sagen, was ich Euch als Mutter alles wünsche. Einen herzhaften Geburtstags-Kuß gebe ich Dir hiermit, Du lb. Trudi, gib ihn Willy für mich. Feiert den Tag ein bißchen. So haben wir bestimmt gehofft, in diesem Jahr bei Euch sein zu können, es hat nicht sollen sein, das Schicksal wollte es anders. Wer weiß, wann wir uns nun wiedersehen, hoffen wir weiter, es ist das einzige noch was wir haben. Wir werden leider immer älter und nicht schöner. Ich kann mir oft gar nicht vorstellen, daß Du nun schon 28 Jahre alt bist. 4 ½ Jahre haben wir Euch nun schon nicht gesehen und wer weiß, wie lange es noch dauert. So meine geliebten Kinder, laßt es Euch weiter recht gut gehen, bleibt gesund und glücklich. Wir müssen abwarten, was weiter kommt und alles hinnehmen und ist es noch zu schwer für uns. Es hat nicht sollen sein, die Freude wäre zu groß für uns gewesen. Grüßt alle Lieben, auch Frau Fraenkel, recht herzlich.
Schreibt recht bald eine Antwort. Seid herzl. gegrüßt und geküßt Euch Euch sehr liebende und betrübte Mutter.
 

© Foto: Stuttgart-Sammelstelle Killesberg, 1941
 

 

 

Meine lieben Kinder. Das ist nun das Ergebnis Eurer Mühe, unseres Hoffens u. Harrens. Wenn nicht ein Wunder geschieht, daß die Regierung dort [???] Eltern "auch so" hereinläßt, dann kann's noch lange dauern! Dir l. Willy zu Deinem Geburtstag beste, herzlichste Glückwünsche, bleib gesund, bleib zu Haus in diesen Zeiten. Viele Grüße u. Küsse Euch beiden in alter Liebe Euer Papa

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Kurt Mezei notiert am 19. September 1941 in sein Tagebuch, er trage den gelben Stern mit Stolz(68)

