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Hiob im All

von Helmut Sturm


 

Max Brod: Tycho Brahes Weg zu Gott
Mit einem Vorwort von Stefan Zweig
328 S., geb., Wallstein Verlag, Göttingen 2013.
29,90 €, ISBN-13: 9783835313347

 



Max Brod, wissen wir, hat sich über die letztwillige Verfügung seines Freundes Franz Kafka hinweggesetzt und dessen Manuskripte nicht verbrannt. Franz Kafkas Werke fehlen heute in keinem Literaturkanon, während die Texte des Bestsellerautors der zwanziger und dreißiger Jahre zumeist nur mehr in Bibliotheken zu finden sind, und heute kaum noch gelesen werden. Es ist ein Verdienst der Herausgeber Hans-Gerd Koch und Hans Dieter Zimmermann, dass Brods wichtigste Werke wieder neu zugänglich gemacht werden.

Der hier zu besprechende Roman enthält ein Vorwort von Stefan Zweig aus dem Jahr 1927, ein informatives Nachwort von Roland Reuß, eine editorische Notiz und einen knappen, doch präzisen, Überblick über das Leben des 1884 in Prag geborenen Autors, der 1968 in Tel Aviv starb.

Tycho Brahes Weg zu Gott erschien noch vor der Buchausgabe seit 1915 in sechs Lieferungen in der von René Schickele herausgegebenen Zeitschrift Die weißen Blätter. 1917 hat sich die Buchausgabe in Kurt Wolffs Verlag bereits über 50.000 Mal verkauft. Dieser Erfolg ermöglichte es Max Brod, andere Autoren im Verlag zu etablieren, beispielsweise auch Franz Kafka. Diesem hat er den Roman gewidmet: „Meinem Freunde Franz Kafka“.

 

Max Brod war an der Renaissance interessiert, seine drei historischen Romane spielen in dieser Epoche. Zwei Jahre nach dem Tycho erscheint Rëubeni. Fürst der Juden und 1948 schließlich Galilei in Gefangenschaft. Diese Trilogie erhielt den Titel „Kampf um Wahrheit“. Offensichtlich ist, dass es Max Brod dabei nicht um die historische Wahrheit geht, auch wenn etwa Stefan Zweig in dem ihm typischen Duktus meint, dass nur wenige Werke „so durchaus den Geist, das Gefühl des Mittelalters“ vermittelten. Brod, als deutschsprachiger Jude Angehöriger einer Minderheit in der Minderheit des damaligen Prag, geht es letztlich um für ihn und seine Zeitgenossen aktuelle Fragen. Es geht um die Suche nach Heimat, die Erfahrung von Sinnlosigkeit, um Liebe und Wissenschaft. Deshalb hält Zweig schließlich auch zurecht fest, dass es falsch wäre „Tycho Brahes Weg zu Gott“ nur als historischen Roman zu lesen, wo er doch mehr „Darstellung eines religiös und moralisch Gegenwärtigen, als einer zeitentfernten Kultur“ sei.

Es ist in etwa das letzte Lebensjahr Tycho Brahes, von der ersten Begegnung der beiden Astronomen Brahe und Kepler auf dem unweit von Prag gelegenen Schloss Benatek (Benátky), wo Brahe zu dieser Zeit residierte, am 4. Februar 1600, bis zu dessen Übersiedlung nach Prag. Später hat Max Brod versucht, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass er sich in der Darstellung Keplers von Albert Einstein, den er aus dessen Prager Zeit kannte, habe inspirieren lassen. Für die Lektüre scheint dieser Hinweis allerdings nicht besonders hilfreich, zumal Kepler durchgängig nur von Außen beschrieben wird als ein Mensch, der sich „nur mit Rechnereien“ abgibt. Brahe erkennt die wissenschaftliche Bedeutung Keplers und hadert mit seinem Leben. Er wird dargestellt als ein vielseitig begabter Mensch, der versucht, seine Stellung in Gesellschaft, Familie und Wissenschaft zu bestimmen. Als aus seinem Heimatland Vertriebener, von Kindern und Ehefrau unverstandener und in der Wissenschaft vom Scheitern Bedrohter kämpft er, das Ende des Lebens vor Augen, darum, den Stellenwert seines Daseins zu bestimmen: „Den Sinn, mein Gott und Herr, den Sinn“.

 

Max Brod breitet diese Fragestellung auf der Folie religiösen Denkens aus. Das beginnt mit dem einleitenden Motto aus der Genesis, in dem er Jakobs Kampf mit dem Engel zitiert, und endet mit der Gleichsetzung Tychos mit dem Hiob der Bibel. Die Frage nach Wahrheit und Sinn des Lebens wird so jeder Banalität enthoben und in einer Größe sichtbar, die heutzutage für viele antiquiert erscheint. Man kann gerade darin einen Grund sehen, diesen historischen Roman heute wieder neu in die Hand zu nehmen. Bemerkenswert ist, wie selbstverständlich Brahe in dieser Erzählung in seinem letzten Lebensjahr eine geistige Entwicklung durchmacht, die in seiner zufälligen Begegnung im Vorzimmer des Kaisers mit dem berühmten Rabbi Löwe ben Bazalel gipfelt. Brahe erscheint dabei „das Volk der Juden, heimatlos und flüchtig wie er, stets angefeindet wie er, in seiner Lehre mißverstanden wie er und dennoch daran festhaltend, ausgeraubt und verwundet wie er, dieses Volk der Mißerfolge, förmlich als ein Symbol seines eigenen Lebenswandels“. So fügt er sich in die Reihe der Gerechten, die dafür da sind, „um Gott zu dienen und um ihn zu stützen“. Es geht ihm nicht mehr um Anerkennung, sondern darum, „im Namen Gottes, zur Aufrichtung und Erlösung der Welt“ beizutragen.

