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Es sind vor allem jüngere, tschechische AutorInnen, die sich mit dem schwieigen Erbe tschechisch-deutscher Vergangenheit auseinandersetzen. Vorurteile und Ressentiments halten sich besonders lange, Tabus als solche zu benennen und zu hinterfragen ist immer eine Gratwanderung. Nestbeschmutzung, falsche Fakten sind die Vorwürfe auf tschechischer Seite, oftmals bequeme Genugtuung von Vertriebenen-Verbänden oder Indifferenz auf deutscher Seite erschweren den so notwendigen Dialog. 

 

Auszüge aus einem 

GESPRÄCH MIT RADKA DENEMARKOVÁ  

Katja Schickel, September 2009 

                                                       

KS: 2006 ist Ihr Buch „Penize od Hitlera“, also „Geld von Hitler“, in Tschechien erschienen und hat viele Kontroversen ausgelöst, 2007 haben sie den renommierten, höchsten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera erhalten, jetzt liegt das Buch in deutscher Übersetzung vor: Ein herrlicher Flecken Erde. Wie ist es zur deutschen Titelgebung gekommen? Hatten Sie Einfluss darauf?

RD: Ich hatte Einfluss darauf und verstehe, dass der Titel sich geändert hat, weil die Rezeption in einer anderen Sprache einfach eine andere Rezeption ist. Wenn das deutsche Lesepublikum im Titel den Namen Hitler sieht, dann ist klar, dass damit bestimmte Konnotationen verbunden sind. Es ist eine Geschichte, die mit dem 2. Weltkrieg zu tun hat, aber es geht nicht um Hitler. Deshalb haben wir diesen ironischen Titel gewählt.

KS: Was ist daran ironisch – was ist denn dieser herrliche Flecken Erde? Ich dachte, dass es dieser Streit, dieser Konflikt ist, wem gehört eigentlich diese Erde, vor allem die Geschichte und die Erinnerung daran?

RD: Ich möchte die Leichen, die wir im Keller haben, nehmen und durchleuchten und zwar mit einer konkreten, literarischen Geschichte. Die Hauptfigur, Gita Lauschmannová, lebt in Böhmen in einer deutschsprachigen Familie. Sie ist eigentlich eine Frau, die gar nicht versteht, was los ist. Sie weiß nicht, das sie Jüdin ist, aber plötzlich ist sie im Konzentrationslager. Sie kommt nach Hause, und sie stellt fest, dass da kein Zuhause mehr ist. Nur deshalb, weil in der Familie deutsch gesprochen wurde, wurde die Familie als „Nazis“ denunziert - und sie hat kein Elternhaus mehr. Sie hat gar nichts mehr. Trotzdem kommt sie wieder und wieder in dieses Dorf, um zu begreifen, was los war und was gegenwärtig los ist. Das ist selbstverständlich auch eine Geschichte des Gedächtnisses. Ich wollte darüber hinaus zeigen, wie wir in Tschechien bestimmte Themen unter den Teppich gekehrt haben. Als Tabus werden sie aber gefährlich, und die Gesellschaft, wie die heutige tschechische, ist eigentlich krank. Aber was noch schlimmer ist, diese Gesellschaft möchte sich nicht heilen, dazu gehört, dass wir wissen müssen, was in diesem mitteleuropäischen Raum geschehen ist.

KS: Woran entzündete sich der Streit?

