Damit die Worte nicht trügen
von Radka Denemarková
Sollte ich es mit einem einzigen Wort sagen, so wäre es: Unerbittlichkeit. Ihre Bücher schlucken sich wie bittere Pillen. Sie sättigt ihre Prosa mit lyrischen Bildern, folgt nie einem ausgetretenen Pfad, tritt fest auf, damit das Material rissig wird. Diese Literatur ist eine Welt für sich. Herta Müllers Bücher geben Zeugnis vom entblößten Menschen und vom Terror, der uns entgegen lächelt, umrahmt von Einweckgläsern, Frisören, Zusammenkünften, von Selbstmorden, von Gärten in voller Blüte und verlassenen Parks, von einem allgegenwärtigen Sich-Suhlen im Blut. Im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Ihre Texte rühren ans Unterbewusste, rühren wie eine Nadel an entzündetes Zahnfleisch. Ezra Pound schrieb über Henry James: „Künstler sind wie die Tast- und Fühlorgane der Menschheit, aber die Dummköpfe, die in der großen Überzahl sind, werden nie lernen, den Künstlern zu glauben. Die Masse der stumpfsinnigen Langweiler weiß die rechte Hand nicht von der linken zu unterscheiden und fragt nicht nach dem Sinn der Dinge. Vorbehalte zu nähren gegen etwas, das zu verstehen ich mich nicht im Geringsten bemüht habe, ist nicht sonderlich schwer.“ Herta Müller aber fühlt den Wind, auch wenn er nicht weht.
Herta Müllers Sätze erkennt man auch mit geschlossenen Augen, man wittert sie. Ihre Figuren schichten die Jahre auf ihre Wunden wie kühlende Tücher. Mit der Gedankenkammer eines Schriftstellers ist es wie mit der Füllung des Federhalters. Sie leert sich mit jedem Buch. Und man muss warten, bis sie sich wieder gefüllt hat. Herta Müllers Füllung ist ohne Boden. Das kommunistische Rumänien ist der Humus, aus dem die Atmosphäre ihrer Bücher erwächst. Die Hölle – das sind die anderen. Die Hölle für diese anderen – sind wir. Ein Roman kann sich, anders als Geschichtsschreibung oder Faktenliteratur, auf eine Mitte konzentrieren, auf die Essenz, wo die Wahrheit thront oder buckelt. Herta Müller tut dies mit ebenjenem Material, mit dem wir uns von Geburt an in die Welt zu integrieren versuchen – mit Sprache.
Im Herbst 2010 war ich Gast des Internationalen Literaturfestivals in Berlin, Presse und Festival hechelten eine Nachricht mit leicht skandalösem Beigeschmack durch: Oskar Pastior, Dichter und Freund Herta Müllers, Vorbild für die Hauptfigur in ihrem Roman Atemschaukel, hatte in den 1960er Jahren mit der rumänischen Staatssicherheit, der Securitate, zusammengearbeitet. Doch wie über jemanden urteilen, den die Gesellschaft ausgeschlossen hatte? (Auf Grund seines Freidenkertums, seiner Herkunft, seiner Homosexualität.) Wie urteilen über einen mehrfach Stigmatisierten? Wobei jedes dieser Stigmata unter der kommunistischen Diktatur Gefängnis bedeutete, ja, Gefahr für das Leben. Herta Müller seziert in ihrem Werk ein System, in dem es nicht nur um die Unterdrückung der Freiheit und um staatlichen Terror geht, sondern um eine Atmosphäre des Misstrauens, der Ohnmacht, der Resignation angesichts der völligen Ausweglosigkeit. Aus tatsächlich Geschehenem filtert sie Motive und Themen und schmilzt sie um in eine literarische Welt. Als würde sie ihre Wörter gießen. Die großen geschichtlichen Ereignisse des Zwanzigsten Jahrhunderts verwebt sie mit dem Alltag in der rumänischen und sowjetischen Gesellschaft. Sie führt uns durch einen Metaphernwald in den atmosphärischen Kosmos der Konzentrationslager. In die Zeit der kaputten Kuckucksuhren. Ich bin fest überzeugt: Bevor man das erste Wort niederschreibt, muss man sich zunächst vom Tisch erheben und die letzten Brösel der gelebten, der in einen hineingezwungenen Realität von sich abstreichen. Dann erst kann man sich hinsetzen und über die innere Wirklichkeit schreiben. Herta Müller hat Mut zum Lyrischen, zur Zärtlichkeit, zur kindlichen Sicht (kann man Kinder mit der Wirklichkeit schrecken?), sie schreibt in kurzen Kapiteln, als wären es Strophen einer Gedichtschaukel. Und doch ist diese Prosa erbarmungslos realistisch, voll bizarrer Figuren. Deportation hört nie auf. Die Rückkehr aus dem Lager ist nicht das Ende des Lagers.