Deutlich wird, dass Max Brod in diesem Roman auch über sich selbst schreibt. Über seine jüdische Außenseiterrolle und seinen Bezug zum Judentum. Offensichtlich setzt seine Wendung zum Zionismus bereits in der Zeit der Arbeit an diesem Manuskript ein. 1939 gelingt ihm die Emigration nach Palästina, von wo aus er den Werken seines Freundes Franz Kafka mit ihrer Herausgabe zur Weltgeltung verhilft.

Tycho Brahes Weg zu Gott wird solche Weltgeltung nicht mehr erringen. Der Roman ist weniger ein Zeugnis für die Mentalität des Mittelalters, wie Zweig gemeint hat, als ein wichtiges Buch, das hilft den Beginn des 20. Jahrhunderts besser zu verstehen. Die in dem Roman eingeschlossene, recht turbulente Liebesgeschichte um Brahes Tochter Elisabeth steuert dazu auch etwas Unterhaltung bei.


© Mit freundlicher Genehmigung des Autors, literaturkritik.de. Fotos: Wallstein Verlag; Zeitgenössisches Tycho-Porträt, Komet 1577: tychobrahe.com; Armillarsphäre 1598: wiki.astro; Observatorien: Blaeus-Atlas 1662-63; Tychonisches Weltmodell: wikipedia.de; Sophie Brahe: P. Hansen, Dansk Literturhistorie, 1902; Tycho Brahe-Mondkrater (mit Strahlennetz): Joe Huber 2006. 



Helmut Sturm: Studium der Theologie, Germanistik, Publizistik in Salzburg, Lehrer an einer AHS, Lehrbeauftragter an der Universität Linz für Deutsch als Fremdsprache, Literaturkritiker.

1988 – 1996 Lehrtätigkeit in Washington D.C.. Diverse Veröffentlichung und Vorträge.



Die Brahe-Geschwister

Tyge / Tycho Brahe, *14.12.1546 auf Schloss Knudstrup/Schonen war ein dänischer Astronom, der wohl bedeutendste beobachtende Astronom in Europa vor der Erfindung des Fernrohrs, der auch die ersten systematischen Sternkarten entwickelte. Auf Anordnung der Familie studierte er zunächst jedoch Rhetorik, Philosophie und Jura in Kopenhagen, obwohl er sich bereits seit seiner Kindheit für die Sterne interessiert hatte. Eine Sonnenfinsternis beeindruckte ihn so stark, dass er sich schließlich ganz dem Studium der Astronomie und eigenen Himmelsbeobachtungen widmete. Aus vermögender, adliger Familie stammend, stellte ihm ein Onkel 1570 ein eigenes Observatorium zur Verfügung.

 

   

Observatorium Uraniborg

 

Observatorium Stjerneborg

 

1572 entdeckte er eine Nova im Sternbild der Kassiopeia. Der dänische König Friedrich II. ließ für ihn auf der Insel Hven im Sund die beiden Observatorien Uraniborg (1580) und Stjærneborg (1584) bauen. Er beobachtete und beschrieb, gemeinsam mit seiner Schwester, Himmelskörper, über achthundert Fixsterne und die Umlaufbahn des Mars. Die Theorie des Tychonischen Weltsystems entstand: danach umkreisen Sonne und Mond die feststehende Erde, die Planeten aber die Sonne.


Damit widersprachen sie dem von der katholischen Kirche propagierten ptolemäischen Weltbild, in dem sich alle Gestirne, also Sonne, Planeten und Sterne, um die Erde drehen und keine Veränderungen in der Fixsternsphäre stattfinden. In ihrer Kosmologie stand allerdings die Erde immer noch im Mittelpunkt, während Kopernikus schon die Sonne im Zentrum stehend sah. Mit dem Tod Friedrichs II. verlor er die notwendige finanzielle Unterstützung und folgte 1599 dem Ruf Kaiser Rudolfs II. als Hofastronom in Prag zu arbeiten, wo 1600 der junge Johannes Kepler sein Assistent (und späterer Nachfolger) wurde. Revolutionär war seine Entdeckung, dass sich die Kometen außerhalb der Erdatmosphäre bewegen. Tycho Brahe starb am 24.10.1601 auf Schloss Benátky bei Prag an einer Harnvergiftung, die bis heute Anlass zu Spekulationen gibt. Er liegt mit seiner Frau Christine in der Prager Teynkirche.


Seine zehn Jahre jüngere Schwester Sophie Brahe war schon früh an Astronomie und Mathematik interessiert, zunächst Autodidaktin, wurde sie ebenfalls Astronomin. Obwohl Frauen der Zutritt zu naturwissenschaftlichen Berufen de facto verboten war, verstießen die Geschwister gegen die Konvention, arbeiteten gemeinsam, beobachteten die Himmelskörper und verfassten schließlich im Observatorium Uraniborg einen neuen Fixstern-Katalog mit eintausend Standorten. Die erzwungene Heirat mit einem älteren Mann 1576 und die Geburt eines Sohnes 1580 unterbrachen diese Zusammenarbeit, die erst 1588, nach dem Tod des Ehemannes, wieder aufgenommen werden konnte. Mit dem Weggang ihres Bruders nach Prag war sie praktisch und definitiv von weiterer professioneller und (finanziell!) geförderter Erforschung der Gestirne ausgeschlossen, war zunächst als Gutsverwalterin und Gartenarchitektin tätig, nach weiteren Studien (u.a. Medizin und Chemie) später jedoch auch als Ärztin, Historikerin, Übersetzerin und Alchimistin. Sie heiratete in zweiter Ehe den dänischen Adeligen und Alchimisten Erik Lange und starb 1643 in Helsingør.


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