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Gesichter des Exil: Exil  der Frauen

Über Hilde Domin, Ilse Blumenthal-Weiss, Laura Gallati, Erika Mann, Judith Kerr, Ruth Klüger, Cordelia Edvardson, über Emigration von Töchtern und Müttern 

Arco Wissenschaft, Arco Verlag, Wuppertal 2007 - demnächst mehr

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ROSWITHA QUADFLIEG, DER GLÜCKLICHERoman zu zehn Stimmen


 

 

Stroemfeld Verlag, Ffm 2009, 136 Seiten, Broschur

ISBN: 978-3-86600-049-0, Einzelpreis: 14,80 €

 

EINE DEUTSCHE FAMILIE

von Katja Schickel

   

Dr. Leopold Wagner, dekorierter (aber desillusionierter) Soldat im Ersten Weltkrieg und Stadtarzt in Speyer, wird 1938 in die geschlossene Heil- und Pflegeanstalt Lohr eingewiesen, nachdem er immer wieder gegen die Nazis und den Papst polemisiert, schließlich Hitler beleidigt hatte. Mit der Diagnose „Schizophrenie“ verbringt er 21 Jahre dort und stirbt, 72-jährig, drei Tage nach seiner Entlassung bei einem ungeklärten Unfall auf einer Wanderung im Stubaital.

Roswitha Quadflieg hat zehn Aussagen von Personen aus seinem Umfeld (die Schwester, die Ehefrau, eine Tochter, der Sohn, die Schwiegertochter, eine Nichte, ein Enkel, ein Rechtsanwalt, ein Arzt und ein Insasse genannter Zellengenosse) zu einer Collage montiert, die einerseits Licht ins Dunkel dieses Lebens bringen, es rekonstruieren will, andererseits zeigt, dass Wahrheit nicht wohlfeil zu haben ist, vor allem wenn es sich um eine Zeit handelt, die gerne als „dunkelstes Kapitel deutscher Geschichte“ bezeichnet wird.

Wagner gilt als Querulant, er schikaniert seine Familie, ist selbstgefällig und eitel, ein eher unangenehmer Zeitgenosse. Ab 1933 gerät er jedoch ins Räderwerk der Nazi-Diktatur, wird von der Gestapo verhaftet und später zwangseingewiesen: für Abertausende von Menschen das Todesurteil, nachdem die Nationalsozialisten beginnen, ihr Euthanasie-Programm zu verwirklichen. Leopold Wagner überlebt das Dritte Reich, „der Glückliche“, wird jedoch seltsamerweise erst 14 Jahre später entlassen.

Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Und genau das tun die zehn ZeugInnen auf vertrackte Weise in all ihrer dringlichen Redseligkeit, mit der sie ihre Geschichte zu Protokoll geben, vor allem die sieben Familienangehörigen. Was sie einzeln für sich wahr-nehmen, entspringt und entspricht ihren Vorstellungen von der Zeit, in der sie leb(t)en, den Umständen und ihrer je spezifischen Lebenssituation. Sie konstruieren (sich) eine Wirklichkeit, die mit der Realität notwendigerweise nichts zu tun haben muss, Selbst- und Fremdwahrnehmung bilden häufig einen unüberbrückbaren Abgrund. Diese Familie wird durch Aversion, Misstrauen und Hass zusammen gehalten, die psychischen Mechanismen sind Verschiebung, Verdrängung und Projektion. Die Wurzeln dieser Familienverstrickung bleiben unbegriffen. Verbal wird verbittert abgerechnet, ominöse Schuld bei den anderen gesucht, die darunter liegenden Gründe erbittert ganz materiell aufgerechnet: Jede/r wird beschuldigt, sich bereichert, Geld unterschlagen, Erbschaften durchgebracht zu haben. Man fühlt sich immerzu übervorteilt, ungerecht behandelt. Alle leben im Wahnsystem „Familie“, die das gesellschaftliche wie das Anstaltssystem bedingt, ermöglicht, wiederholt und fortschreibt.

Schon die Eltern des Arztes werden von ihm genauso beschrieben wie er seine Familie sieht, und der Sohn vergöttert den abwesenden Vater, der für ihn realiter immer unerreichbar war, bleibt also lebenslang in einem ödipalen Konflikt gefangen.