Herta Müller wurde 1953 in Nitzkydorf im Banat geboren, in eine deutschsprachige Familie. Bereits mit ihrem Erstling Niederungen steht das eine große Thema ihres gesamten Schaffens fest. Der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg bei einer Einheit der SS gedient, die Mutter war nach dem Krieg in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert worden. Herta Müller studierte an der Universität in Temeswar Romanistik und Germanistik. Anschließend war sie als Übersetzerin tätig, musste ihre Stelle aber 1979 aufgeben, weil sie eine Zusammenarbeit mit der Securitate abgelehnt hatte. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie als Lehrerin in einem Kindergarten. 1987 emigrierte sie in die Bundesrepublik Deutschland und lebt heute in Berlin. 2009 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.
Herta Müller spannt die Sprache, die sie sich aus dem Banat mitgebracht hat, bis an die Grenzen, stellt sie auf die Probe, fordert ihr etwas ab. Deutsch, durchwoben von lokalen, donauschwäbischen Färbungen, freigelegt bis auf die Knochen, mit verdrehten Gelenken und zugleich doch auch verdächtig, genau wie die verdreht-verbogene Welt der Figuren, die sie beschreibt. Herta Müller hat mit dem „unerwünschten“ Deutsch dem rumänischen Umfeld standgehalten, sie musste knapp und scharf sein, unerbittlich, beharrlich. Sie durchleuchtet das Alltagsleben in den Städten und Dörfern unter der Herrschaft des Diktators Nicolae Andrută Ceausescu (1918-1989), als würde sie eine poetische Geschichte von mythischer Dimension erzählen. Ihre Sätze sind wie Schnitte mit dem Stahl des Chirurgen, dringen unter die Haut in Wörtern, Wortverbindungen, die sich durch ihr gesamtes Schaffen ziehen. Im Grunde schreibt sie an einem einzigen Buch, es wächst und wächst, ein überlanges Haar, das dem Leser in der Kehle steckt und an dem er würgt. Der Vater, der nirgendwo mehr zu finden ist, die Mutter, die er nicht haben will. Eine Maulbeere, eine Zwetschge könnte man schlucken.