RD: In Tschechien entstanden die Kontroversen gerade deshalb, weil ich bestimmte Handlungen der Tschechen sehr prägnant beschreibe. Was mich fasziniert hat, dass eine bestimmte Gruppe, also die Gruppe der deutschsprachigen Menschen, verschwunden ist, ab 1948 auch andere Gruppen verschwunden sind, und niemand hat etwas dagegen. Das ist doch faszinierend, dass hunderte Jahre Tschechen und Deutsche miteinander gelebt haben, egal, wie kompliziert auch immer, und es genügten zehn Jahre zwischen 1938 und 1948 und alle sind verschwunden, entweder im Konzentrationslager, im Exil oder sie wurden vertrieben, aber niemand wollte und will darüber sprechen. Es geht nicht mal hauptsächlich darum, dass Gita Lauschmannová Jüdin, eine deutschsprachige Jüdin ist, es geht darum, dass einem Menschen Unrecht geschehen ist. Sie kommt wieder im Jahre 2005, die Familie wird rehabilitiert, und trotzdem sind wir nicht fähig, ihr zu helfen.

KS: Nochmal zu den Gegenpositionen, warum sagen Leute, das ist ein schlechtes Buch oder die Autorin ist eine Nestbeschmutzerin?

RD: Die erste Reaktion war, dass es zwar ein literarisch gut gemachtes Werk ist, aber diese Themen sind doch alt, die interessieren niemanden mehr, die Deutschen haben doch alles verursacht. Bisher war klar, wer Held und Opfer ist. Und ich habe aus einer deutschsprachigen Frau ein Opfer gemacht. Bei uns wird das nur Schwarz-Weiß gesehen. Da ist das Böse und da ist das Gute. Und ich habe gesehen, dass es Schwarz-Weiß nicht gibt, dass es viel komplizierter ist. Das ist der Grund für die Auseinander-setzung. Um das so zu schreiben, muss man es zuallererst anders sehen. Ich wollte, dass dieses Buch wie eine Kröte im Hals ist, keine süße Nachspeise nach dem Abendessen. Es sollte ein literarisches Experiment sein, die Sprache musste auch experimentell sein. Es ist zugleich eine Modellsituation: das Leben einer Frau in der männlichen Welt - also sehr aktuell. Darüber hinaus wollte ich wissen, warum Menschen so sind. Wenn sie Minderwertigkeitskomplexe haben, müssen sie sich immer Opfer suchen, und es ist egal, ob es ein einzelner Mensch ist oder eine ganze Gruppe. Die Aggression hat verschiedene Stufen, aber es wiederholt sich immer und immer und überall. Deshalb schreibe ich am Anfang des Romans, alles ist passiert, aber ich weiß bis heute nicht warum. Aber ich möchte begreifen, weil ich in Tschechien lebe, ich möchte wissen, wie die Leute sind, was damals passiert ist, weil alles das bleibt ja in der Luft, in der Atmosphäre, in der Mentalität. Man vergisst nie und nichts.

KS: Wie kommen Sie zu den Figuren? Oder: Wie kommen die zu Ihnen?

RD: Die Geschichte fängt immer im Kopf an. Natürlich lese ich viel, Psychologie, Soziologie, Historie und so weiter. Und dann treffe ich eine Auswahl, wähle die Figuren, die ich beobachten möchte, warum es in bestimmten Situationen die eine Person schafft und die andere nicht. Ich identifiziere mich immer mit einer dieser Figuren. Die Geschichte ist fiktiv, aber um die Geschichte glaubwürdig zu machen, müssen historische Kulisse und alle Details stimmen. Der Verlag hat beispielsweise mehrere Briefe erhalten, in denen Leute geschrieben haben: Ja, das hat meine Oma oder Tante erlebt, aber man hat in der Familie nicht darüber gesprochen. Ein alter Jurist hat mir von seiner Großmutter geschrieben, die längst gestorben war, und weil es am Ende ihres Lebens Streitigkeiten gab, hat er nicht mehr mit ihr gesprochen. Nun wollte er gerne wissen, wie es gewesen war, und er glaubte, dass ich sie kennen müsse. Aber ich musste ihm schreiben: Nein, ich kenne sie nicht. Gita Lauschmannová ist eine fiktive Figur. Aber so etwas kann nur geschehen, wenn man wirklich die Essenz der Zeit beschreibt. Ich musste mich tief in ihre Psychologie versenken. Emotionell und suggestiv zu schreiben, das ist noch schwieriger als sachlich. Man braucht wirklich einen kalten Kopf und muss die Worte präzise wie mit einer Pinzette, wie ein Chirurg, hintereinander reihen. Für mich war das eine sehr wichtige Erfahrung. Ich habe drei Jahre lang daran geschrieben und war innerlich sehr erschöpft nach der Arbeit.

