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Annett Gröschner, Walpurgistag

DVA, München 2011, geb., 448 S., 21,99 €.

 

 

 

 

 

Es ist der 30. April in Berlin, die Stadt bereitet sich auf die alljährlichen Krawalle in der Walpurgisnacht vor. Für Annja Kobe ist damit der Zeitpunkt gekommen, von der Polizei unbemerkt mit ihrem Vater umzuziehen, der seit zehn Jahren und fünf Monaten tiefgefroren in einer Kühltruhe liegt. Sie bittet Alex um Hilfe, einen Stadtstreicher, der Berlins Schlupflöcher so gut kennt wie kein anderer. Auf ihrer Tagesreise durch die Stadt kreuzen sie die Wege von Menschen, die wegen neuer Besitzverhältnisse die Wohnung wechseln müssen, Gas ablesen oder Taxi fahren, zur Schule gehen oder sie schwänzen, sich auf der Flucht vor der großstädtischen Einsamkeit in Blind Dates stürzen oder glauben, die Welt durch Aktionstheater verbessern zu können. All diese Lebensgeschichten verweben sich zu einem dichten Netz, das sich über die Stadt legt, sodass Berlin selbst zu einem der Protagonisten wird, seine Gegenwart wie Vergangenheit..

Annett Gröschner, 1964 in Magdeburg geboren, studierte Germanistik in Berlin, wo sie seit 1983 lebt. Für ihr schriftstellerisches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Anna-Seghers- Stipendium der Akademie der Künste Berlin und dem Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg. Außerdem schreibt sie Dokumentarliteratur, Theaterstücke und ist als Journalistin für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen und das Radio tätig. Seit 2005 unterrichtet sie als Dozentin für besondere Aufgaben am Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft in Hildesheim. 2000 veröffentlichte sie mit großem Erfolg den Nachwenderoman Moskauer Eis.

Weitere Veröffentlichungen:

ÿbbotaprag. heute. geschenke. schupo. schimpfen. hetze. sprüche. demonstrativ. sex. DDRbürg. gthierkatt. Ausgewählte Essays, Fließ- und Endnotentexte 1989-98. KONTEXTverlag 1998.

Moskauer Eis. Roman. Leipzig: Kiepenheuer 2000.

Hier beginnt die Zukunft, hier steigen wir aus. Berlin: Berlin Verlag 2002

Parzelle Paradies, Edition Nautilus, Hamburg, 2008

 

In Walpurgistag präsentiert Annett Gröschner ein Berlin zwischen Umzug, Schlafperformance, Blind Date und Supermarktplünderei und abseits des 'richtigen Riechers für Moden'. Von Andreas Tiefenbacher.

 

 

1983 kam die gebürtige Magdeburgerin Annett Gröschner nach Berlin, weil es damals – wie sie im Interview mit ZEIT online bekennt – „die Stadt in der DDR [war], in der man am freiesten leben konnte“. Und auch wenn digitale Überwachung inzwischen zum Alltag gehört, die Mieten hoch sind und zwischen Oktober und April Dauernebel herrscht, wie sie in den 2008 unter dem Titel Parzelle Paradies erschienenen Berliner Geschichten bekrittelt, hat sie ans Wegziehen nie gedacht. Im Gegenteil. Sie ist sogar der Meinung, dass sie „nur aus Versehen nicht in Berlin geboren“ worden ist, wie man auf Cicero.de nachlesen kann. Dementsprechend ist die Hauptstadt mittlerweile nicht nur Lebensmittelpunkt, sondern auch Hauptthema ihres Schreibens, das sich der Dokumentation einer Geschichte von unten verpflichtet fühlt und von sorgfältigen Recherchen und der Fähigkeit geprägt ist, Faktenmaterial in spannende Geschichten zu verwandeln.

Vom Zusammenspiel dieser Aspekte profitiert auch der neue Roman, dem konkrete Vorstellungen zugrunde liegen: Erstens sollte sich die Handlung auf einen einzigen Tag, nämlich die 24 Stunden des 30. Aprils, konzentrieren. Und zweitens sollte alles, was erzählt wird, „wirklich passiert sein“, so Gröschner.

