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Zum Ende des 50. Theatertreffens in Berlin



Das Mirakel des Wortes

von Rolf Boysen



Das Theater ist die einzige Kunstform, die nicht überdauert. Es existiert nur zwischen Beginn und Ende einer Vorstellung. Es ist das Spiegelbild des Lebens, das ja auch nur zwischen Vorhang auf und Vorhang zu sein Spiel treibt.

Der Schauspieler schleppt den überlebenden, manchmal 'ewigen' Text unter der Fron seiner eigenen Bewunderung mit sich herum. Die Überzeugung, diesem Text nicht gerecht werden zu können, ist die Ursache seiner dauernden Depressionen. Jedes Wort ist – jenseits seines Informationswertes – ein Mirakel. Es kommt von weit her, dieses semantische Rätsel. Aber dann und wann zeigt es sich in seiner ganzen überraschenden Ursprünglichkeit, in seiner ganzen Nacktheit.

Das ist der Moment, auf den der Schauspieler hoffen muss, nach dem er forschen muss.Sein Blick – der des Wortes, der der Sprache – ist nach rückwärts gewendet. Darin liegt seltsamer Weise sein Fortschritt. Es ist wie der Blick jenes Engels der Zukunft (oder der Geschichte), der in das Geröll der Vergangenheit schaut und dem der Sturm der Zukunft, der er den Rücken zukehrt, ins Gefieder fährt, so dass er die Flügel nicht mehr schließen kann.

Sprache lässt sich nicht modernisieren. Wer an ihr herumbastelt, herumklempnert, sticht dem Engel die Augen aus und reißt ihm die sturmzerfetzten Flügel heraus, so dass nur noch ein Torso auf der Strecke des Gequassels bleibt, ein Torso, der das Gewesene nicht mehr schauen und dem Zukünftigen keinen Widerstand entgegensetzen kann. Denn nur, wenn es sich gegen Widerstand behauptet, kann das Zukünftige eines Tages zum Gewesenen werden – also zum Wesen beitragen, wesentlich werden. Der wahre Prophet ist nicht der, der die Zukunft voraussagt, sondern der, der mit weit aufgerissenen, beckettschen Augen in das Geröll der Vergangenheit, in das Gewesene schaut. Wir wissen die Zukunft nicht. Aber – schlimmer noch – wir wissen auch die Vergangenheit nicht. Wir leben auf dem Zenit der Unwissenheit zwischen dem, was war, und dem, was sein wird – auf der Kippe zwischen beiden liegt unsere Wirklichkeit.

Die Unwissenheit ist unser Verhängnis, aber auch unsere Rettung. Sie lässt uns alle Fehler wieder und wieder machen, lässt uns aber gleichzeitig vergessen, dass wir sie schon einmal gemacht haben. Auf diesem Gipfel der Unwissenheit suchen wir uns unsere Utopien, die nichts anderes sind, als die Sehnsucht nach dem, was war, und die Hoffnung auf das, was sein wird, befreit von den Makeln des Menschlichen und begleitet von der Zuverlässigkeit der Sprache. Die Furcht und die Tröstungen seiner Verlassenheit sind die Quellen seiner Utopien. Und die Sprache lässt sie – den Menschen – ihre Erkenntnisse darüber formulieren. Und wenn er das tut, bemerkt er, dass die Sprache, die er doch selbst erfunden hat durch seinen eigenen Pulsschlag, eine bestimmte Ordnung angenommen hat – den Singsang seiner eigenen Erzählkunst, seines eigenen Berichtens. Und da er diese Ordnung erhalten wollte, denn sie kam aus seinem eigenen Wesen, sie hatte mit seinem Atem zu tun, gab er ihr Zeichen: zum Heben der Stimme, zum Ausatmen, zum Innehalten, zum lieb gewordenen Hervorheben usw. Man nannte das später Syntax. Sie ist die geordnete Melodie der Sprache. Sie ist ihr Eros. Sie ist ihr Schmuck. Man könnte auch sagen: sie ist ihr Kleid.

Und nie darf der Mensch vergessen, dass der Blick ins Gewesene und der Sturm des Zukünftigen ihm dieses Kleid geschenkt haben.



© aus: Neue Gesellschaft | Frankfurter Hefte, 4/2008, S.77; www.frankfurter-hefte.de

© Fotos: Theatermasken von Bernd Boscolo, pixelio.de; Porträt: wdr5.de

 


Rolf Boysen, *1920 in Flensburg, stand über sechzig Jahre auf Bühnen der Bundesrepublik, davon fünfunddreißig Jahre an den Münchner Kammerspielen, zuletzt am Residenztheater. Als bereits über Achtzigjähriger spielte er den Shylock in Der Kaufmann von Venedig. Er spielte in Kino- und Fernsehfilmen, synchronisierte und spricht in Hörspielen und Hörbüchern. Boysen erhielt für seine Arbeit unzählige Auszeichnungen und Ehrungen. 1998 publizierte er – gemeinsam mit Michael Schäfermayer - das Buch Nachdenken über Theater im Verlag der Autoren, Frankfurt/Main.


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Theatertreffenzeichnung we have wings, babe © KENDIKE

© KENDIKE, Henrike Terheyden, We have wings, babe! - Zum 50. Berliner Theatertreffen

 

 



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