KS: Zum Umgang mit der Sprache: Einerseits eine Aneignung, man eignet sich sozusagen nochmal oder sogar erstmals die eigene Geschichte an. Aber es wird, durch die Art und Weise, wie Sie Sprache benutzen bzw. die beiden Gitas, die junge und die alte, auch eine Form von Distanz geschaffen. Der jungen Gita, die von sich sagt, sie trage schon die Greisin in sich, was man nach ihren Erlebnissen ja nachvollziehen kann, der wird eine Sprache in den Mund gelegt oder in die Gedanken, die manchmal auch ein bisschen altklug erscheint, nicht ´angemessen` sechzehn-jährig. Die alte Sechsundsiebzig-Jährige wiederum hat manchmal wiederum einen dermaßen jugendlichen Jargon drauf, den man bei einer so distinguierten Frau nicht erwartet, auch einen schnoddrigen Sarkasmus. Ist es so, dass in dem Maße, wie sich Geschichte angeeignet, eine Sprache dafür gefunden wird, auch eine Art von Distanz her muss, sonst kann man das alles gar nicht aushalten?

RD: Genau, Gita sagt, als sie aus dem Lager kommt: Alle meine Kinderworte sind verschwunden, Sie ist eigentlich eine Erwachsene in der Haut eines Kindes, eines jungen Mädchens. Und das ist nicht normal. Deshalb ist die Sprache, die sie benutzt, auch nicht normal. Dieses Mädchen ist labil, sie sucht auch in der Sprache danach, wer sie ist und was sie machen soll. Als alte Frau, die das alles durchgehalten hat - und auf einmal die Rolle der zeitgenössischen Frau spielt - hat sie immer noch Hoffnung. Das ist das Positive in dem Roman, aber es ist eine literarische, künstliche Sprache und künstliche Form, die es mir ermöglichte, die Wahrheit oder die Essenz dieser Zeit zu zeigen und zu durchleben. .

KS: Ihr Motto ist : „Sich am Riemen reißen, nicht zusammenbrechen, nicht schreien!“ Das wäre ihr Impetus, sofort und immer zu schreien, aber sie versucht, die Form zu wahren. Das wird auch im Buch durchgehalten, einmal in der Sprache, dann in der Struktur von Zeit, es gibt Prolog, Epilog und dazwischen ihre Rückkehren, die im Grunde gar keine Rückkehren sind, sondern lediglich Stippvisiten. Sie sagt auch: „Nur weg hier, das ist mein Ziel!“. Aber um das erreichen zu können, muss sie durch alle Schichten und Zeitebenen hindurchgehen. Formal ist das sehr strukturiert, aber diese Ebenen von Zeit sind immer miteinander verwoben, weil Zeit nie so funktioniert, dass man sie einfach jeweils in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerlegen könnte. Das fließt immer ineinander, gehört zusammen, bildet Übergänge, ist voneinander durchdrungen, wie in jeder Person natürlich auch. Aber manchmal braucht man dieses Korsett, einen Halt...