Die Ehefrau, die die Sexualität mit ihrem Mann als permanenten entsetzlichen Übergriff empfand und sich wünscht, die letzten beiden Kinder seien nie gezeugt worden, möchte dennoch der Konvention der liebenden, treu sorgenden Gattin und aufopfernden Mutter entsprechen. Idylle lässt sich so jedoch nicht herstellen, auch im Nachhinein nicht. Es ist und bleibt: schrecklich ungemütlich. Von Liebe, Zuneigung, zumindest Empathie keine Spur. Motor dieser Ehegeschichte ist Aggression, vom Mann und Vater als patriarchales Privileg legitimiert, von der Frau und Mutter als ewig geduldete Leidensgeschichte zelebriert.

Zu solcher Art Meinungsbildung gibt es, das weiß die Autorin, immer einen gegensätzlichen Standpunkt, Rede und Gegenrede. Aber: „Manche Behauptung ist so falsch, dass nicht einmal ihr Gegenteil richtig ist“ (Karl Kraus). Die ProtagonistInnen dieses Romans „zu zehn Stimmen“ reden übereinander, alle gegen alle, in ständiger Konkurrenz und Eifersucht, manchmal stellvertretend für andere; sie widersprechen sich, fallen sich gegenseitig ins Wort, wollen nicht zuhören; es sind Monologe mit dem Wissen ihrer Vergeblichkeit oder wüste Beschimpfungen – lauter Ablenkungsmanöver. Nichts lässt sich mehr klären, weil es kein Gegenüber gibt, mit dem man Aussprache suchte, nur das kalte Beharren auf der eigenen Position. Das Beklemmende zeigt sich in den wie beiläufig eingestreuten Bemerkungen: Verdächtigungen, wilde Spekulationen, offensichtliche Lügen. Man traut sich nicht über den Weg. Während der Nazizeit hat man sich „arrangiert“, um nicht noch mehr aufzufallen, oder war dem Regime in glühender Anhängerschaft verbunden.

Dieses Familienleben ist längst desavouiert; es wird zwar Auskunft gegeben, aber eigentlich möchte man sich weder auseinandersetzen noch etwas klären. Die Wahrheit existiert nur als etwas Fragmentarisches. Allzu genau möchte man es dann doch nicht wissen, aus unterschiedlichen Motiven am liebsten unter die Vergangenheit einen Schlussstrich ziehen.

„Wer sich an die Hölle gewöhnt, kommt in ihr aus, fühlt sich sogar wohl in ihr“ lautet eines der Resümees. Wiederholung inklusive. Manchmal hat sie auch noch einen anderen Namen: Neuengamme beispielsweise.

Roswitha Quadflieg gelingt es, diese Verhältnisse so zu beschreiben, dass man ihrer Enge nicht entgeht, sie auch wahrnehmen muss als etwas durchaus Bekanntes, eben nicht längst Vergangenes; dass in dem Nicht-Eindeutigen aber immer auch ein Überschuss enthalten ist, etwas Sperriges, Widerständiges, das man unbedingt weiter erkunden möchte. Sie hat nicht nur gründlich recherchiert, die persönlichen Statements klug gegeneinander geschnitten, sondern auch historische Quellen benutzt, die das Ungeheuerliche dieser Zeit ins Gedächtnis zurückrufen und zeigen, dass wir gut daran tun, uns mit einfachen Erklärungen nicht zufrieden zugeben – eine Deutschstunde besonderer Art: nicht pädagogisch-moralisch, sondern einfach bis zum Ende spannend und erschreckend gleichermaßen.

 

Die Autorin: 1949 in Zürich geboren, in Hamburg aufgewachsen. Kunststudium ab 1969. 1973 Gründung der Raamin-Presse bis 2003. Publikationen seit 1985: Der Tod meines Bruders, Bis dann (1994), Alles Gute (1999), Requiem für Jakob (2005), Beckett was here (2006), Theaterstücke, ein Hörspiel. Lebt in Freiburg und Hamburg.

 

Von der Autorin ist im Stroemfeld Verlag erschienen:

Der Tod meines Bruders - ein Bericht, Ffm 2010, ISBN 978-3-86600-062-9

Die Beerdigung des jüngsten Bruders, der 33-jährig nach einem Fahrradunfall und Wiederbelebungsversuchen auf einer Intensivstation stirbt, führt zum ersten Treffen aller Familienangehöigen (Geschwister und Eltern, die seit zwanzig Jahren geschieden sind). Seit langen hatten sie keinen oder sehr losen Kontakt. Die Erzählerin entwirft das bild einer sehr disparaten Familie, die auch nicht wieder zusammenfindet.

 

 


 

© Katja Schickel/www.letnapark-prager-kleine-seiten.com

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