Ich habe geschluckt. Ich habe Der Mensch ist ein Fasan in der Welt und Atemschaukel übersetzt. Damals hatte ich gerade meinen Roman Kobold abgeschlossen, hinter mir lagen zwei Jahre intensiver Auseinandersetzung mit einer einigermaßen komplizierten Thematik, die in mir gebrodelt hatte, hineingewachsen war in die Sprache, um die Ufer des Geschehens zu befestigen. Jetzt war ich froh, dass ich den Text von mir abschälen konnte. Die erschöpfte Schriftstellerin musste unbedingt Atem holen. Übersetzen war nie mein Traum gewesen. Die Übersetzerin ist hier der Schriftstellerin gewissermaßen zu Hilfe geeilt und hat die Gedanken in eine andere Richtung gelenkt. Es geht um den Atem der Texte. In eigenen Texten füge ich meine Worte mit der Pinzette. Warum bin ich bereit, auf den Text eines anderen mein kostbarstes Gut zu verwenden, meine Zeit, die nicht unbegrenzt ist? Und auch mein schriftstellerisches Material, die tschechische Sprache, wenn doch in meinem Kopf andere Figuren schon Schlange stehen und warten, dass sie ihre Geschichte bekommen? Soll ein Buch mich fesseln, muss ich spüren, dass „etwas“ irgendwie anders ist. Dass er einen Durchblick eröffnet. Die Arbeit mit der Sprache, mit dem Thema, mit dem Ton des Textes. Bei Herta Müller ist es nicht damit getan, die Wörter zu übersetzen, im Tschechischen muss vielmehr dasselbe lyrische Bild entstehen wie im Deutschen. Sonst wird die Übersetzung nicht funktionieren. Ich übersetze so, wie ich es mir für meine Bücher wünschen würde. Der Übersetzer sollte sich an sie schmiegen, sollte sie kosen, nach ihren feinsten inneren Regungen tasten, nach ihrem Rhythmus. Damit sie in der Zielsprache genauso zum Klingen kommen wie in der Ausgangssprache. Manchmal denke ich, dass vor allem Schriftsteller übersetzen sollten, sie nehmen anders wahr, kennen sich in der Küche der Kollegen aus, lassen sich nicht „bluffen“ und an der Nase herumführen und begegnen dem Werk doch mit Demut und achten seine Gesamtgestalt. Die Atemschaukel zu übersetzen war wie eine Fuhre Kohle ziehen, eine Fuhre Kalk, wie Zementsäcke schleppen. Und die Autorin mit einer Pfeife aus Weidenholz im Mundwinkel treibt mich an. Die Energie der Besessenheit muss zu erkennen sein. Mir sagt die einfache, dabei chirurgisch genaue und lyrische Sprache zu, mit der sie auf das paradox schwierige Thema Totalität zugeht. Und dabei haben ihr die Kritiker und Literaturwissenschaftler das zunächst zum Vorwurf gemacht. Aber es ist wie im Leben – sobald jemand Papier und Tinte zur Hand nimmt, ist alles möglich. Die Wege und Formen der Arbeit mit Sprache sind längst noch nicht alle erprobt. Die inneren Kosmen sind sehr verschieden, sind mannigfaltig. Ihnen sollte das Material, das mir zu Gebote steht, die Sprache, sich anverwandeln. Herta Müller, meine ich, hat in ihren Büchern noch immer nicht alles gesagt, die Dinge, die sie im rumänischen Banat erleben musste, schlägt sie stets nur an. Daher auch das unablässige Kreisen um ein und dasselbe Thema. Als wollte sie jenen einen Moment hinauszögern, jene Stelle von sich wegschieben, wo der Splitter sitzt. Mir fällt Primo Levi ein, der, als er beschlossen hatte, endlich alles zu sagen, in den Tod stürzte. Bei Herta Müller ist Schreiben auch eine Überlebensstrategie. Sie ist nicht nur Autorin, sie ist auch der Mensch, der durch all das, worüber er schreibt, selbst hindurch musste. Das alles ist keine zweckorientierte Forschungsreise ins eigene Ich, ganz im Gegenteil, man flüchtet eher vor sich selbst und betrachtet sich aus der Distanz.
Der Mensch ist ein Fasan in der Welt
Der Mensch ist ein Fasan in der Welt ist die nüchterne Aufzeichnung eines träge dahin fließenden Wartens, es fließen die Tage, die Monate, die Jahre, die Leben. Das deutsche Dorf im kommunistischen Rumänien ist eine Falle. Endlich einen Reisepass in der Hand zu halten ist nicht wie das große Los. Man hat dafür bezahlt: mit der Verleugnung der Menschlichkeit. Die Macht wird von denjenigen missbraucht, die sie repräsentieren. Vom Pfarrer, vom Milizionär, vom Bürgermeister. Der Mensch ist ein Fasan in der Welt ist ein Roman der stillen Ohnmacht. Ein Gedicht in Prosa.