Und weil es ihr auch darum ging, dass „möglichst viele Leute […] ihren Tagesablauf“ schildern, hat sie „über Zeitungen, Radio, Internet, Plakate und Flyer“ die Berliner Bevölkerung dazu aufgerufen, ihr mitzuteilen, was sie „am 30. April getan“ hat. „Über hundert Zuschriften“ sind letztlich zusammengekommen. Neben diesen individuellen Statements haben noch Polizeibericht und zusätzlich Recherchiertes als Quelle gedient.

Neun Jahre hat es bis zum fertigen Buch gedauert, in dem sich nun mehr als zwanzig Personen in insgesamt 78 Kapiteln tummeln. Was sie so alles an diesem Tag erleben, erfährt man aus wechselnden Perspektiven. Den Ereignissen stehen genaue Zeitangaben voran, inklusive abbreviationsartigen, einen Satz langen Zusammenfassungen des jeweiligen Geschehens.

Und es geschieht wirklich einiges: Turbulentes und Witziges, Dramatisches und Unvorhergesehenes. Nicht immer steckt dahinter eine klare Absicht des jeweils Betroffenen. Vieles wird einfach getan, weil man keine andere Wahl hat, wie Gerda Schweickert die im „Seniorenwohnhaus: Betreutes Wohnen am Kollwitzplatz“ anheuert, zumal das Haus, in dem ihre Familie 80 Jahre wohnte, mit allen Mitteln leer geräumt worden ist, „um es in einem halben Jahr mit höherem Erlös verkaufen zu können“.

Genauso keine Wahl bleibt auch der 38-jährigen Annja Kobe, Heldin schon in Gröschners ersten Roman Moskauer Eis: Sie muss aus dem „Keller unter der Backfabrik in der Prenzlauer Allee“ raus, weil das Gebäude „wegen Baufälligkeit“ abgerissen wird. In zwei Tagen sollen „die Bauarbeiter durch die Wand des Bunkers brechen“, in dem sie seit sieben Jahren mit ihrem inzwischen 65-jährigen Vater wohnt, den sie „am 1. Dezember 1991 in eingefrorenem Zustand gefunden“ hat. Seitdem lebt sie mit ihm im Untergrund, aus Mangel an Vertrauen in Polizei und Justiz, die sie verdächtigen, ihren „Vater ermordet und entsorgt zu haben“.

Dieses Leben am „Rand der Gesellschaft“ unter falschem Namen und mit wenigen Sozialkontakten hat natürlich Spuren hinterlassen: Annja ist, „was die Nähe von Fremden angeht“, empfindlich und neigt „zu Schweißausbrüchen“. Ihr Alltag wird geprägt von der Suche nach einem gültigen Ausweis und dem Wunsch, nicht weiter aufzufallen. Das heißt: „Nie bei Rot über die Straße gehen“, kein Handy haben und sich nicht zu verlieben. Denn „verlieben bringt Illegale immer in Gefahr“.

In Gefahr befinden sich aber nicht nur Illegale, die mit einer Gefriertruhe im Schlepptau „eine Dreiraumwohnung in einem Hochhaus“ beziehen, sondern auch ganz normal registrierte Stadtbewohner. Andreas Hosch ist so einer und sich dessen bewusst. Darum schaut er „jeden Morgen nach dem Aufstehen“, ob sein Taxi „nicht geklaut worden ist“. Dass er dann bei einem Überfall auf eine Kneipe, in der er gerade Gast ist, „mit dem Kopf gegen den Heizkörper“ kracht und ein „Schädeltrauma“ erleidet, trifft ihn aber doch überraschend. Genauso geht es Candy, die mit dem Rad nach Hause fährt und plötzlich „etwas Dunkles“ auf sich zukommen sieht. Oder Ilona Kaufmann, die nach dem Crash nicht mehr weiß, wie sie heißt und wo sie wohnt.

