LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com


  

Vom Heft zum Zettel.


Über Franz Kafkas Zürauer Aufzeichnungen


von Reiner Niehoff

   

 

   

 

 

 

 

 

Franz Kafka: Oxforder Oktavhefte 7 & 8. Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hrsg: Roland Reuß und Peter Staengle.

306 Seiten, Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M., 2010,

178,00  ISBN 9783866000704

 


 

 

 

 

 

 

 

 

Jetzt also sind sie erschienen, die beiden letzten von Franz Kafkas kleinen blauen Oktavheften aus dem Bestand der Oxforder Bodleian Library. Auf ihren unscheinbaren, rot umrandeten Aufklebern tragen sie die Buchstaben „G“ und „H“ – nach ihnen waren sie bis zum Band 2 der Nachgelassenen Schriften und Dokumente auch bezeichnet. In numerischer und chronologischer Folge lauten sie nun – neben ihrer Formatbezeichnung – Ox7 und Ox8. Wie stets hat der Stroemfeld Verlag sie seitenweise in Schwarzweiß faksimiliert, dazu in direkter Konfrontation die Transkription gegenüber gesetzt und erfreulicher Weise und wie gewohnt Faksimile, Transkription und Herausgeber-Einführung auf einer CD beigelegt. 

Die Umstände der Entstehung dieser beiden Hefte sind seit langem bekannt. Sie werden von Roland Reuß kurz und präzise referiert und um kluge Einsichten zur Textentstehung, Textorganisation und Textkomposition bereichert. Datieren lassen sie sich ziemlich genau. Kafka hat sie am 18. Oktober 1917 in Zürau begonnen, wohin er sich seit Mitte September nach Ausbruch seiner Lungentuberkulose zur Erholung zurückgezogen hatte; im Frühjahr 1918 – vermutlich Ende April / Anfang Mai – wird er sie beenden. Von ihren sechs Oxforder Vorgängern unterscheiden sich diese beiden letzten Oktavhefte insofern signifikant, als Kafka seine kleinen Schriftträger nicht mehr vorzüglich als Entwurfsgrundlage für fiktionale Texte versteht – sieht man von ganz wenigen Ausnahmen: Prometheus, die Sirenen, Sancho Pansa, einmal ab –, sondern in einer Mischung aus chronologisch datierten Kurzeinträgen und immer neu einsetzenden Reflexionen unterschiedlichster Art jeden ästhetischen Schein aufzugeben entschlossen scheint. Dass hierbei der Ausbruch der Krankheit seine blutigen Finger mit im Spiele haben dürfte, braucht kaum erwähnt zu werden. Zumindest ist auffällig, dass nach Beendigung der Zürauer Aufzeichnungen Kafka praktisch über ein Jahr lang schweigt, bis er sich im Juni 1919 wieder ans Tagebuch machen wird und im November 1919 an den Vaterbrief. 

Im Spiel der schriftstellerischen Vorbereitungen auf literarische Werke sind Hefte natürlich mehr als nur Hefte; sie sind zumeist die erste manifeste Spur, der erste manifeste Entwurf eines Prozesses, der immer schon zuvor begonnen hat und möglicherweise einmal in einem Satz wie in Prousts: „Ich habe das Wort Ende geschrieben“ zur Ruhe kommen mag (bei Proust war es trotz oder wegen des Diktums bekanntlich anders). Diese Funktion haben auch Kafkas allerdings über weite Strecken schon erstaunlich ausformulierten Notizen und Entwürfe – was sich, wunderbar nachzuvollziehen, dadurch erschließt, dass der kranke Heftbeschreiber aus den Aufzeichnungen chronologisch separate Reflexionen extrahiert und sie anschließend auf kleine, durchnummerierte Zettel einzeln überträgt, Feilarbeiten und Verwandlungen eingeschlossen. Max Brod hat sie 1953 arg ausgedünnt und mit dem großgestischen Titel „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“ auf einen fragwürdigen Publikationsweg gebracht.
Diesen separierten Einzelnotaten setzt Kafka in acht Fällen noch zweite Stücke hinzu, die er einigen vermutlich 1920 entstandenen Entwürfen entnimmt; auch sie befinden sich im Bodleian-Bestand. All das nun: die beiden Oktavhefte, die Zürauer Zettel und die späteren Entwurfs-Blätter haben die Herausgeber vollkommen plausibel und dankenswerterweise in einem Atemzug zusammen erscheinen lassen, die Zettel gar in einer kleinen Extra-Box und in einem proportional angepassten Extra-Format. Der Weg der Aufzeichnungen von den Heften zu den Zetteln wird hier wie dort durch Verweise in den Marginalleisten leicht nachgehbar gemacht; eine kleine, aber höchst wirksame und erfreuliche Aufmerksamkeit.
Das ist nicht nur als Editionsprinzip allerfeinst, sondern auch in der Sache sprechend. Denn so lässt sich erkennen und mitverfolgen, wie durch die Verfahren der Neu-Notation, der Selektion, der Vereinzelung und Isolierung, der Bearbeitung und Transformation vom Heft zum Zettel sich der Prozess der Gedanken-Formierung variiert und komprimiert, ohne dass dieser Prozess in den Zetteln, wie Reuß anhand der Nummerierung einleuchtend und entgegen kurrenter Kafka’scher Editionspraktiken bis zu Calassos Separatpublikation 2004 klarmacht, seine finite Form bereits gefunden hätte. Wir befinden uns vielmehr mitten in einem work in progress, der noch über das Zeichentreiben der Streichungen, Ansätze, Korrekturen, Verschiebungen hinausgeht und diese Edition bestens rechtfertigt – wenn sie sich nicht ohnehin, seit sie begonnen wurde, durch sich selbst legitimierte.
 