Es ist Winter, als ich das Buch übersetze. Draußen liegt Schnee, ich esse einen verschrumpelten Apfel. Die Bewegung des Augenreibens, die ich liebe. Der Zeigefinger streicht über das weiche Lid. Den Text übersetze ich intuitiv. Mit fast tierischem Instinkt. Ich wittere ihn. Die Sätze herausmeißeln. Das Tschechische meißeln. Der Text spielt Domino. Jedes Wort und jedes aus diesem Wort hervorgegangene Bild ist gerufen von dem vorangegangenen, ruft selbst ein weiteres zu sich her. Herta Müller glüht ihre Worte in der Esse aus. Ihre hochempfindliche Wahrnehmung aus der Zeit, als sie noch in Rumänien lebte, macht die „Körperlichkeit der Dinge“ hinter den Worten präsent. Die grundlegenden menschlichen Verhaltensmuster sind letztlich sehr einfach. Alles andere ist Literatur, ausgedacht von Menschen, die die Dinge auf raffinierte Weise verkomplizieren. Herta Müller ist aus Rumänien weggegangen. Aber in der Sprache ist sie geblieben, die trägt sie unter der Haut. Ihr Deutsch ist kristallklar und doch expressiv, lässt an Franz Kafka denken. Es ist dieselbe Isoliertheit, zugleich dasselbe Umfangensein vom Meer einer anderen Sprache, vom Rumänischen hier, vom Tschechischen da. Die Prager deutsche Literatur hatte gerade durch ihre Sprache, das Prager Deutsch, etwas Spezifisches. Im Juni 1921 schreibt Kafka aus Matliary an Max Brod, das Deutsch der jüdischen Schriftsteller sei eine „selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat“; so sei eine „Zigeunerliteratur“ entstanden, „die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen hat und es in größter Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß.“ Herta Müller und Kafka tanzen bravourös. Sie wühlen sich durch die Wörter, gruppieren sie mit größter Präzision um. Dem Text das Stethoskop anlegen, den Atem der Sätze abhören. Ich kratze den Putz von den Worten. Die Figuren bleiben kalt. Ungerührt, wenn nebenan jemand zu Tode geprügelt wird. Es sind die Klippen der sprachlichen Archaismen, an denen der Übersetzer hier scheitern könnte, jener Ausdrücke, denen eine andere Zeit und Welt anhaftet. Herta Müller fügt ihre Sätze wie Ziegel. Zu einem festen, soliden Gebäude mit unruhig wellendem Putz. Ein eigentümliches Deutsch. Nichtdeutsches Deutsch, dichtmassig. Voller Komposita, von der Autorin erfunden. Sie lockt die Wörter ins Gatter des Geschehens hinein und lichtet ihnen das Fell. Lässt sie wieder hinaus. Und gibt ihnen so ihre Bedeutung zurück.
Atemschaukel
Leopold Auberg, der Erzähler im Roman Atemschaukel, ist siebzehn, als ihn die Russen im Januar 1945 aus seiner Heimat Hermannstadt (Sibiu) in ein Arbeitslager verschleppen. Nach fünf Jahren im ukrainischen Lager Novo-Gorlovka kehrt Leo zurück. Von dort, wo die Menschen an Hunger, Entkräftung und Prügel zugrunde gehen. Der Dichter Oskar Pastior (1927-2006) war durch diese Hölle gegangen. Zusammen mit Herta Müller begann er, seinen Erinnerungen folgend, ein Buch zu schreiben. Nach seinem plötzlichen Tod leistete Herta Müller die literarische Umsetzung der authentischen Situationen allein. Sie hat keinen historischen Roman daraus gemacht. Sie hat die Welt ihrer Hauptfigur poetisch gestaltet. Für den naiven Leo war die Deportation zunächst wie eine Befreiung aus einem Gefängnis anderer Art: Er wusste, dass ihm die Gesellschaft seine Homosexualität niemals verzeihen würde. Vergeblich ringt er um ruhigeren Atem. Sein Atem wird schaukeln bis ans Ende der Tage.
