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EUre polarisierte Weihnacht

Eine Weihnachts-Geschichte von Carsten Schmidt


Einfach zu viel. Elena hält es nicht mehr aus. Sie springt auf die Straße unterhalb ihrer Wohnung in Berlin-Steglitz. Hier trifft die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft so herzerfrischend auf ihre Grenzen. Tief im Westen der Stadt, wo die alten, goldbehangenen, überparfümierten Damen im Pelz zwischen Ku´damm und Schlossstraße an verschneiten Obdachlosen vorbeigefahren werden, um den besten Schmuck und die neuesten Stiefel zu bekommen, die ihre Nachbarin hoffentlich nicht haben. Spätestens im Februar, auf der fünfundvierzigsten Kreuzfahrt, gibt es Gewissheit, ob Frau von Görke auch beim gleichen Juwelier war.

Mitten drin und ein Stockwerk über dem Luxus hatte Elena gewohnt und ist es leid geworden, den Damen in ihrer dreckigen Bäckerei-Schürze die Kaffee-Tassen zu servieren, aus denen sie am gepuderten Doppelkinn entlang Schluck für Schluck ihre Bedeutungslosigkeit schlürfen. Und reden über Gewinne, Gehalt, Erbe. Doppelschicht in der Bäckerei durchgehend bis Mitte Januar? Nicht mit mir, meint Elena. Und wie jedes Jahr: „Was machst Du zu Weihnachten? Und was zu Silvester? Wir sind im hippen Restaurant und in der neuen Bar!“ Abgesagt hatte sie den Freunden, weil sie peinlich getroffen war und sich nichts leisten konnte, keine schicken Cocktails und Eintritt in Clubs.

Schlichtweg zu teuer ist ihr diese Welt und sie singt, gesenkten Kopfes aber vollen Herzens, um den brüllenden Lärm der auf Hochtouren feuernden Klimaanlage der großen, glänzenden Passage zu übertönen:


Massen von Geld,

gespart unter Kissen,

wird verbrannt auf der Welt,

und die Bettler sehn´ s. Beschissen!

Proppenvolle Regale,

es riecht nach Torten, Cola, Fritten

Kaufen! – brüllen die bunten Plakate

Und die Stadt hängt voller Titten.

Schönheiten räkeln sich beinahe nackt

Kauft BHs! Und Schlüpfer, ihr braucht sie!

Stimmt, denkt Elena, die fehlen mir noch,

nur mit denen werd´ ich endlich doch happy!


Elena flieht, sie denkt: Raus muss ich – weg. Es muss doch eine letzte Rest-Bescheidenheit geben zum Fest! Oder? Sie überlegt sich, weit weg zu fahren, ganz hoch. In den geldlosen, scheinlosen, rabattfreien, kreditlosen, schuldenfreien Norden. Sie setzt sich auf die Ostseefähre-Fähre von Warnemünde zum dänischen Gedser und fährt und fährt. Die letzte Nachricht, die sie an der Grenze empfängt: „Feierste halt nicht mit uns, du armes Opfer!“ Auslands-SMS kann sie sich nicht leisten. Sie stellt das Handy aus, wirft die Bäcker-Uniform in einen Mülleimer und nimmt das zur Hand, was sie beruhigt. Sie strickt.


Uriel setzt seine Sonnenbrille auf. Mitten in der neuen Shopping-Passage am King´s Cross. Tief in der Tasche findet er sie und nun verdunkelt er sich damit den strahlenden Nachmittag. Und so verrückt es ist – er fällt nicht auf, denn in diesem Teil Londons halten viele etwas auf sich: Models in glitzernden Kleidchen, Kinder in leuchtend-flackernden Sportschuhen, Väter in grellen Jacken, polierten Designer-Uhren sowie urbane Hipster und ihre blinkenden Handies, die sie drei Mal im Jahr erneuern. Es schmerzt. Es ist zu viel. Hell! Seine Freunde luden ihn ein in die tolle neue Lounge „Heiligenschein“ mit Disco-Kugeln am beleuchteten Glasdach, gleich überm Solarium am obersten Deck der „Fire Towers“ – da konnte er nicht mehr.