Tagebuch von Kurt Mezei,(69) Wien, Eintrag vom 19. September 1941


Freitag, 19. September.
Große Premiere der Judensterne. Ich gehe gegen 10 h in die Kartenstelle,(70) wo [ich] bis 1 h [war]. Ich stehe fast die ganze Zeit vor der Kartenstelle, da es mir Freude bereitet, von den Leuten angestarrt zu werden. Habe Schlosseranzug an. Nachher mit Mimi, die [ich] vor der Kartenstelle treffe, zum Kai, von dort fahre [ich] in Pension. Von hier ins Spital, von wo [ich] mit Stadtbahn heimfahre...
Zu Mittag ist Miry kurz da, am Nachmittag schreibe [ich] an Papa,(72) stopfe. Um 6 h im Tempel (von heute bis inkl. 10 Oktober beginnt der G'ttesdienst um 6 h), nachdem [ich] vorher für Feldsberg die Zeitung hole - und lese - und bei Mama.(73) G'ttesdienst heute ohne Chor. Stehe neben Murmelstein(74) - Loge. Heim am Abend mit Ilse(75) & Edith. Letztere trägt seit vergangener Woche Brillen und ist heute besonders mies...
Der Judenstern stört mich gar nicht, im Gegenteil: Ich trage ihn mit Stolz!(76)
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(39) The New York Times, Nr. 30103 vom 25.6.1940, S. 4: Nazi Publicity here held smoke screen. Das Dokument wurde aus dem Englischen übersetzt. Die Tageszeitung The New York Times erscheint seit 1851.
(40) Dr. Nahum Goldmann (1895-1982), Jurist; Redakteur der Encyclopaedia Judaica; 1926-1933 Vorstandsmitglied der ZVfD; emigrierte 1933 in die Schweiz, 1934-1940 Vertreter der Jewish Agency for Palestine beim Völkerbund, 1936 Mitbegründer und dann Vorsitzender des geschäftsführenden Vorstands des jüdischen Weltkongresses; 1951-1977 Präsident des Jüdischen Weltkongresses sowie 1956-1968 der Zionistischen Weltorganisation.
(41) Die erste panamerik. Konferenz des Jüdischen Weltkongresses fand im Nov. 1941 in Baltimore statt. Zu den dort aufgestellten Forderungen zählten Hilfs- und Entschädigungsleistungen für Opfer des Nationalsozialismus, die Wiedererlangung der Rechtsgleichheit für Juden und die Beteiligung an einer etwaigen Friedenskonferenz; NYT, Nr. 30621 vom 25.11.1941, S. 6, sowie Nr. 30622 vom 26.11.1941, S. 9.
(42) BArch, R 8150/45, Bl. 101.
(43) Dr. Paul Eppstein (1902-1944), Soziologe; Vorstandsmitglied beim Verband der jüdischen Jugendvereine, Zionist; 1926-1933 Privatdozent an der Handelshochschule Mannheim, 1933 Entlassung, lehrte in den 1930er-Jahren an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin Soziologie; von 1935 an Sozialreferent in der Reichsvertretung der Juden und deren Verbindungsmann zur Gestapo; wurde am 26.1.1943 nach Theresienstadt deportiert, war dort von Jan. 1943 bis zum 27.9.1944 Judenältester und wurde einen Tag später ermordet.
(44) Dr. Walter Jagusch (1912-1981), Jurist; 1932/33 SA Mitglied, 1933 NSDAP-, 1939(?) SS-Eintritt; von 1939 an im Gestapa, dann im RSHA, leitete das Referat IV A 5 (Emigranten), von 1940 an zusätzlich für "Judenangelegenheiten" zuständig, Ende 1940 bis 1942 zeitweise Leiter der Gestapo in Straßburg; 1942/43 in Riga, wo er 1943 eine Einsatzgruppe gegen Partisanen führte, von Mai 1943 an beim SS- und Polizeigericht in Metz; nach Kriegsende untergetaucht, von 1952 an Rechtsanwalt in Bielefeld.
(45) Das Protokoll beginnt hier, die Bedeutung der Ziffer ist unklar.
(46) Theodor Dannecker (1913-1945), Kaufmann; 1932 NSDAP- und SS-Eintritt; seit 1936 im SD tätig, von 1937 an im SD-Referat II 112 bzw. im Referat IV B 4 des RSHA für die "Judenfrage" zuständig; von Sept. 1940 an "Judenberater" beim BdS im besetzten Frankreich, organisierte 1942 die Deportation der franz. Juden, 1943 die Deportationen aus Bulgarien, 1944 die aus Italien und Ungarn; 1945 von US-Truppen gefangen genommen, nahm sich das Leben.
(47) Eppstein wurde vorgeworfen, einen Artikel im Jüdischen Nachrichtenblatt geändert zu haben, nachdem dieser bereits genehmigt worden war.
(48) STBF: Sturmbannführer.
(49) Dr. Julius Ludwig Seligsohn (1890-1942), Jurist; von 1924 an Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Berlin, bis 1933 Rechtsanwalt in Berlin, von 1933 an Präsidialmitglied der Reichsvertretung und Präsidiumsmitglied des Hilfsvereins der Juden in Deutschland, nach Gründung der Reichsvertretung 1939 Vorstandsmitglied; Nov. 1940 Verhaftung, am 18.3.1941 nach Sachsenhausen deportiert, dort am 28.2.1942 gestorben.