Leo eignet sich die Welt über Sprache an, er stopft sich die Wörter in den Kopf und ist selbst überrascht, welche Überzeugungskraft der Verstand entwickelt, wenn er nur will. Selbst Sinneswahrnehmungen wandeln sich unter dem Einfluss der Wörter, was riecht, beginnt zu duften und umgekehrt. Die Prosa ist lyrisch strukturiert, sie folgt nicht den Linien des Sujets, sie ist phonetisch, lexikalisch, semantisch und syntaktisch (einige Passagen bestehen aus Kürzestsätzen) bis ins Kleinste durchdacht. Hier mussten im System der tschechischen Sprache adäquate Mitteln gefunden werden, um den gleichen Effekt zu erzielen (so übernehmen in der Übersetzung „r“ und „ř“ die Funktion von „š“ im Original). Der Lagerwortschatz trägt friedliche Züge. Die Wörter sind wie Personen, sie kehren wieder, gewinnen materielle Gestalt. Übersetzen heißt hier herauszufinden, wie ein Wort schmeckt. Die Wörter und mit ihnen die Dinge beginnen ein eigenes Leben (Herzschaufel, Hungerengel). Ganze Sätze beginnen ein eigenes Leben. Wo es sich als möglich erwies, habe ich vorsichtig versucht, allgemein auf die Opfer des Totalitarismus zu verweisen (so klingt in meiner Übersetzung eines Vogelnamens mit kalandra zpěvná zugleich der Name des tschechischen Historikers Zavíš Kalandra an, der 1950 in einem kommunistischen Schauprozess zum Tod verurteilt und hingerichtet wurde). Ich habe versucht, das rätselhaft Poetische zu bewahren, das den Text durchschwebt und sich dem Lageralltag so wunderbar entgegenstellt. Und auch die Anspielungen auf Hermann Minkowskis Relativitätstheorie, auf die Philosophie Karl Jaspers´ und den Existenzialismus, auf Eugen Fink und sein Modell der Welt als Spiel. Ich habe versucht, Oxymora und Neologismen zu wahren, überhaupt die Besonderheiten des Deutschen, das Elemente der Banater Mundart in sich trägt. (So fügt man dort zum Beispiel die Verwandtschaftsbezeichnung direkt dem Vornamen an, Finitante; wenn das Tschechische hier keine analoge Möglichkeit bot, musste ich hier nach einer anderen „Abweichung“ vom Standard suchen.) Zu wahren galt es aber auch die Verweise auf biblische Stellen, auf Rilke, auf die Farbwahrnehmung der Homosexuellen; ich habe versucht, die Lautmalereien nachzubilden (schaufeln – schweigen – Schaf), die Neologismen (Herzschaufel, Hautundknochenzeit), das Spiel mit deutschen und russischen Wörtern (kuscheln – kuschat: essen). Den deutschen Ortsnamen habe ich, wo es klanglich oder graphisch von Interesse war, die rumänische Variante zur Seite gestellt; das erinnert wie beiläufig an die Orte, an denen Leo war, an die Klänge, die sich um ihn herum vermischt haben.
Der Leser der Atemschaukel fühlt keine totalitäre, sondern eine übernatürliche Bedrohung. Herta Müller ist es gelungen, die Essenz, das eigentliche Wesen der Lager zu erfassen. Sie hat den dunklen Stellen des Zwanzigsten Jahrhunderts das Gedächtnis zurückzugeben. Dass die Hauptfigur ihres Romans ein Gay ist, hat man ihr zum Vorwurf gemacht, auch, dass sie seine Welt in einer poetischen Sprache beschreibt. Für mich ist der Roman eine grandiose Metapher der menschlichen Einsamkeit. Verlorene Jahre kehren nie zurück. Aber welches Leben ist das verlorene, welches das richtige? Auch ein Tag im Lager kann ein Kunstwerk sein, behauptet Leo, ein Tag mit Schlacke, ein Tag mit Zement, ein Tag mit Sand, ein Tag mit dem Tod. Ein Tag mit einem Wort.