Das weiß Paul Bülow glücklicherweise noch. Doch überrascht ist auch er, als ihm die in einem unversperrten Abstellraum stehende Kühltruhe nicht nur Moskauer Eis bietet, sondern auch einen „mit Reif“ überzogenen Mann, der lächelt.

Lächeln kann die Sonderschullehrerin Heike Trepte gerade gar nicht: Erstens ist sie schwanger und will abtreiben, weil das Kind „wahrscheinlich nicht von Micha“ ist, mit dem sie sich in einer Scheinehe „zusammengerauft“ hat, sondern von einem Oboisten „der Berliner Philharmonie“. Und zweitens überkommt sie beim Betreten der Schule, an welcher sie unterrichtet, ständig „das Gefühl, in eine dunkle, gefährliche Höhle hineinzulaufen“.

Kein gutes Gefühl hat auch Paul, wenn er dort ankommt, begrüßt ihn doch sein Mitschüler Murat jeden Morgen mit „Schwule Ratte“, weshalb er beschließt, „so unsichtbar wie möglich“ zu sein.

Davon hält Katrin Manzke eher weniger. Sie will schon gesehen werden: und zwar vom richtigen Mann, der endlich einmal „kein Trinker, kein Schläger und kein Neonazi“ sein soll. Ob aber gerade ein Blind Date dafür geeignet ist, um erfolgreich zu sein, darf bezweifelt werden.

Was die Realisierung eines Wunsches anbelangt, hat Trude Menzinger eindeutig bessere Karten. Sie benötigt nur einen „Kohlenanzünder“, um den Porsche Cabrio des Hausbesitzers, der für ihren Umzug verantwortlich ist, in Brand zu setzen.

Für Sugar, Cakes und Candy, die eine richtige „Mädchenbande“ sein und „für die Unterdrückung der jungen Kurdinnen und Türkinnen in Berlin“ kämpfen wollen, sieht die Sachlage eher unrosig aus. Oder für jene „achtzig Prozent“ Schulabgänger, die keine Lehrstelle bekommen. Oder für die schnorrenden Bettler und Roma-Frauen mit ihren frierenden Kindern. Oder für die türkischen und arabischen Mädchen, denen „eine Kinderhochzeit“ bevorsteht und die gewillt sind, sie „wie eine Naturkatastrophe“ hinzunehmen.

Hingenommen werden muss schon so einiges. Vor allem dann, wenn einem nichts anderes übrig bleibt, wie Andreas, der – trotz unerträglicher Schmerzen im Kopf – nach dem Überfall weiter Taxi fährt, weil er sich einen „Verdienstausfall nicht leisten kann“. Als er dann aber erfährt, dass er schon lange Vater ist und wenig später seinen Sohn kennen lernt, wird ihm alles zuviel.

Zuviel wird es auch Heike, wenn sie sieht, wie Mütter „ihren Kampfhunden mehr Zuwendung geben als ihren Kindern“. Ja! Zuviel werden kann es jedem, wenn „etwas Entscheidendes fehlt“. Und das tut es bei einigen in diesem Roman. Und die wollen dann natürlich schon mehr, als bloß dass ihnen die kaputte Kaffeemaschine aus früherer DDR-Produktion repariert wird. Und sei es nur mehr Spaß oder ein spannender Abend. Der schwebt jedenfalls den „drei alten Damen“ vor, während die Kneipenräuber eher Geld im Auge haben, „Sperrkassierer Trepte“ offene Gasrechnungen seiner Kunden und Aso Aksoy, dass sie ihre Kinder wieder in den Griff bekommt.