RD: Genau. Was die Zeit betrifft, das ist wie ein Haus. Da ist eine spannende Geschichte, da ist diese äußere Wand oder der Zaun, und wenn man ins Haus geht, gibt es verschiedene weitere Geschichten und Gedanken. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, diese Teilung haben sich nur Leute ausgedacht, aber im Leben funktioniert das ganz anders. Es gibt auch Phasen oder Punkte im Leben, in denen sich ein Schicksal verdichtet. In diesen Zeiten wird dann alles in Zweifel gezogen, und wir müssen das Leben von Anfang an neu denken. Und das passiert dieser Gita Lauschmannová ganz häufig. Für mich ist sie eine sehr starke, energetische Frau, die es immer wieder schafft. Nur eines schafft sie nicht: Sie hat nicht begriffen, dass sie Energie und Zeit verliert, wenn sie immer wieder in dieses Dorf kommt, weil das keine Chance ist. Die neue Generation wird von denselben Eltern und Großeltern erzogen, die immer wieder dieselben Klischees wiederholen.

KS Für Antisemitismus gibt es keinen Grund, aber der Junge sprayt dann den Judenstern doch an die Wand, das ist eine Wiederholung, die er vermutlich relativ unbewusst nachvollzieht, aber er hat trotzdem sofort das Zeichen parat, und es zeigt, dass es in den Köpfen der Leute immer noch existiert und deshalb funktioniert.

RD: Ja, und das ist sehr traurig, wo ist denn da eine Chance?

KS: Gita muss feststellen, dass da Risse sind, die einfach nicht mehr zu kitten sind. Das ist das eigentlich Deprimierende, dass sie mit ihrer Klarheit nichts ausrichten kann. Aber sie versucht etwas, was ganz wichtig ist für sie persönlich als traumatisierte Person, nämlich durch eine Geschichte hindurch zugehen, aber auch für uns, weil wir solche Menschen brauchen, die uns die Vergangenheit erzählen, um das Vergessene neu zu lernen. Diese Wahrhaftigkeit ist auch schwer auszuhalten, wenn man sich vorstellen muss, was ist eigentlich jetzt Realität; da kann man ja nochmal verzweifeln, d.h. man muss, um das alles so ein bisschen erträglich zu machen, die Vergangenheit einer Art Schönheitsoperation unterziehen: Es war ja nicht alles nur schrecklich. Man darf die Menschen nicht zu sehr erschrecken, nicht zu sehr konfrontieren. Das ist eine Erfahrung, die sie macht und die nicht sehr tröstlich ist. Aber es ist diese Anstrengung, die sie menschlich macht und zu einer außergewöhnlichen Frau.

RD: Wenn Gita Lauschmannová im Jahre 2005 in dieses Dorf zurückkehrt, ist es wie in einem antiken Drama, das mag ich sehr. Sie steht da eigentlich allein gegen den Chor oder in diesem Falle gegen das ganze Dorf, aber symbolisch gegen die Gesellschaft.

Es ist wie im Leben. Sie meint, dass sie schon alles weiß, sie hat sich an vieles erinnert, und am Ende stellt sie fest, dass ein Detail alles, was sie bisher geschrieben hat, verändern kann, dass z. B. ihr Vater das alles ganz anders erzählen würde und all die anderen Figuren, die in ihrer Geschichte vorkommen. Sie möchte das am Ende neu schreiben, aber sie schafft es nicht mehr, weil sie stirbt. Oder ich habe sie sterben lassen. Das ist oft so, dass Menschen die wichtigsten Dinge, die wichtigsten Fragen der Familie, den Verwandten, den Freunden NICHT stellen, weil im Alltag dazu keine Zeit oder kein Mut ist, aber diese Fragen werden deshalb auch nie beantwortet werden. Das sind dann diese schwarzen Löcher in jedem Leben – natürlich auch in der Geschichte und der jeweiligen Gesellschaft. Wenn man bestimmte Fragen nicht stellt, wird es gefährlich, dann entstehen dieses Tabus, Klischees und Vorurteile. In den kontroversen Diskussionen habe ich darauf hingewiesen, dass ich weiß, wer mit dem 2. Weltkrieg angefangen hat, was die Nazizeit war. Aber darüber schreibe ich nicht, und darüber diskutiere ich nicht. Mich interessieren konkrete Menschen und konkrete Schicksale. Und man darf nie vergessen, wenn da Unrecht war.