Herztier
Herztier zu übersetzen war wie Zwetschgenschlucken. Vor der Schwelle zum Haus häuften sich die Kerne. Steinchen, in denen der bittere Geschmack des Todes sitzt… Während die Protagonisten in Der Mensch ist ein Fasan auf der Welt um ihre Emigration kämpfen, bemüht sich der totalitäre Staat in Herztier selbst darum, die „Verräter an der Nation“ loszuwerden. Nein, es hat kein Ende. Auch Herztier ist ein Gedicht in Prosa, in dem die Autorin in sich geschlossene Fragmente aneinander fädelt wie fein geschliffene Diamanten, ohne Rücksicht auf die Chronologie. Es geht nicht um eine bloße Beschreibung der Tatsachen. Die Eindringlichkeit steigert sich mit dem Zuwachs an Informationen, die in den Metaphern und Bildern verborgen liegen. Aus ihnen erwächst eine eigentümliche Welt, eine Welt aus Mächtigen und Ohnmächtigen. Mikrosituationen, Sekundeneindrücke, kühl verzeichnet in lakonischem, sehr reflektiertem Ton. Herta Müller hat nach ihrem Studium Gebrauchsanleitungen für technische Geräte übersetzt, hier wiederum beschreibt sie Wirkfeld und Teilchen einer gewaltigen Maschinerie namens Totalität. Sie arbeitet wie eine Malerin, die ihre Farbpunkte millimetergenau bemisst; erst aus dem Abstand fügt sich alles zu einem neuen Gesamteindruck. Der Text ist eine Zwetschge. Er ist – wie immer bei Herta Müller – um einen Kern herum gereift, um einen autobiographischen Kern. Er schleppt eine Vergangenheit mit sich, von der er sich langsam befreit, indem er eine höchst stilisierte literarische Form annimmt, eine Form, die von Bertrand Russell gelernt hat, dass die Welt sich aus voneinander völlig unabhängigen Tatbeständen zusammensetzt. Daher bleibt auch unsere Erkenntnis der Welt – als Reflex dieser voneinander unabhängigen Tatbestände – fragmentarisch (die einzigen Sätze, die Sinn haben und etwas bedeuten, sind Erfahrungssätze – Sätze also, die sich auf eine erfahrene Wirklichkeit beziehen.) Wo Herta Müller ihre „Erfahrungssätze“ in sich aufgesogen hatte, wusste ich. Die Diktatoren säen ihre Friedhöfe nicht nur auf Schlachtfeldern, auch in den Zimmern der Studentenwohnheime, in den Verhören durch unscheinbare Sadisten. Der Text ist die Studie einer Angst, die sich unter Kindern und Erwachsenen ausbreitet wie eine Epidemie, die Freundschaften befällt, Ehen, kollegiale Beziehungen. Am heimtückischsten ist die Angst, die im Unterbewusstsein Wurzeln schlägt. Die Menschen in einer totalitären Gesellschaft sind von Misstrauen geprägt, tragen ständig Verdacht in sich. Ohne Grund zweifeln sie an der Treue und Vertrauenswürdigkeit ihrer Nächsten. Alles, auch ein Lächeln kann ein persönlicher Angriff sein.
Ein Totalitarismus, in dem die Durchschnittlichen sich verbünden und jedes Anderssein unter Strafe stellen, ist immer erdrückend. Das Ringen um die Freiheit und um den freien, kritischen Gedanken ist zu jeder Zeit schwer und wird niemals, niemals enden… Wir können nur immer versuchen, uns das Beste der Zwetschgen zu nehmen, ohne dabei in den Kern zu beißen.
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
© Text: Radka Denemarková. Deutsch von Kristina Kallert. Fotos: Petr Kopriva, pwf.cz; boersenblatt.net, Hanser Verlag
Radka Denemarková, *1968 in Kutná Hora, ist eine tschechische Schriftstellerin und Journalistin, Literaturwissenschaftlerin, Theaterautorin, Essayistin, Übersetzerin und lebt in Prag. Sie hat Kreatives Schreiben gelehrt und als Dramaturgin gearbeitet.
Werkauswahl
A já pořád kdo to tluče, Roman. Petrov 2005, ISBN 80-7227-219-5.
Ein herrlicher Flecken Erde / Originaltitel: Peníze od Hitlera, Host 2006,ISBN 80-7294-185-2;
aus dem Tschechischen von Eva Profousová. DVA, München 2009. ISBN 978-3-421-04404-4. Für das Buch erhielt sie 2007 den tschechischen Magnesia Litera-Preis in der Sparte Prosa, 2011 zusammen mit ihrer Übersetzerin Eva Profousová den Literaturpreis der Usedomer Literaturtage und 2012 den Georg Dehio-Preis.