Einzig der wie ein Helfersyndrom durchs Geschehen wandelnde Stadtstreicher Alex scheint nichts zu wollen und „grundsätzlich zufrieden mit seinem Leben“ zu sein, was der Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Viola Karstädt aber ein schlechtes Gewissen bereitet, weil sie „dauernd Bedürfnisse hat, die sie für wichtig hält“. Doch dass Menschen Bedürfnisse haben, ist normal, seit sie keine Kugeln mehr sind und deswegen „auf der Erde lauter Halbmenschen“ herumrennen, die „die andere Hälfte der Kugel suchen“. Problematisch dabei ist nur, dass jeder „wie ein Irrer rumtrampelt und nicht sieht, was [er] kaputt latscht“. Denn ist das Gefühl der Verliebtheit im Spiel, legt sich eben ein Zauber über alles, sogar über „die Besoffenen in der S-Bahn, die Kotze, die Kacke, die überquellenden Abfallbehälter, die Obdachlosen mit den Zeitungen“. Und schon ist nichts mehr „widerwärtigste Gegenwart“.

In dieser Erkenntnis liegt eine der großen Botschaften des Romans, der rasant und humorvoll aus dem Innenleben eines „Großstadtdschungels“ berichtet, von Menschen aus der unteren Hälfte der Gesellschaft, von Werktätigen mit „Ostsozialisation“, der „arbeitslosen Arbeiterklasse“, Pensionistinnen, Jugendlichen, Müttern, schrägen Vögeln; und der einem eines umso deutlicher macht: „Nichts ist so schwer, wie einfach zu leben“. Ein kleiner Satz auf einem Kalenderblatt, aber eine große Leitlinie in diesem schicksalsreichen, nie langweilig werdenden Buch.

 

Andreas Tiefenbacher: geb. 1961 in Bad-Ischl, Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie, unter anderem Lehrer an einer Maturaschule, Hausmann und Buchhändler. Seit 1992 Sozialpädagoge, seit 2002 Betriebsratsvorsitzender im Verein Schülerheime, lebt in Bad-Goisern, Traismauer und Wien.
Veröffentlichungen in Literatur- und Kulturzeitschriften, Zeitungen, Anthologien und im ORF; seit 2001 auch Literaturkritiken; Begründer der Anti-Heimatparodie (siehe dazu: Modern Austrian Literature. Journal of the Modern Austrian Literature and Culture Association, Vol. 36, 2003) und seit 1995 Mitglied der Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV). Mehrere Preise und Stipendien. Sein neuer Roman Christbaumcrash erschien im Kitab-Verlag, Klagenfurt.

 

 

 

Leseprobe 

©DVA, mit freundlicher Genehmigung des Verlags

 

Vorspiel

Alex umrundet die Welt und wird in Höhe Ostgrönland von einer Doppelstreife belästigt

 

Auf dem Brunnenrand liegen eine Barbiepuppe ohne Kopf, drei lederne Brieftaschen ohne Inhalt, der Schwanz einer Ratte und die Zeitung von morgen, die einer schon ausgelesen hat. „1. Mai – Erleben wir den Gipfel der Gewalt?“, steht groß auf der ersten Seite.

  Ich krame weiter in den Tiefen meines Rucksacks und finde den blutig verschmierten Kopf einer Barbie, aber nicht meinen Schal. Der Alexanderplatz ist ein Kältepol. Nur Herumlaufen wärmt. Schon zehnmal habe ich den Weg vom Brunnen bis zur Weltzeituhr zurückgelegt. Ich weiß jetzt, wie spät es in Phnom Penh ist und welche Zeit die Armbanduhren der Moskauer anzeigen.

  Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen. Mit großer Geste die Planeten anzuhalten oder die Uhren um einen Tag vorzustellen. Vielleicht würde ich mich daran aufwärmen können. Den ganzen Winter über habe ich nicht so gefroren wie heute Nacht. Also wieder von vorn. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist ein Spiel. Ich achte dieses Mal streng darauf, beim Gehen nicht auf die Ritzen der Gehwegplatten zu treten. Und suche dabei nach Sätzen, die rhythmisch zu meinen Schritten passen. Lie-ber A-lex-an-der-platz, schenk mir ei-nen gu-ten Satz. Der Alexanderplatz schweigt. Ich blicke mich um und finde „Richtig leben. Ab jetzt können Sie es!“ am Schaufenster der Sparkasse. Richtig leben. Ausgerechnet die müssen mir das sagen. Dieser Satz lässt sich nicht gut erlaufen. Zwischen „Leben“ und „Jetzt“ stockt der Schritt. Wahrscheinlich sehe ich bei diesem Satz aus wie ein Storch, der durch den Salat stakst.