KS: Es gibt in Ihrer Generation andere Autorinnen und Autoren, die sich mit ähnlichen Themen beschäftigen, vermutlich weil es eine zeitliche Distanz gibt, vielleicht auch, weil die Zeit reif dafür ist. Es gibt Interesse.

RD: Ja, das ist meine Erklärung, dass ich das Thema gewählt habe, aber mein Hauptinteresse ist, warum wiederholen sich in der Geschichte der Menschheit diese Situationen - es ist egal, ob es in Mitteleuropa, in Europa, in Amerika, in Australien oder in Asien geschieht. Für mich ist auch die innere Welt der Person wichtig. Ich beschreibe nicht die sachlichen, politischen Situationen, sondern was das alles mit Menschen macht. Gita Lauschmannová weiß nie, was los ist. Die Geschichte ist immer einige Schritte voraus, sie versteht alles erst im Nachhinein. Das geht vielen Menschen so.

KS: Geschichte wie persönliche Erinnerung wird nachträglich konstruiert, wird erst im Nachhinein rekonstruierbar.

RD: Ja, sie möchte wissen, warum sie nicht ihr eigenes Leben leben kann. Als Kind weiß sie nicht, warum es schlecht ist oder schlimm, dass sie Deutsch spricht. Das sind die Situationen im Leben, die mich interessieren, nicht die wissenschaftlichen Erklärungen. Was soll ein normaler Mensch machen, wenn so etwas passiert ist wie meiner Figur. Es geht um die Wunde eines jeden Menschen.Und ich wollte in der fiktiven Figur verschiedene Schicksale verallgemeinern.

KS: Fehlt Ihnen hier in Tschechien, dass zu wenig Fragen gestellt werden, was war denn, was ist geschehen, wie sind wir da wieder raus gekommen und welche Fehler haben wir gemacht, also wo haben wir auch versagt? Das hat nicht stattgefunden. Und das heißt, da ist immer noch der Deckel drauf, Mehltau über allem, das ist manchmal unangenehm. Ist das so?

RD: Das ist eine gute Interpretation, darum drehten sich die Kontroversen. Ich habe eine Figur, die Deutsch spricht, immer in Tschechien geblieben ist, sie wurde nicht vertrieben, sie war nicht im Exil, sie wollte da bleiben, und davon gab es Einige, aber darüber sprach man nicht, weil die Deutschen nur böse Nazis oder Revanchisten waren, die uns alle Häuser wegnehmen wollten im Grenzgebiet.

KS: Sie haben gesagt, Sie seien froh, dass Literatur nicht mehr die Funktion von Gewissen übernehmen muss, Sie seien auch kein Arzt, sondern der Schmerz. Aber Sie wollen Ihr Thema präsentieren und sagen: Jetzt beschäftigt euch mal damit!, das ist auch eine moralische Haltung, oder!?

RD: Ich möchte nicht strafen. Ich wollte bestimmte Situationen benennen, die Finger in die Wunden legen. Das ist wichtig, finde ich - und ist für die Kunst und auch für die Gesellschaft ganz gesund. Wenn wir so weiter machen, ändert sich nie etwas, dann können wir nichts diskutieren. Dann sind wir wie im Gefängnis. Wir sagen uns, OK, wir werden nur über bestimmte Themen sprechen und schreiben, ansonsten wollen wir unsere Ruhe. Aber das ist so gefährlich. Das geht nicht. Da möchte ich nicht mitmachen. Dieses Thema zeigt, dass in der Luft etwas Kaltes ist, was auch mich persönlich nicht in Ruhe lässt, und ich meine, das spüren auch viele Menschen in Mitteleuropa. Das finde ich wichtig. Ich sitze nicht am Schreibtisch und denke mir dieses Thema aus, nein, mich interessiert wirklich der Raum, in dem ich lebe. Und das ist Tschechien, und es gibt so viele Themen hier, eben viele Leichen im Keller....