Smrt, nebudeš se báti aneb Příběh Petra Lébla (engl. Ü: You Will Not Be Afraid of Death, or the Story of Petr Lébl, 2008), die Biografie des Theaterdirektors Petr Lébl wurde ebenfalls mit dem Magnesia Litera-Preis ausgezeichnet. Für dieses Buch stand sie 2009 auch auf der Vorschlagsliste für den Josef-Škvorecký-Preis.
Kobold, 2011
Übersetzungen
Herta Müller: Cestovní pas: Novela / dt. Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt. Mlada Fronta, Prag 2010, ISBN 978-80-204-2192-0.
Herta Müller: Rozhoupaný dech / dt. Atemschaukel. Mlada Fronta, Prag 2010, ISBN 978-80-204-2193-7. 2011 erhielt sie für diese Übersetzung den Magnesia Litera-Preis. Ihre Bücher wurden in fünfzehn Sprachen übersetzt.
s. hier auch: Georg Dehio Preis; Ahoj und gute Reise; Radka Denemarkova; Betrachtung
Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin von 2009,
zur Kunst des Übersetzens
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich bin heute hier, weil im letzten Jahr Radka Denemarková für ihre Übersetzung meines Romans Atemschaukel der Magnesia Preis verliehen wurde. Das hat mich sehr gefreut. Ich finde es sehr gut, dass mit dem Magnesia Preis auch Übersetzer ausgezeichnet werden. Denn Übersetzen ist eine eigene Kunst. Ich traue es mir nicht zu, obwohl ich perfekt Rumänisch spreche. Übersetzen heißt ja nicht Ersetzen, also für das Wort aus der fremden Sprache das bekannte Wort in der eigenen Sprache finden. Es muss das entsprechende Wort sein – das ist viel komplizierter. Man muss den Ton des Originals wieder zum Klingen bringen. Die Kunst des Übersetzens ist es, die Wörter anzuschauen, um zu sehen, wie diese die Welt sehen. Übersetzen braucht eine innere Dringlichkeit, die das ganz Andere zur größten Nähe des Originals bringt. In diese Augennähe zu kommen, ist sehr schwer. Ist große Kunst.
Ich habe erst spät Rumänisch gelernt – erst als ich fünfzehn Jahre alt war und aus einem kleinen Dorf heraus aufs Gymnasium in die Stadt kam. Aber zur Selbstverständlichkeit wurde mir das Rumänische erst noch ein paar Jahre später, als ich bereits studiert hatte und in einer Maschinenbaufabrik arbeitete. In der Fabrik musste ich die Beschreibungen der neu importierten Maschinen, der Funktion ich nicht verstand, aus dem Deutschen ins Rumänische übersetzen, leblos Wort für Wort. Aber ich musste auch den ganzen Tag rumänisch sprechen, weil niemand deutsch konnte.