  Ich probiere es mit: Mo-na-den ha-ben kei-ne Fens-ter. Ich weiß nicht, warum ich beim Wort Monade automatisch den Alexanderplatz sehe, egal, wo ich bin. Und zwar den von 1986 Blick von der Selbstbedienungsgaststätte im Sockelgeschoss des Interhotels Stadt Berlin in Richtung Alexanderhaus, noch mit den gestreiften Markisen über den Fenstern des Berliner Kaffeehauses, das schon lange nicht mehr existiert.

  Kurz vor der Weltzeituhr machen die Gehwegplatten schwarzen Basaltkatzenköpfen Platz. Der gepflasterte Kreis um die Uhr ist drei Männerschritte breit und beim besten Willen nicht mit einem Satz zu überspringen, nicht einmal mit Anlauf. Ich bräuchte jemanden, der mich durch das Basaltmeer bis zum kreisrunden Mosaikboden unter der Weltzeituhr trägt. Aber es ist kein Mensch in der Nähe, nur hinten am Eingang des Kaufhauses am anderen Ende des Platzes sitzen ein paar Punks mit ihren Hunden. Aber auch wenn sie in meiner Nähe wären, würden sie mir wohl den Vogel zeigen.

  Ich laufe vorsichtig auf Zehenspitzen über das Steinwasser und fühle mich wie Jesus, der übers Wasser läuft, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Über mir ist jetzt das Dach der Weltzeituhr, das gut vor Regen schützt, und unter mir der zur Windrose geformte Mosaikboden: Nord, Nordnordost, Nordost, Ostnordost, Ost, Ostsüdost, Südost, Südsüdost, Süd, Südsüdwest, Südwest, Westsüdwest, West, Westnordwest, Nordwest, Nordnordwest, sagen die Platten; sechzehn Schritte im Uhrzeigersinn auf dem roten Stein mit den eingelassenen Messingbuchstaben bis zum Ausgangspunkt Nord, und nicht auf die Ritzen treten, nie, nie, nie.

  Was sehen meine müden Augen, als ich in Höhe Chabarowsk eine Sekunde innehalte und meinen Blick über den Platz schweifen lasse: Transzendenz, Rausch, Mukulator und Entropie. Nein, Utopie nicht, ganz und gar nicht. Alles ist gegenwärtigste, was sag ich, widerwärtigste Gegenwart. Sie sind überpünktlich in ihrer weiß-grünen Minna. Fünf Minuten vor der Zeit. Wen haben wir denn da heute? Oberwachtmeister Bartuschewski, der seinen Namen nicht mag, weil er so polnisch klingt, und neben ihm am Steuer den Genossen Gottfried. Eingehüllt in ihren Blechkokon, aus dem sie nur ungern schlüpfen. Und schon gar nicht in einer kühlen Aprilnacht. Außerdem essen die beiden zu viel während der Nachtschicht, eines Tages werden sie beim Aussteigen mit ihren Bäuchen stecken bleiben und nur noch über ihre Anlage schreien können: „Herr von Alex, nach ASOG § 29 Absatz 2 ist es Ihnen verboten, sich auf dem Alexanderplatz aufzuhalten.“ Und ich werde meine aus der Zeitung des Tages gefaltete Flüstertüte nehmen und quer über den Platz zurückrufen: „Genosse Bartuschewski, Genosse Gottfried! Stillgestanden! Für den vorbildlichen Streifendienst an einem kriminellen Schwerpunkt Berlins zeichne ich Sie mit dem Aktivistentitel aus. Rühren!“ Das mögen sie gar nicht.

  Ich kenne Gottfried und Bartuschewski schon lange, viel länger als sie glauben, mich zu kennen, ich weiß alles über sie. Aber ich darf es ihnen nicht allzu deutlich zeigen, will ich heute nicht am Stadtrand ausgesetzt werden. Es soll noch regnen diese Nacht, und ich hasse nichts mehr, als wenn meine Sachen nass werden.