KS: Und was ist Ihre nächste Leiche im Keller?

RD: Die letzte war mein letzter Roman: ´Tod, du wirst dich nicht fürchten` oder so, auf Tschechisch heißt er: Smrt, nebudeš se báti. Das ist der Roman, an dem ich acht Jahre gearbeitet habe, und das ist ein faktographischer Roman, die Geschichte eines jungen Theaterregisseurs, aber auch die der Gesellschaft vor dem Jahre 1989 und nach 1989 - und die der Autorin, die dieses Buch schreibt, und was es mit dem Kopf und den Gedanken macht, wenn man so lange an einem Buch arbeitet. Zurzeit schreibe ich an einem anderen, aber darüber möchte ich erst sprechen, wenn es fertig ist.

KS: Das klingt viel versprechend. Gita Lauschmannová sagt: „Ja, ich werde weiter schreiben. Das Schreiben ist meine Rettungsweste.“ ..

RD: (lacht) Ja, das ist mein Satz, Motto meines Schreibens.

KS: Ich fand einen Satz am Ende des Buches, der Motto wie Resümee sein könnte: „Mit verbundenen Augen hat sie sich rückwärts bewegt, dann mutig die Augenbinde abgestreift.“ Diesen Mut zu haben, auf sich selbst zu vertrauen und nicht auf fremde Blicke und dann zu schauen, was wirklich ist...

RD: Ja, dieser Mut zur Wahrheit, das ist der größte Mut, den ich kenne, weil er ist auch unangenehm. Er ist unangenehm, persönlich und was die Gesellschaft betrifft, denn es ist selbstverständlich leichter, sich vor zumachen, dass alles in Ordnung ist - die Vergangenheit vergessen wir einfach!

KS: Mittlerweile haben wir so eine Als-ob-Gesellschaft, alle tun so, als seien sie zufrieden und glücklich, aussehen tun sie anders, verhalten tun sie sich auch anders, aber eigentlich ist alles OK. Das ist in Deutschland genauso wie hier.

RD: Ja, hier noch mehr. Die Authentizität des Lebens ist irgendwie weg. Und ich meine, in der tschechischen Gesellschaft geht es nicht nur darum, dass es sich um eine Konsumgesellschaft handelt. Für mich ist es noch schwieriger oder gefährlicher, dass wir uns so verhalten, als gäbe es nur das Hier & Jetzt.Wir haben vergessen, es gibt nicht nur diese Horizontale, es gibt auch die Vertikale, dass wir über uns etwas haben, dass wir die Augen zum Himmel heben, dass da ein Sternenhimmel ist. Ich meine das jetzt symbolisch. Und das vergessen alle. Es gibt nur drei Wörter: Ich, Jetzt und Gleich! Alles gleich zu haben, sofort zu erleben. Man verliert etwas ganz Wichtiges. Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll, den Geist, die Menschlichkeit!?

KS:  Das Paradoxe daran ist, man verliert eigentlich sich selber, als Person und als Individuum, weil, was einem da als glatte Oberfläche angeboten wird, kann man nie erfüllen, und die Versprechen erfüllen sich auch nicht. Viele Menschen spüren dieses Unbehagen angesichts dieser Gleichmacherei, aber es ist wie ein Damokles-Schwert, es hängt überall und befiehlt, dass wir uns so und so zu verhalten haben, sonst sind wir eben loser, Außenseiter. Heute wird Ausschluss anders produziert als früher. Heute sind es die, die nicht genügend konsumieren, die nicht über genügend Geld verfügen, eben keine guten KonsumentInnen sind und nicht fit für diese Art Konkurrenz..