Von einer Sprache zur anderen passierten bei ein- und demselben Gegenstand jedes Mal Verwandlungen. Ich begriff: Die Muttersprache hat man fast ohne eigenes Zutun. Sie ist eine Mitgift, die unbemerkt entsteht. Von einer später dazugekommenen und anders daherkommenden Sprache wird sie beurteilt. Die Muttersprache ist momentan und bedingungslos da wie die eigene Haut. Und genauso verletzbar wie diese, wenn sie von anderen geringgeschätzt, missachtet oder gar verboten wird. Wer wie ich in Rumänien aus dem Dialektdorf mit dürftigem Schulhochdeutsch nebenher in die Landessprache der rumänischen Stadt kam, hatte es schwer. Während der ersten zwei Jahre in der Stadt war es meist leichter für mich, in unbekannter Gegend die richtige Straße zu finden, als in der Landessprache das richtige Wort. Das Rumänische verhielt sich zu mir wie mein Taschengeld. Kaum lockte mich ein Gegenstand in der Vitrine, schon reichte das Geld nicht, um ihn zu bezahlen. Viele Wörter kannte ich nicht, und die wenigen, die ich kannte, fielen mir nicht rechtzeitig ein. Aber heute weiß ich, dass dieses nach und nach, das Zögerliche, das mich unter das Niveau meines Denkens zwang, mir auch die Zeit gab, die Verwandlung der Gegenstände durch die rumänische Sprache zu bestaunen. Ich weiß, dass ich von Glück zu reden habe, weil das geschah. Welch ein anderer Blick auf die Schwalbe im Rumänischen, die rindunica, Reihensitzchen heißt. Im Vogelnamen wird mit gesagt, dass die Schwalben in Reihen, eine dicht an der anderen auf dem Draht sitzen. Ich hatte es, als ich das rumänische Wort noch nicht kannte, jeden Sommer im Dorf gesehen. Es verschlug mir den Atem, dass man die Schwalbe so schön benennen kann. Es wurde immer öfter so, dass die rumänische Sprache die sinnlicheren, auf mein Empfinden besser zugeschnittenen Wörter hatte, als meine Muttersprache. Ich wollte den Spagat der Verwandlungen nicht mehr missen. Nicht im Reden und nicht im Schreiben. Ich habe in meinen Büchern noch keinen Satz auf Rumänisch geschrieben. Aber selbstverständlich schreibt das Rumänische immer mit, weil es mir in den Blick hineingewachsen ist.
Zwischen den Sprachen tun sich Bilder auf. Jeder Satz ist ein von seinen Sprechern so und nicht anders geformter Blick auf die Dinge. Jede Sprache sieht die Welt anders an und hat ihr gesamtes Vokabular durch diese andere Sicht anders gefunden – ja sogar anders eingefädelt ins Netz seiner Grammatik. In jeder Sprache sitzen andere Augen in den Wörtern.
Weshalb ich nicht übersetzen kann, liegt auch an meinem Misstrauen gegenüber der Sprache. Als meine beste Freundin sich einen Tag vor der Auswanderung von mir verabschiedete, als wir uns umarmten und dachten, wir werden uns nie wiedersehen, weil ich nicht mehr nach Rumänien darf und sie nie aus dem Land hinaus – als sich die Freundin also verabschiedete, konnten wir uns nicht voneinander losreißen. Sie ging dreimal zur Tür hinaus und kam jedes mal wieder zurück. Erst nach dem dritten Mal ging sie von mir weg, ging so lang wie die Straße war. Die Straße lief gerade und ich sah ihre helle Jacke kleiner und kleiner und seltsamer Weise mit der Entfernung greller werden. Ich weiß nicht, glänzte die Wintersonne, es war damals Februar, glänzten meine Augen in sich selbst vom Weinen oder glänzte der Stoff der Jacke – eines weiß ich jedenfalls: ich schaute der Freundin hinterher und ihr Rücken glitzerte im Weggehen wie ein Silberlöffel. So konnte ich die ganze Trennung intuitiv in ein Wort fassen, ich nannte sie Silberlöffel. Und das war es auch, was den ganzen Vorgang aufs Genaueste beschrieb. Aber was hat ein Silberlöffel mit einer Jacke zu tun? Gar nichts. Und genauso wenig mit einem Abschied. Aber im poetischen Bild brauchen sie einander.
Deshalb traue ich der Sprache nicht. Denn am besten weiß ich von mir selbst, dass sie sich, um genau zu werden, immer etwas nehmen muss, was ihr nicht gehört. Ständig frag ich mich, warum sind Sprachbilder so diebisch, weshalb raubt sich der gültigste Vergleich Eigenschaften, die ihm nicht zustehen. Erst die erfundene Überraschung bringt die Nähe zum Wirklichen zustande. Erst wenn eine Wahrnehmung die andere ausraubt, ein Gegenstand das Material des anderen an sich reißt und benutzt – erst wenn das, was sich im Wirklichen ausschließt, im Satz plausibel geworden ist, kann sich der Satz vor dem Wirklichen behaupten.
Ich bin froh, wenn mir das gelingt.
Weitere Übersetzungen dieses Textes: www.asymptotejournal.com/
07VIII2014