 

Überhaupt lässt sich – gerade hier und in diesem Fall – der Reiz der Faksimilierung gar nicht hoch genug einschätzen. Denn so werden etwa die Streichungen, diese erstaunlichen grafischen Akte des Abstoßens und Ausscheidens, unmittelbar ansichtig, die in allen Ausgaben zuvor entweder ganz entfernt oder hauchzart mit Asterisken quasi gereinigt und durchsichtig gemacht worden sind – als sei es gleichgültig, dass bereits Kafkas erster Eintrag in Ox7: „Furcht vor der Nacht, Furcht / vor der Nicht-Nacht“ gleich zweimal qua Streichung gelöscht wird: einmal in sich und einmal zusammen mit der ganzen Seite. Von Kafkas Generaltilgungs-Edikt für die Zeit post mortem einmal ganz abgesehen. 

Dank der Faksimila wird auch erkennbar, wo ein Eintrag offen bleibt, wo er sucht, noch nicht weiter weiß, sich scheut oder ängstigt, wie ebenfalls bei dem erstaunlichen „Furcht vor der Nacht, Furcht / vor der Nicht-Nacht“. Noch Jost Schillemeit hatte 1992 dem Notat in der KA – laut Ausgabe-Untertitel „in der Fassung der Handschriften“ – einen Punkt verpasst, den es, wie hier gut zu sehen ist, in den Handschriften gar nicht gibt und der aus dem offenen Abgrund, der sich nach dem letzten Wort auftut, eine banale Feststellung werden lässt.
Und wo sonst durch die Missachtung von Zeilen- und Seitenumbruch der flüchtige Charakter dieser wechselhaften Reflexionen und Einträge in den linearen Ablauf von Buchzeilen und Buchseiten verflüchtigt wird, wo bei Brod die vermutlich als zu ephemer eingeschätzten Notate zu kleinen Begebenheiten (21. Oktober: „im Sonnenschein“), zu Besuchen, zu Unternehmungen, zum Befinden („Guter Morgen, unmöglich an alles sich / zu erinnern“), zu Wegstrecken, gar zur Gartenarbeit („Gartenarbeit, Aussichtslosigkeit“) kassiert werden, da wird jetzt eine erstaunliche Gemengelage ansichtig aus dicht gedrängten Reflexionen und Memoranda, aus Gedanken zum Bösen, zur Frage des Paradieses und des Sündenfalls, zum Problem von Kunst und Wahrheit, zu mythologischen Denkbildern – und aus tagtäglichen Verortungen, Unternehmungen, Lektüren und entferntesten historischen Detonations-Echos („Sonntag. Lärm. Friede Ukrania“, trägt Kafka am 10. Februar 1918 ins Heft ein und „Friede Russland“ einen Tag später). Man mag die schöne Ausgabe kaum auch nur mit spitzen Fingern umblättern, so aufregend ist das.
 

Tatsächlich sind diese beiden kleinen Hefte Kafkas eine Mischung aus fast Beendetem und Ausformuliertem, aus Verworfenem und Weiterverwendetem im Verein mit Signifikationsprozessen im Zwischenzustand, mit Tastendem, Apodiktischen, Elliptischem, Vorläufigem, Abgebrochenem, Widersprüchlichem und Gewöhnlichem; eine Mischung, die ihnen, den Heften, eine ganz eigene Textur, einen ganz eigenen Geschmack verleiht – ein ideales Biotop für eine Schreibweise, die in Brüchen und Einbrüchen haust. Dass die Schreibhaltung zudem regellos zwischen einem diarischen „ich“, einem narrativen „er“ und einem maximenhaften „du“ changiert, tut ein Übriges. Und immer wieder erstaunt die Insistenz, mit der Kafka sich in verfestigte, kulturell gut verkammerte (mythologische, religiöse, ästhetische) Bilder und Denkfiguren einschleicht, um sie in sich selbst mit sich uneinig werden zu lassen und sie, quasi lädiert und ausgeräumt, brüchig wieder auszustoßen – eine Fähigkeit nicht des Interpretierens, sondern des Infiltrierens und Erodierens, die erhärtete Bedeutungen erbricht, um sie mit einem glänzenden Paradox zu versiegeln.