  Gottfried ist ja kürzlich strafrückversetzt worden. Er war erst seit vier Monaten am Breitscheidplatz, als er einen Ausländer als „Schweinekanaken“ bezeichnet hat. Das fand der Ausländer gar nicht lustig, und er konnte, anders als von Gottfried angenommen, sogar einen Rechtsanwalt bezahlen. Ich hätte dem guten Gerd Gottfried gleich sagen können, dass die Gegend um den Kurfürstendamm nicht der Alexanderplatz ist. Jetzt wird Gottfried nur sehr langsam wieder größer, im Moment geht er Bartuschewski gerade mal bis zum Hals, obwohl er zehn Zentimeter länger ist. Die Zeitungsartikel über den rassistischsten Polizisten Berlins hat er ganz unten in die Schrankwandschublade gelegt, unter die Liebesbriefe seiner ersten Frau, die mit einem Kriminellen durchbrannte, den Gottfried höchstpersönlich festgenommen hatte und der nach seiner Haft in Brandenburg vorbeikam, um sich zu rächen, aber nur Gottfrieds Frau antraf, die sich, unglaublich, aber wahr, sofort in ihn verliebte.

  Eigentlich glauben Gottfried und Bartuschewski, sie hätten nach zwanzig Jahren Streifendienst endlich einen Bürojob verdient, mit der Rechtschreibung ist es ja auch kein Problem mehr, wenn man beim Schreibprogramm nicht aus Versehen Italienisch einstellt.

  „Personalausweis, Alex, kannste schon mal bereithalten.“ Die Anlage, über die hinweg mich Gottfried anschreit, scheppert blechern.

  Einen Personalausweis habe ich schon lange nicht mehr, warum auch, nur damit ich ihn Gottfried und Bartuschewski zeigen kann? Die wissen das natürlich, aber es ist eines ihrer liebsten Spiele, um im Nachtdienst nicht einzuschlafen. Obwohl Gottfried seit ein paar Monaten an Schlafstörungen leidet, die Bartuschewski einmal „senile Bettflucht“ genannt hat, woraufhin sie in der nächsten Schicht nicht mehr als nötig miteinander gesprochen haben. Gottfried schob dann nach sechs Stunden Schweigen Bartuschewski einen Strafzettel über fünfhundert Euro wegen Beleidigung rüber, und dann haben sie sich noch am selben Abend wieder versöhnt.

  Und Bartuschewski? Der sucht nach Gott, eigentlich sucht er eine Religion, die es ihm erlaubt, mit sofortiger Absolution härter durchzugreifen, stante pede von Gott persönlich erteilt. Gott sollte lieber Hirn für beide regnen lassen, sie müssten dazu nur kurz aus ihrem Auto raus, aber sicher wären sie zu langsam und das Hirn längst unten, bevor sie sich aus dem Wagen gequält hätten. Hirn auf dem Alexanderplatz wäre aber eklig, und ich würde vielleicht auf dem Weg nach Montevideo ausrutschen und mir ein Bein brechen. Und das ohne Krankenversicherung.

  Bartuschewski schlägt gern zu. Er bekommt dabei immer einen kleinen Orgasmus, vor allem, wenn er Männer schlägt, die kräftiger sind als er. Er hat zu viel gesehen, die ganzen traurigen Gestalten hier, es ist ja auch ein furchtbarer Platz, aber der Sternenhimmel in der Nacht und die Sonne im Sommer entschädigen dann wieder, da bekommt ein Typ wie ich schnell Farbe, manchmal schreien mir die Leute hinterher, ob Obdachlose jetzt auch nach Mallorca dürften. Sie sprechen Mallorca aus wie mallekrank. Nein, von Murmansk nach Mallorca komme ich nicht in einem Schritt, auch wenn ich schon überall war und überallhin komme.

 

 

©Fotos: Friedrich Seidenstücker, Berlin 1928 - Berlinische Galerie 2012; DVA, Kitab-Verlag Klagenfurt 

 

 



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