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Frauen, Orte und das ganze postmoderne Leben

von Natalia Shchyhlevska



 

 

Techno der Jaguare. Neue Erzählerinnen aus Georgien.
Hg.: Manana Tandaschwili / Jost Gippert 
248 Seiten, geb., Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2013
€19,90. ISBN-13: 9783627001926

 




Von den sieben im Band versammelten Erzählerinnen aus Georgien dürfte Nino Haratischwili keine Unbekannte mehr sein. Sie ist die einzige unter ihren Kolleginnen dieser Anthologie, die auf Deutsch schreibt, und sich mit dem Roman Mein sanfter Zwilling bereits einen Namen im deutschsprachigen Literaturbetrieb gemacht hat. Die anderen Schriftstellerinnen schreiben auf Georgisch, und es ist ein großer Verdienst der Herausgeber, eine Auswahl aus ihren Werken zugänglich zu machen. So unterschiedlich nämlich Thematik und Stil der vorgestellten Autorinnen sind, so deutlich zeichnet sich die Originalität jeder einzelnen ab. Worüber und wie schreiben Frauen, die zwischen 1964 und 1983 geboren wurden und in einem postsowjetischen, kaukasischen Staat leben?

Eine der zentralen Tendenzen dieser Texte ist die Gegenwärtigkeit des Erzählten. In keiner der Geschichten reicht die erzählte Zeit über die des gerade dargestellten Protagonisten hinaus. Unwillkürlich entsteht der Eindruck, die Figuren kämen von Nirgendwo und gingen Nirgendwohin. Der Leser ist Augen- und Ohrenzeuge ihres Jetzt-Zustandes und nimmt die sich breitmachende Leere ihrer Herkunft wahr. Dies äußert sich insbesondere im Kinder-Eltern-Konflikt, wie im Einakter Die zweite Frau von Nino Haratischwili beispielsweise besonders krass dargestellt wird. Der Hass der pubertierenden Tochter Agnes auf ihre krebskranke Mutter oder die Lieblosigkeit der Mutter, unter der der kleine Alexander in der Erzählung Der andere W-E-G von Ekaterine Togonidze leidet und Blindheit vortäuschend auf ein Blindeninternat geht, um der Mutter zu entkommen, lassen einen Generationsbruch vermuten. Die Protagonisten allerdings scheinen ihre Vergangenheit und ihre Familiengeschichte nicht zu kennen. Da die Großelterngeneration in diesen Erzählungen fehlt oder nur marginal vorkommt, fängt das kulturhistorische Gedächtnis der Protagonisten bei Null an. Dies zeigt sich auch in der Nicht-Spezifik der Orte, ja, in einer Art Entortung. Der Topographie kommt keine Bedeutung zu, Landschaft und Natur werden nicht beschrieben. Die Orte der Handlung sind austauschbar, die Namen der Protagonisten international. Man könnte von einer postmodernen Prägung dieser Texte sprechen. Vermutlich ist diese Diagnose im Kontext des Zusammenbruchs der Sowjetunion, der Neuorientierung des postsowjetischen Georgiens in den 1990er-Jahren und der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation im Land zu sehen.

Die zweite Gemeinsamkeit und Besonderheit der Texte besteht darin, dass ihre Autorinnen sich den sog. kleinen Leuten zuwenden: es sind Einzelpersonen, meistens Frauen, die mit ihrer privaten Story im Zentrum der Erzählung stehen. Man findet keine Aufarbeitung der Geschichte und der jüngsten Vergangenheit Georgiens, keine kritische Auseinandersetzung mit der sowjetischen Zeit, keine Konstruktion nationaler Identitäten und Mythen, was auf den ersten Blick zu erwarten wäre. Stattdessen werden private Sorgen, beiläufige Liebschaften, alltägliche Erlebnisse thematisiert. Dabei sind die Protagonistinnen stark und emanzipiert, beruflich erfolgreich, sie wissen, was sie von ihrem Leben möchten und wie sie dies erreichen können. Oft hedonistisch, manchmal kaltblütig oder zynisch sind diese Frauenfiguren, aber nie hilfsbedürftig, unsicher oder verzweifelt. Auch mit Schicksalsschlägen scheinen sie umgehen zu können (Die zweite Frau), lassen sich nicht instrumentalisieren (Killers Job), und wie Baron Münchhausen können sie sich sogar in der Fremde am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen (Techno der Jaguare). Doch wird man die (Selbst-)Aggression, oft auch Gewaltbereitschaft vieler ProtagonistInnen nicht übersehen können, was sich auch in der Sprache niederschlägt, die von Hysterie und Schimpftiraden (Die zweite Frau; Killers Job) geprägt ist, stellenweise jedoch hinter aller Hektik versteckte Angst und Trauma spüren lässt (Techno der Jaguare; In den neuen Hütten; Der andere W-E-G).

Um der Leere der Herkunft und der Gegenwart zu entkommen, machen sich manche Protagonistinnen auf den Weg. Gogona und Mea landen in Amerika (Techno der Jaguare), während die alleinerziehende Lena ihre zwei Kinder bei der Großmutter lässt und im Westen als Haushaltshilfe arbeitet. Bemüht, die Probleme und Konflikte der Heimat hinter sich zu lassen, werden sie an ihren jeweiligen Sehnsuchtsorten mit anderen Sorgen und Konflikten konfrontiert. Kwinikadze und Haratischwili greifen zu Klischees und warten mit beißender Gesellschaftskritik auf. Wenn die reale Flucht nicht möglich ist, begeben sich einige Protagonistinnen in imaginäre Räume, surrealistische Erlebnisse sowie vorgetäuschte Krankheit und Selbststigmatisierung: Adna in der Erzählung In den neun Hütten durchquert irreale, halluzinierte Räume, in denen sich verschiedene Zeitdimensionen und Bewusstseinsstufen durchkreuzen; der Protagonistin Tino in Eine mit Buch und ihre erlesene Leserschaft wird über Nacht ein Buch aus dem Kopf wachsen; der Ausnahmebildhauer in der Erzählung Der andere W-E-G täuscht seit Kindheit Blindheit vor und wird seine Geliebte umbringen, um diese Selbstlüge aufrechtzuerhalten.

Der Band Techno der Jaguare zeichnet die Zäsur, die im postsowjetischen Georgien nicht nur politisch, sondern auch literarisch entstand, nach. Er bietet unterhaltsame Lektüre, weckt das Interesse für georgische Literatur und lässt auch fragen, ob sich Unterschiede zwischen dem Schreiben männlicher und weiblicher Autoren in Georgien ausmachen lassen. Daher wäre ein Folgeband interessant, in dem beispielsweise Aka Morchiladze, Surab Leschawa, Dato Turaschwili, Sasa Burtschuladse, Bondo Matsaberidze und andere neue Erzähler aus Georgien vertreten wären.


© Text: mit freundlicher Genehmigung von Natalia Shchyhlevska; literaturkritik.de. Foto: FVA

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