(50) Der Schutzhaftbefehl liegt nicht in der Akte. Eppstein war am 15.8.1940 mit der Begründung verhaftet worden, er habe sich Anordnungen der Zentralstelle widersetzt. Vermutlich ging es um die Abfahrt eines illegalen Transports nach Palästina, den Eppstein nicht abgehen lassen wollte. Die Gestapo ordnete jedoch die Abreise an; siehe Dok 120 zum Herbst 1940. Julius Seligsohn war ins KZ Sachsenhausen verschleppt worden, da er für eine öffentliche Protestaktion der Reichsvereinigung gegen die Deportation der Juden aus Baden und der Pfalz verantwortlich gemacht wurde.
(51) Eppstein, der kurz vor dieser Vorladung aus der Haft entlassen worden war, durfte in der Folge keine Auswanderungsangelegenheiten mehr bearbeiten.
(52) Original in Privatbesitz, Kopie: IfZ/A, F 601.
(53) Martha Svoboda (1900-1984), Hausfrau, lebte in Wien in einer "privilegierten Mischehe". Das Tagebuch schrieb sie für ihr Kind.
(54) Im Februar und März 1941 wurden etwa 5000 Juden aus Wien ins Generalgouvernement deportiert.
(55) Nicht ermittelt.
(56) Sara Müller (1867-1942), wurde am 28.7.1942 nach Theresienstadt deportiert, wo sie drei Monate später starb.
(57) Grete Wagschal, geb. Müller (1914-1998); die Schwester von Martha Svoboda emigrierte in die USA, lebte zuletzt in Denver, Colorado.
(58) Paul Müller (1905-1941?), Tapezierer, war Martha Svobodas Bruder. Er wurde am 20.10.1939 nach Nisko deportiert, floh in Richtung Lemberg, kam vermutlich 1941 ums Leben.
(59) USHMM, RG-10.086 /13 of 13.
(60) Amalie Malsch, geb. Samuel (1889-1942); verheiratet mit dem Handelsvertreter Paul Malsch (1885-1942). Das Ehepaar lebte in Düsseldorf und wurde am 27.10.1941 mit dem ersten Düsseldorfer Transport ins Getto Litzmannstadt (Lodz) deportiert und im Mai 1942 in Kulmhof ermordet.
(61) Wilhelm Malsch, später William Ronald Malsh (1913-1994), einziger Sohn von Amalie und Paul Malsch, emigrierte um die Jahreswende 1935/36 nach Großbritannien, von dort im Jan. 1937 in die USA, wo er im Sommer 1940 Trude heiratete.
(62) Interpunktion wie im Original.
(63) Gemeint ist das US-Konsulat in Stuttgart, wo das Ehepaar Malsch ein Visum beantragt hatte.
(64) Vermutlich: Siegfried Kluger (*1899), lebte zuletzt in Essen und leitete von 1941 an die Bezirksstelle der Reichsvereinigung der Juden; am 10.11.1941 nach Minsk deportiert und dort vermutlich umgekommen.
(65) Trust: Vermögenswerte-Verwaltung zugunsten eines Dritten, dem Treuhandverhältnis ähnlich; Bond: Anleihen, Schuldverschreibung mit fester Verzinsung.
(66) So im Original. Gemeint: "Eure".
(67) Ein Wort unleserlich.
(68) JMW, Inv.Nr. 4465/3, Tagebuch von Kurt Mezei, Heft 3.
(69) Kurz Mezei (1924-1945), Schüler; besuchte mit seiner Zwillingsschwester Ilse das Wiener Chajes-Gymnasium bis zu dessen Schließung im Okt. 1938; nahm an Umschulungskursen der IKG teil, 1940/41 als Elektriker und Bote der IKG tätig, wurde am 15.10.1941 ins "Zimmer 8" versetzt, wo er an der administrativen Vorbereitung der Deportationen mitwirken musste; er wurde am 12.4.1945 von einer SS-Einheit erschossen.
(70) In dieser Abt. der IKG wurden seit Nov. 1940 die Lebensmittelkarten für die Wiener Juden ausgegeben. Hier wurde die jüdische Bevölkerung vollständig erfasst, da Juden nirgendwo sonst Bezugsmarken bekamen.
(71) Vermutlich: Marianne Neuwirth (1924-1942), Schülerin; wurde am 14.9.1942 nach Maly Trostinez deportiert und dort ermordet.
(72) Moritz, auch Maurus Mezei (1886-1944), Journalist, Schriftsteller; bis zu deren Verbot 1934 SPD-Mitglied; floh Ende 1938 nach Ungarn, im Sommer 1939 nach Italien, 1940 im Internierungslager in Urbisaglia, Nov. 1943 im Lager Fossoli inhaftiert, wurde im April 1944 nach Auschwitz deportiert, dort im Sept. ermordet.
(73) Margarete Mezei (1899-1993), Sekretärin; arbeitete für die IKG Wien, war u.a. Sekretärin Benjamin Murmelsteins, überlebte schwer verletzt einen Bombenangriff am 12.3.1945; arbeitete nach dem Krieg wieder für die IKG Wien.
(74) Dr. Benjamin Murmelstein (1905-1989), Rabbiner; von 1938 an in leitender Position in der IKG tätig, u.a. Leiter der Auswanderungsabt.; im Jan. 1943 nach Theresienstadt deportiert, dort 1944/45 Judenältester; 1945-1947 wegen Kollaboration in tschechoslowak. Untersuchungshaft, wanderte danach nach Italien aus.
(75) Ilse Mezei (1924-1924), Schülerin; die Zwillingsschwester von Kurt Mezei besuchte einen Umschulungskurs der IKG Wien für Musiker, 1940/41 Arbeit in der Telefonzentrale der IKG; kam am 12.3.1945 bei einem Bombenangriff auf Wien ums Leben.
(76) In der Jüdischen Rundschau vom 4.4.1933 hatte der Schriftsteller und Journalist Robert Weltsch (1891-1982) als Reaktion auf den Boykott vom 1.4.1933 von den deutschen Juden gefordert: "Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!"; VEJ 1/25.