RD: Das ist überall so. Aber ich habe mir gesagt, ich werde z.B. so schreiben, wie ich will und muss. Ich habe das Schreiben nicht gewählt, das Schreiben hat mich gewählt, und das ist nicht nur Freude. Das ist auch anstrengend, und innerlich bin ich oft sehr erschöpft. Auch zum letzten Buch, das wieder große Resonanz gefunden hat (es hat auch wieder den Preis Magnesia litera erhalten und wird in dieser Woche für den Josef Škvorécky-Preis nominiert), gibt es wieder sehr kontroverse Polemiken. Ich habe mir eine neue Form ausgedacht, weil jedes Leben einzigartig ist, und das ist eigentlich fantastisch. Jeder Mensch sollte eine originäre literarische Form haben, wenn ich über ihn schreibe. Das einzige Material, das ich habe, sind die Wörter, die Sätze, und die muss ich so wie Teig bearbeiten, damit es neu und originell wird. In der Literatur ist ja noch vieles offen; das Blatt ist leer. Ich habe das leere Blatt und einen Bleistift, und alles ist möglich – wie im Leben. Es geht mir auf die Nerven, wie schnell es Schubladen in der Literatur gibt oder wie der literarische Betrieb aus den Büchern Waren macht. Aber OK, das interessiert mich nicht. Es gibt so viele Möglichkeiten, und die hängen mit meinem inneren Leben zusammen. Wenn ich sterbe, dann möchte ich wissen, dass ich alles gemacht habe, was die Essenz des Schreibens und meines Lebens betrifft.

 

 

Radka Denemarková, Ein herrlicher Flecken Erde

von Katja Schickel


Gita Lauschmannová kehrt heim, erschöpft, voll banger Hoffnung. Sie öffnet vorsichtig die Tür des Hauses, alles ist noch da, schmerzhaft vertraut, sogar der Hut des Vaters im Flur, als hätte der ihn aus ungewohnter Nachlässigkeit einfach einmal vergessen; aber am Tisch sitzt ein unbekannter Mann, und eine ebensolche Frau füllt seinen Teller mit Linsensuppe: Lauter fremde Leute – so nannte Louis Fürnberg ein Gedicht, dass die Rückkehr der Überlebenden und Emigranten nach 1945 beschreibt.

Die tschechische Schriftstellerin Radka Denemarková hat eine ganz eigene suggestive und emotionale Form gefunden, das Ausgeliefertsein, die Hilf- und Ausweglosigkeit der deutsch-tschechischen Jüdin Gita, den Horror der Gewalterfahrungen und ihren Kampf um Recht und Gerechtigkeit zu erzählen.

Die neuen Herren im Dorf (nebst ihren Frauen) haben sofort neue Verhältnisse geschaffen und allen Besitz unter sich aufgeteilt, eine verschworene Gemeinschaft, die gegen „den Feind“ von Außen, also alle Deutschen, auch die deutschsprachigen Juden, zusammen hält. Das Unrechtmäßige und Amoralische ihrer Handlung kann nur mit unmäßiger Rohheit und Kaltblütigkeit durchgesetzt werden. Das Mädchen Gita, das in Auschwitz war, wird als Nazi, als dreckige Deutsche beschimpft, grausam misshandelt und entkommt (sozusagen ein zweites Mal) nur knapp dem Tod. Bis zum Zeitpunkt der Deportation aller Familienangehörigen weiß das Kind nicht, dass es jüdisch ist. Man ist assimiliert, spricht Deutsch und Tschechisch, die Kinder besuchen tschechische Schulen, die Eltern wählen in der 1. Republik die tschechische Staatsbürgerschaft.

Nach dem Krieg erinnert man sich umgehend daran, dass die Familie, von der nur Gita überlebt hat, jüdisch und deutschsprachig, also deutsch, war und denunziert sie bei den neuen staatlichen Organen, die die vorauseilende Aneignung fremden Besitzes sofort legitimieren.