 

Ob man dieses eigensinnige Kohabitativ nun unbedingt in ständiger Spiegel-Abhängigkeit zum Problem von Sprache, Erzählung, Macht, Autorität und also vom VATER-SUBJEKT lesen muss inklusive Subordination hier, Subversion dort, wie es Roland Reuß in seinen rhetorisch geschliffenen, fast überreizten Auslegungen unternimmt, mag offen bleiben; nahe genug liegt es. Gleichwohl wäre es wünschenswert, wenn die enormen editorischen und interpretatorischen Anstrengungen und Bonitäten der Ausgabe, die fantastische Kenntnis der Textbewegungen, die Intimität mit und die Ehrfurcht vor Kafkas Schreibweise und das bedeutende intellektuelle Niveau des Herausgebers einmal andere Pfähle in die Sache schlüge als den Vater-Pfahl, der, zumindest explizit, erst auf den allerletzten Blättern des achten Oktavheftes aufgerichtet wird. Aber das nur als unfrommer Wunsch und beiseite.
Wenn gleichwohl diese Edition dennoch eine leichte Irritation hinterlässt, so möge man das nicht als Kritik missverstehen; die Irritation lässt sich nicht einmal genau benennen und ist umso irritierender, als sie eigene, ganz ähnliche Anstrengungen des Rezensenten gleich mit in Frage stellt. Sie sei nur nicht verschwiegen und liegt seltsamerweise in der Transkription der Handschriften begründet, die von Reuß mit großer Konsequenz bis in die Details der handschriftlichen Vorlage vorangetrieben wird; noch die Textstreichungen der Umschrift kopieren den handschriftlichen Bleistiftstrich vom Einsatz bis zum Abschluss exakt, die Knickungen in den Umrandungen wird sorgfältig nachgebildet und noch die kleinen Schraffuren, die sich im Text herumtreiben oder an den Blatträndern – ein Verfahren, das über die in der generalen Einleitung zur Ausgabe apostrophierte „Lese- und Entzifferungshilfe“, die die Umschrift sein soll, sicher deutlich hinausgeht.
Die Irritation stellt sich nun seltsamer Weise gerade deshalb ein, weil die Transkription so genau ist, wie sie ist. Und sie scheint eben durch diese ihre Genauigkeit und entgegen dem Programm von 1995 tendenziell mimetisch; auf jeden Fall minimiert sie die Differenz, die zwischen Handschrift und Druckschrift liegt. Was aber hat das zur Folge? Valéry hat einmal schlau angemerkt, dass es das Merkmal der Druckschrift ist, die Handschrift der Autorität einer anonymen Stimme zu überstellen; sie, die Druckschrift, zeigt die Differenz an, die zwischen dem Autor und der Schrift existiert. Der gesetzte Satz lässt eine Fremdheit hervortreten, die zwischen dem, der die Schrift erzeugt, und dem, was die Schrift darüber hinaus noch zu sagen hat, besteht.

 

 


Versucht man nun, wie es hier geschieht, diese Differenz möglichst klein zu halten, dann droht keine Verdopplung, sondern eher eine fragliche Identität zwischen Handschrift und Druckschrift, die – auch das ganz vorsichtig zu verstehen – etwas leicht Kunstgewerbliches annehmen kann; der Grat zwischen getreuer und ernsthafter Umschrift und Fetisch scheint ziemlich schmal. So riecht die Box mit den Zürauer Zetteln ein ganz klein wenig nach Postkartenständer auch dann, wenn kein anderer Ausweg in Aussicht steht und die Entscheidung in der Sache vollkommen einleuchtet. Es ist zu fragen – auch wenn diese Frage von den Editionswissenschaften seit je stets heftigst zurückgewiesen worden ist – ob nicht dem, den Kafka in progress interessiert, zugemutet werden darf, sich soweit in dessen ja vergleichsweise gut entzifferbare Handschrift einzulesen, dass er selber liest, was er liest. Aber natürlich folgte die Antwort postwendend: Dann seien ja alle Transkriptionen Unfug, dann müsse man auch Döblin oder Wolfskehl in reinen Faksimiles publizieren – und wer einmal Handschriften von Döblin oder Wolfskehl gesehen hat, der weiß, dass man ebenso gut sumerische Keilschriften publizieren könnte. Kurz und gut: Es bleibt eine Irritation. Nicht weniger, nicht mehr. Der Rest ist Bewunderung.

 


 

© Text mit freundlicher Genehmigung von Dr. Reiner Niehoff, Erstveröffentlichung: literaturkritik.de.

Fotos: Stroemfeld Verlag, franzkafka.de (Kafka in Zürau, Zürau)

15.01.13 

 

 

 

 

 



Tweet