 

Heimann Stapler berichtet nach seiner Emigration im Oktober 1939, wie sich die Lage der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren seit Kriegsbeginn verschärft hat(77)

Bericht Heimann Stapplers(78) vom Oktober 1939(79)
Situationsbericht aus Prag.

Einleitend soll bemerkt werden, daß gerade im Zeitpunkte unserer Abreise, d.i. vom 13.-15.10.1939, sich die Lage der Juden im Protektorate ganz wesentlich verschärft hat und die bereits vorher schwere Situation sich zu einer wahren Katastrophe auszuweiten droht. Über die Verhältnisse vor dem Kriegsausbruche wurden die maßgebenden Faktoren durch unsere Vertreter beim Kongreß(80) sicherlich informiert, weshalb nur über die Maßnahmen nach dem ersten September die Rede sein soll.
Die eingetretenen Kriegsereignisse haben sich für die Juden im Protektorate katastrophal ausgewirkt, und es besteht die Gefahr der völligen Vernichtung und Versklavung dieses sicherlich wertvollen Teiles des Judentums. Es handelt sich da um etwa 82 000 Menschen, die bei der Registrierung der Nichtarier als Volljuden erfaßt worden sind, davon etwa 16 000 im Alter [von] 6-24 Jahren, neben 15 000 bis 20 000 Nichtariern nach den Nürnberger Gesetzen, deren Betreuung gleichfalls der Kultusgemeinde anbefohlen wurde.
Das Charakteristische bei den gegen die Juden angeordneten Beschränkungen liegt darin, daß sie weder durch Verordnungen der Deutschen noch der tschechischen Behörden eingeführt wurden, sondern über mündlichen Auftrag der Gestapo an die Kultusgemeinde in Prag, die ihrerseits alle anderen Kultusgemeinden zur Durchführung der Beschränkungen auffordern mußte.
Seit dem 1. September 1939 sind den Kultusgemeinden nachstehende Maßnahmen zur Durchführung angeordnet worden:
1. Registrierung aller polnischen bez. in Polen geborenen Juden innerhalb von 24 Stunden.(81)
2. Ausgehverbot für Juden nach 8 Uhr abends. Angeordnete Zeitdauer für die Durchführung dieses Verbotes 4 Stunden.(82)
3. Abgabe der Radioapparate, angeordnet am 22.9., d.i. Erev Jom Kippur,(83) 4 Uhr Nachmittag mit der Weisung, am Jom Kippur selbst die Radioapparate an die Kultusgemeinden abzuführen. Ausnahmen, die Radioapparate auch noch am Tage nach Jom Kippur bis 10 Uhr Vorm. abzuführen, waren nur in besonders zu begründenden Fällen zugelassen. In Prag, wo etwa 7000 Radioapparate abgeführt wurden, dauerte die Abgabe bei den Kultusgemeinden von 8 Uhr früh am Jom Kippur bis ununterbrochen 10 Uhr früh des nächsten Tages. Die ganze Nacht hindurch standen viele Hunderte von Menschen vor der Kultusgemeinde mit ihren Radioapparaten Schlange. Bestätigungen über die abgeführten Apparate durften den Besitzern nicht ausgefolgt werden, sondern sie wurden bei der Übernahme nummeriert, registriert und hierauf mit Möbelwagen in den von der Gestapo bezeichneten Lagern deponiert.(84) In einer ganzen Reihe von Städten wurden auch gleichzeitig den Juden die Schreibmaschinen abgenommen.
4. In der gleichen Zeit wurde auch die Vermögensregistrierung sämtlicher Juden und Nichtarier nach den Nürnberger Gesetzen angeordnet.(85) Die bezüglichen von der Kultusgemeinde Prag herausgegebenen Informationsblätter mußten am Jom Kippur sämtlichen Juden zugestellt und am nächsten Tag wieder abgeholt werden. Den Kultusgemeinden in der Provinz wurde der Termin so gestellt, daß sie die ausgefüllten Drucksorten spätestens am zweitnächsten Tage nach Prag durch einen Boten senden mußten, woselbst die Gesamtregistrierung vorgenommen werden mußte, für die der Termin bis zum 25.9., 12 Uhr nachts, d.i. 2 Tage nach Jom Kippur, gestellt war.
Für die Durchführung all dieser mündlich durch die Gestapo angeordneten Beschränkungen mußte in Prag jedesmal ein Stab von etwa 1000 Menschen zur Verfügung gestellt werden, denn für den Fall der nicht rechtzeitigen Durchführung wurde mit den schärfsten Repressalien gegen die Juden und mit Massenverhaftungen gedroht. Das Oberrabbinat hat daher mit Rücksicht auf diese Umstände die Verletzung der Heiligkeit des Jom Kippur gestattet.