Bereits Anfang der 50er Jahre versucht Gita über eine Teilrückgabe zu verhandeln; sie möchte das Haus, früher von allen liebevoll „das Schlösschen“ genannt, zurück, die Fabrikgebäude, Werkstätten, die Schnapsbrennerei sollen in staatlichem Besitz bleiben können. Vor allem geht es ihr um die Rehabilitierung ihres Vaters, den man als deutschen Kapitalisten und vermeintlichen „Ehren-Arier“ verunglimpft. Man begegnet ihr mit unverhohlenem Hass, flankiert von antisemitischen und nationalistischen Parolen (die berüchtigten Slanský-Prozesse sind gerade vorbei), verhöhnt sie erneut als Nazi und bekräftigt die Vorwürfe gegen ihren Vater.

2005, nach der Rehabilitierung der Familie, beschließt sie, diese Geschichte nach 60 Jahren zu Ende zu bringen. Nun hat sie es hauptsächlich mit der Söhne- und Töchtergeneration zu tun, die ihr ebenfalls mit Ressentiments und Vorurteilen begegnet und die unangenehme „deutsche Alte“ (die seit Kriegsende als Tschechin in Prag lebt) so schnell wie möglich wieder los werden will. Wie sie überhaupt hat überleben können, wenn sonst keiner überlebt hat, ob sie vielleicht gar nicht in einem Lager gewesen sei, das sind so Fragen, die die ehrenwerten Gemeindemitglieder beschäftigen. Nebenbei wird ihre Unzurechnungsfähigkeit diskutiert, Gier, Neid, und Falschheit konstatiert, von denen sie sich leiten ließe, die klassischen Projektionen also.

Gita Lauschmannová muss durch diese Geschichte hindurch gehen, nicht weil sie Eigentum für sich reklamieren möchte, sondern weil sie, zeitlebens mit Traumata, mit Schuld- und Schamgefühlen kämpfend, diejenigen, die bisher keine Verantwortung für ihr Tun übernommen haben, konfrontieren will. Es gefällt ihr, sie in Aufregung zu versetzen. Sie tut dies mit wunderbar bissiger Lakonie und koketter Schnoddrigkeit, also mit heißem Herzen und kaltem Verstand, mit einem endlich einmal genüsslich eingestandenen Hass auf die Verursacher ihres Schmerzes (zu denen eben nicht nur die Nazi-Deutschen, sondern auch TschechInnen gehören), vor allem aber mit dem Mut einer Frau, die zu viel erlebt hat, als dass sie weiter stellvertretend fremde Belange ausfechten möchte.

Radka Denemarková verfügt über einen außergewöhnlich luziden Sprachschatz, einen Reichtum an überraschenden, poetischen wie surrealen, Bildern, mit denen sie essenzielle körperliche und seelische Zustände beschreiben kann. Sie zeigt die Wunden, die nicht oder nur notdürftig verheilt sind, und den Schmerz, scharf und präzise - und dass Vergangenheit nicht einfach vergeht. Die Geschichte ist aktuell, weil sich Fragen nach dem eigenen individuellem Verhalten, auch das Eingeständnis von Versagen, immer wieder neu stellen. - Am Ende heißt es: „Worte können viel Übles anrichten. Verhindern können sie nichts.“ - Das können nur Menschen.


Die Autorin: Radka Denemarková, 1968 geboren, studierte Germanistik und Bohemistik in Prag, arbeitet u.a. als Übersetzerin, Dramaturgin und freie Journalistin für Printmedien und das Fernsehen. Für diesen Roman, ihren zweiten, der gerade verfilmt wird, erhielt sie 2007 den höchsten tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera. Sie möchte mit ihren Büchern „die Leichen im Keller (tschechisch: Skelette im Schrank) ausfindig machen und durchleuchten“. Die Kontroversen, die sie damit auslöst, zeigen, wie brisant ihre Themen sind.

 

München, 2009, DVA, 304 S., 19,95


© Fotos: Milan Malicek, DVA, Interview und Rezension: Katja Schickel 

 

 

 

 

 

 

 



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