Am ersten Tage Rosch Haschanah(86) erschien die Polizei vor den Tempeln, wo alle, die sich nicht legitimieren konnten, daß sie nicht nach Polen zuständig sind, verhaftet wurden. Alle nach Polen zuständigen befinden sich noch heute in Haft. Besonders tragisch gestaltete sich das Schicksal der Juden in den Städten mit einer großen Anzahl deutscher Bewohner, wie Mähr. Ostrau, Brünn, Olmütz, Iglau, Pilsen. Abgesehen davon, daß in diesen Städten sämtliche Tempel niedergebrannt wurden, gab es dort Massenverhaftungen von Juden. Ein Großteil wurde zwar nach einiger Zeit wieder freigelassen, doch nach Kriegsausbruch wieder verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald verschickt. Darunter eine ganze Reihe von Menschen, denen Zertifikate(87) zugeteilt wurden, und auch 2 Kinder, die für die Jugendalijah(88) bestimmt waren. In einer ganzen Reihe von Städten, wie z.B. Mähr. Ostrau und Friedek, wurde von der Gestapo den Juden das Bargeld beschlagnahmt und in vielen Fällen ganz einfach ohne Bestätigung weggenommen, ebenso der Schmuck. In Friedek wurden sämtliche Juden zur Gestapo vorgeladen, woselbst sie das Bargeld und den Schmuck ohne Bestätigung abliefern und eine Deklaration unterfertigen mußten, daß sie ihre Häuser in Treuhandverwaltung eines Ariers übergeben. Gleichzeitig wurde ihnen die Übersiedlung nach Prag angeordnet. Der schwerste Schlag erfolgte jedoch im Zeitpunkte unserer Abreise. Es wurde nämlich von der Gestapo bekanntgegeben, daß die Juden aus dem Protektorat nach Polen übersiedelt werden sollen, wo Reservationen errichtet werden sollen. Diese Maßnahme wurde in Mähr. Ostrau bereits durchgeführt, welche Stadt 1000 Männer im Alter von 17-55 Jahren zur Verfügung stellen mußte, die schon am 18. Oktober verschickt worden sind.(89) Zur Durchführung des ganzen Planes der Übersiedlung der Juden wurde Edelstein(90) von der Gestapo nach M. Ostrau abdirigiert mit dem Auftrage, sich für 3-4 Wochen Wäsche mitzunehmen. Gleichzeitig mit ihm wurde auch Friedmann(91) aus Wien nach Ostrau dirigiert und dabei angedeutet, daß eventuell auch noch weitere Vertreter des Palästinaamtes nach Ostrau versetzt werden sollen. Die nach Polen verschickten Juden werden zum Bau von Baracken verwendet werden, nach deren Vollendung mit der Verschickung der Familienmitglieder begonnen werden soll.
Zentralstelle der Gestapo f.d. Auswanderung der Juden.
Die Zentralstelle wurde Ende Juli mit der Absicht errichtet, die zur Auswanderung erforderlichen Formalitäten zu erleichtern.(92) In Wahrheit ist dieses Amt zu einer wahren Hölle für diejenigen geworden, die mit ihren sogenannten Mappen dortselbst persönlich erscheinen müssen. Diese Mappen enthalten 17 Fragebogen mit etwa 600 Fragen, die zu beantworten sind. Zweigstellen dieser Auswanderungsstelle sind das Palästinaamt für die Auswanderung nach Erez und die Kultusgemeinde Prag für die Auswanderung nach der übrigen Welt. Sämtliche Menschen, die für die Auswanderung in Frage kommen, müssen vor Überreichen der Mappen nach Prag übersiedeln.(93) Die vorhergenannten Zweigstellen für die Auswanderung sind heute die wichtigsten Apparate der Gesamtorganisation und beschäftigen einen ganzen Stab von Menschen, die dazu bestimmt sind, teils Informationen für die Ausfüllung der Fragebogen zu erteilen, teils zur Ausfertigung der Fragebogen selbst, denn sie müssen in duplo mit Maschine geschrieben sein und dürfen weder gefaltet noch sonst irgendwie zerdrückt sein, weil ansonsten für die Überreicher die Gefahr besteht, bei der Zentralstelle geohrfeigt zu werden. Doch sind iese technischen Schwierigkeiten eine Kleinigkeit gegenüber den sachlichen Schwierigkeiten, die sich bei der Beantwortung der in den Fragebogen enthaltenen Fragen ergeben.
Diese Fragebogen sind in erster Reihe dazu bestimmt, das Gesamtvermögen des Auswanderers zu erfassen, wobei das Steuerbekenntnis der letzten drei Jahre zur Grundlage genommen wird. Als Gesamtvermögen wird nicht nur das wirkliche steuermäßig erfaßte Vermögen angesehen, sondern dazu gehören auch Lebensversicherungen, Einrichtungsgegenstände, zurückzulassendes und mitzunehmendes Umzugsgut, Schmuck, Forderungen im Auslande, auch wenn sie nachweisbar uneinbringlich sind, vor allem auch Vermögenswerte im heutigen deutschen Gebiet, über das der Auswanderer gar nicht mehr verfügungsberechtigt ist, weil es sich ja ohnedies in Treuhandverwaltung befindet. All diese auch fiktiven Werte werden für die Bemessung der Abgaben als Vermögensstand zu Grunde gelegt. Wer Immobilien, Unternehmungen oder ein Geschäft besitzt, kann schon durch die Zweigstellen, d.i. durch das Palästinaamt(94) und durch die Kultusgemeinde, zur Ausfüllung der Mappen nicht zugelassen werden, auch wenn er ein Zertifikat zugesichert hat, bevor er nicht sein Unternehmen liquidiert oder in Treuhandverwaltung übergeben hat. Daraus allein kann schon entnommen werden, welch ungewöhnlich große Opfer von den Auszuwandernden verlangt werden, die angesichts der Schwierigkeiten, jetzt das palästinensische Visum zu erhalten,(95) gar nicht davon überzeugt sind, daß sie auch wirklich herauskommen werden, wobei bemerkt werden muß, daß diejenigen, welche die Mappe überreicht haben und den sogenannten Durchlaßschein erhalten, innerhalb der Gültigkeit dieser Scheine auswandern müssen, weil sie ansonsten Gefahr laufen, in Konzentrationslager verschickt zu werden. Aber nicht nur das allein ist die Schwierigkeit, sondern auch das finanzielle Risiko (oftmals handelt es sich um die letzte Reserve der Auszuwandernden) ist sehr groß, denn die Petenten für die Zertifikate müssen vor Erhalt des Durchlaßscheines alle Abgaben geleistet haben, die, falls sie das Visum nicht erhalten, 100%ig verloren sind. Diese Abgaben sind bei einem Vermögensstand, zu dem alles, wie schon vorerwähnt, gezählt wird, sogar das Taschentuch, das der Emigrant mitnimmt und die Schuhe, die er an seinen Füßen anhat,
bis K 10 000 ½ % Judensteuer
50 000 2 %
200 000 4 %
500 000 5 %
1 000 000 10 % und über
1 000 000 20 %
Diese Judensteuer wird von der Kultusgemeinde Prag vorgeschrieben und von der Gestapo beim Ausfolgen des Durchlaßscheines und des Passes (die Auswanderer erhalten jetzt deutsche Pässe, da die alten tschechischen Pässe [für] ungültig erklärt worden sind) einkassiert wird. Neben dieser Steuer wird vom tschechischen Finanzministerium eine Abgabe für das Umzugsamt eingehoben, und zwar 20 % für Gegenstände, die vor dem 1.9.1938 angeschafft worden sind und 100 % für alle nach dem 1.9.1938 angeschafften Gegenstände, laut Einkaufspreis. Dazu gehören auch alle Gegenstände, die zur Auswanderung selbst angeschafft worden sind, wie Werkzeuge, Koffer, Kisten usw., für die also 100 % des Einkaufspreises eingehoben werden. Der gleiche Satz gilt auch für Bilder, Teppiche, Pelze und Silber, das jedoch nur in beschränktem Ausmaße mitgenommen werden darf (2 Paar Bestecke und 200 g anderer silberner Gegenstände per Person, Eheringe in Gold und eine silberne Uhr). Der ganze übrige Schmuck als auch Effekten und Wertpapiere müssen in Safes oder Depots von Banken übergeben werden, und zwar noch vor Überreichung der Mappen. Dabei sind die Auszuwandernden gezwungen, die Depot- und Safegebühren im voraus für 2 Jahre zu bezahlen.
Besonders große Schwierigkeiten ergeben sich für die aus dem Sudetenland stammenden Flüchtlinge, die dortselbst ein größeres Vermögen zurückgelassen haben. Selbst wenn sie über die zur Erlangung eines A/1/Zertifikates(96) erforderlichen Mittel in Prag verfügen, können sie infolge der hohen Abgaben für die im Sudetenland zurückgebliebenen Werte nicht zur Auswanderung kommen, weil diese Abgaben oftmals ihren Vermögensstand in Prag, der allein zur Zahlung der Abgaben verwendet werden darf, überschreiten und keine Mittel für den Transfer übrigbleiben. Es ist daher eine ganz wesentliche Anzahl von Leuten entfallen, denen bereits Zertifikate zugesichert waren, die aber infolge der oben erwähnten Umstände nicht mehr zur Alijah gelangen können. Man war daher gezwungen, auf andere, für eine spätere Zeit vorhergesehene Petenten um A/1/Zertifikate [zurück]zugreifen, wobei Menschen bevorzugt werden, die bereits liquidiert haben und daher für die Überreichung der Mappen "reif" sind. Bei der Beurteilung für die Zuweisung wird nicht nur auf die zionistische Vergangenheit Rücksicht genommen, sondern auch auf die Einordnungsfähigkeit der betreffenden Personen, wobei Menschen, die für Spezialindustrie in Frage kommen oder für die Ansiedlung im Lande, durch Abschluß von Verträgen mit Jachin oder RASSCO(97) unter sonst gleichen Umständen bevorzugt werden.
Nun noch einiges über die Praxis bei Überreichung der Mappen. Das Pal[ästina-]amt und die Kultusgemeinde sind gezwungen, eine bestimmte Anzahl von Auswandernden der Zentralstelle täglich zu "liefern". In der ersten Zeit waren es 200, dann 100, später 80 und jetzt 40 täglich. Wenn diese Zahlen nicht eingehalten wurden, gab es für Edelstein und den Vertreter der Kultusgemeinde den größten Krach. Die zu wenig abgelieferte Anzahl von Auswandernden mußte am nächsten Tage "nachgetragen" werden, weil die Gestapo ansonsten mit der Sperrung der Zentralstelle für die Auswanderung und mit schweren Repressalien für die maßgebenden Personen drohte. Übrigens wurde gerade zum Zeitpunkte unserer Abreise Edelstein von der Gestapo mitgeteilt, daß die neueste Bestimmung, die die Gestapo von ihrer vorgesetzten Behörde erhielt, dahin lautet, die Auswanderung der Juden nicht zu stören, aber auch nicht zu fördern. Was darunter in der Praxis zu verstehen sein wird, kann heute nicht gesagt werden.
Zur Frage der Alijah aus der letzten Schedule.(98)
Aus der letzten Schedule kommen bei uns etwa 1200 Menschen zur Alijah, von denen bis nun etwa 212 bereits ausgewandert sind, so daß noch ca. 1000 Auswanderer abgefertigt werden müssen. Die A/1/Zertifikate besitzt das Pal[ästina]amt vollständig, bis auf die 5 Zertifikate, die von der Sochnuth(99) direkt zugeteilt werden sollten. Von den B III Zertifikaten fehlen 50 und 18, welch letztere beim Englischen Konsulat in Berlin versperrt sind. Weiter fehlen 60 D-Zertifikate und 20 Studentenzertifikate.(100)
Zur raschen Abwicklung der Alijah ist es unerläßlich, daß die Schwierigkeiten bei der Erteilung des palästinensischen Visums in Triest so rasch als möglich beseitigt werden, damit die Auswanderer nicht in Gefahr kommen, in Triest durch den englischen Konsul nicht bestätigt zu werden, wie es diesmal bei einem A/1/Zertifikat der Fall war und bei 3 D-Zertifikaten, die deshalb abgewiesen wurden, weil ihr palästinensisches Visum bereits abgelaufen war. Es wäre die Frage zu ventilieren, ob es nicht möglich ist, einen Beamten der Schiffahrtsgesellschaft in Prag mit den Pässen nach Triest zu senden, um sie dortselbst zur Vidierung vorzulegen und sie wieder nach Prag zurückzubringen, oder [ob] es nicht möglich wäre, Sammelvisa zu erhalten, mit Ausnahme von Visa für A/1/Zertifikatisten. Auch wäre das Pal[ästina]amt in Triest anzuweisen, für eine präzisere Festlegung der Termine für die Abfahrt der Schiffe zu sorgen, damit die zur Abreise bestimmten Auswanderer rechtzeitig ohne Vorkehrungen eintreffen können.(101)
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(77) YVA, 07/CZ/367.
(78) Richtig: Heimann Stapler (1880-1956), Ingenieur; war nach seinem Studium für die Staatsbahnen der k.u.k.-Monarchie als Baukommissar, von 1918 an für die Direktion der Tschechoslowak. Staatsbahn als technischer Rat tätig; 1925 Repräsentant der Tschechoslowakei beim Zionistischen Weltkongress in Wien; emigrierte im März 1939 auf der "Galil" zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Palästina; arbeitete dort als Buchhalter.
(79) Im Original handschriftl. Korrekturen.
(80) Gemeint ist der Jüdische Weltkongress.
(81) Mitte Sept. 1939 mussten die Mitarbeiter der JKG Prag sämtliche Häuser und Wohnungen aufsuchen, um Juden poln. Staatsangehörigkeit zu erfassen; Jüdische Kultusgemeinde Prag, Sonderaktionen, in: Židé v Protektorátu. Hlášení Židovské Náboženské Obce v roce 1942. Dokumenty, hrsg. von Helena Krejcová, Jana Svobodová und Anna Hyndráková, Praha 1997, S. 226-229, hier S. 226.
(82) Das Ausgehverbot erließ die Gestapo im Sept. 1939; Franz Friedmann, Rechtsstellung der Juden im Protektorat Böhmen und Mähren, Stand: 31.7.1942, in: Židé v Protektorátu (wie Anm. 81), 232-263, hier S. 262.
(83) Versöhnungsfest, höchster jüdischer Feiertag. Mit ihm enden die zehn Tage der Reue und Umkehr, die am Neujahrstag, an Rosch Haschana, beginnen.
(84) Am 22. 9. 1939 wurden die Prager Juden angewiesen, ihre Rundfunkempfänger abzugeben. Etwa 12 000 Apparate wurden innerhalb von zwei Tagen abgeliefert.
(85) Verordnung des Reichsprotektors in Böhmen und Mähren über das jüdische Vermögen vom 21.6.1939; VBl. RProt. 1939, Nr. 6, S. 45-49.
(86) Das jüdische Neujahr Rosch Haschanah fiel 1939 auf den 14. Sept.
(87) Um die Einwanderung von Juden nach Palästina zu beschränken, gab die brit. Mandatsregierung Zertifikate aus. Die Empfänger mussten über Kapital oder eine Qualifikation verfügen, die im Land gebraucht wurde.
(88) Alija(h) (hebr.) Aufstieg. Jüdische Einwanderung nach Palästina. 1933 rief die Jewish Agency unter ihrem Dach außerdem die Jugendalija ins Leben, um gezielt jüdische Kinder und Jugendliche aus Deutschland zu retten. Nach dem Zweiten Weltkrieg betreute die Abteilung Kinder, die überlebt hatten.
(89) Im Okt. 1939 wurden etwa 1300 Juden aus Mährisch-Ostrau nach Nisko im Distrikt Lublin deportiert, von denen ca. 190 den Krieg überlebten.
(90) Gemeint ist der Leiter des Palästina-Amts in Prag Jakob Edelstein.
(91) Richard Friedmann (1906-1944), Verbandsfunktionär; von 1929 an als Beamter in der IKG Wien tätig, 1939 zur Jüdischen Kultusgemeinde in Prag versetzt; 1943 nach Theresienstadt, 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort erschossen.
(92) NAP, ÚRP I-3b 5811, karton 389, Bl. 8-10.
(93) Diese Vorschrift wurde, da sie praktisch undurchführbar war, nach kurzer Zeit wieder aufgehoben.
(94) Das Palästina-Amt der Jewish Agency förderte die Auswanderung nach Palästina, u. a. mittels Verteilung von Einwanderungszertifikaten. 1918 in Wien gegründet, hatte das Amt seinen Hauptsitz in Berlin und unterhielt zahlreiche Zweigstellen; im April 1941 wurde es aufgelöst und in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert.
(95) Im Mai 1939 hatte die brit. Mandatsregierung die Einwanderung nach Palästina strikt begrenzt.
(96) Voraussetzung für ein solches Zertifikat war ein Eigenkapital von mindestens 1000 brit. Pfund, weswegen die A1-Zertifikate auch Kapitalistenzertifikate genannt wurden.
(97) Die Siedlungsgesellschaft Jachin kaufte landwirtschaftliche Nutzflächen auf und verteilte sie an Siedler, die 1934 gegründete Baugesellschaft RASSCO (Rural and Suburban Settlement Company) baute insbesondere Häuser für deutsche Immigranten in Palästina und war später allgemein in der Baubranche tätig.
(98) Liste für die Verteilung der Zertifikate zur Palästina-Einwanderung.
(99) Ha-Sochnut ha-jehudit, hebr. für "Jewish Agency". Gemeint ist die Jewish Agency for Palestine, die die jüdische Bevölkerung gegenüber der brit. Mandatsregierung in Palästina vertrat.
(100) B III Zertifikate wurden an Schüler vergeben, deren Lebensunterhalt bis zur Berufsausübung gesichert war. D-Zertifikate erhielten in der Regel Ehefrauen, Eltern oder Kinder, die ein in Palästina lebender Angehöriger "angefordert" hatte, der auch ihren Unterhalt garantieren musste. Ein Studentenzertifikat bekam, wer nachweisen konnte, dass die Aufnahme an einer von der palästinensischen Regierung anerkannten Hochschule (z. B. der Universität Jerusalem) sowie die Lebenshaltungs- und Studienkosten für mindestens zwei Jahre gewährleistet waren.
(101) Am Ende folgende Ergänzung: "Zur sofortigen Intervention bei der Machleketh [hebr.: Abteilung] Alijah in Jerusalem. Die D-Zertifikatsinhaber Pohl /2 Köpfe/, Löwit/1 Kopf/ haben Visa, die am 16. September 1939 abgelaufen sind!"


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Andrea Löw, geboren 1973, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte München - Berlin im Editionsprojekt Judenverfolgung 1933-1945. Veröffentlichungen zur Geschichte des Holocaust, u.a. Juden in Krakau unter deutscher Besatzung 1939-1945, Göttingen 2011 (zusammen mit Markus Roth), Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006 (2. Aufl. 2010), Deutsche - Juden - Polen. Geschichte einer wechselvollen Beziehung im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004 (herausgegeben zusammen mit Kerstin Robusch und Stefanie Walter).


 

 

© Leseprobe, mit freundlicher Genehmigung des Oldenburg Verlages

 

 

 erscheint Ende Mai 2012, 800 Seiten, gebunden, Euro 59,80

 



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