Eine gehörige Bindehautentzündung plagt ihn seit Wochen – Endlich raus. Uriel fragt sein Handy, wo es zur Themse geht. Es verrät: Aufs Haar zwei Meilen südlich. Er sieht trotz dunkler Brille sein gehetztes, gebeugtes Spiegelbild diesseits und jenseits der Schaufenster, die dreifach angestrahlt einander reflektieren. Entlang der neonblauen Tannenbäume von fünfzig Meter Höhe und gigantischen Kino-Fronten, die ihn zu farbenfrohen, visuell erfrischenden 4-D Abenteuern einladen, flieht er zum Fluss und nimmt eine Fähre Richtung Osten, wo der Strom breiter und weiter wird.

Schlichtweg zu hell ist ihm diese Welt. Er fährt immer weiter, singend:


Why shall I do nothing but see

When mine eyes are nothing but red?

Shall rather flee, t´ is the best for me, yet,

From a world, where missing the

Last movie is seen as – a threat.

Shiny and glistening Look

through the golden ring

Of happiness – sign here,

With name and address,

For the newest enlightening TV set

With your most colourful YES!


Uriel schaut im Telefon nach „Orten der Dunkelheit“ und findet einen. Er wirft das Handy ins Wasser, setzt sich unter Deck, schaut ins pechschwarze Meer und beginnt mit etwas, das ihn immer schon beruhigt hat. Er schnitzt.


Alles presst Raphaela auf die Ohren, was sie hat. Handschuhe wirken Wunder. Demonstranten knallen wieder Molotow-Cocktails gegen Staatsgebäude, die sowieso schon seit drei Jahren hoffnungslose Ruinen sind. Sie muss zur Arbeit, ihre Klamotten entgegennehmen. Sie trägt drei Rucksäcke. Vier Kilometer in kreischendem Verkehrs-Gepresse nach Süden, zum gigantischen Container-Hafen Piräus, der bis 2040 China gehört. Raphaela holt ihre Kündigung – pünktlich zu Weihnachten. Die neue, günstige Chinesin sitzt schon auf Raphaelas lärmerfülltem altem Platz und genießt ihre ersten unbezahlten Überstunden. Raphaela räumt ihren Schrank. Sie blickt auf den immer dröhnenden, wummernden Server-Raum, der an das kühle Umkleide-Kämmerchen grenzt. Sie füllt die Rucksäcke mit persönlichen Sachen, tritt ein, legt ein paar größere Schalter um und zieht hier und da einen Stecker heraus. Das Dröhnen wird leiser.

Dann verlässt die letzte Griechin der Abteilung das Gebäude und geht schwer bepackt zum nahen Passagierhafen. Stoßstangen quetschen sich, Hupen und Sirenen antworten einander. Drinnen brüllen Lautsprecher Fahrzeiten durch die Abfertigungshalle. Frauen mit Schildern rufen Kampf-Parolen, ein Fernseh-Team filmt sie. Hier ist erlaubt, was auf der Arbeit verboten war: Presse, Gewerkschaften und Streiks. Jemand fragt in eine Gruppe Männer hinein, ob sie kochen können. Die Männer schütteln die Köpfe. Raphaela dreht sich um und bejaht. Der Mann fragt, ob sie auf einem Schiff arbeiten will. Es fährt heute ab, nach Norden. Klar! Hauptsache weg! Er meint, es sei ein kleines Schiff und sie kämen nicht vor Februar wieder. Gut!

Schlichtweg zu laut ist ihr diese Welt. Sie gibt freudig dem Kapitän die Hand – und singt:


Brüllt nur und ruft,

empört euch, nur zu!

Bin betäubt und verlassen,

egal, was ich tu.

Der Krach macht mich krank,

dieser Lärm, der Gestank,

Gib mich frei, Hellas,

lass mich

in Ruhe für mich sein!

Will hin, wo nicht immer

Der Lauteste siegt,

wo man still sein darf, klein,

und der Schnee schweigend fliegt.


Raphaela genießt das weite Mittelmeer, den Atlantik, die Nordsee. Sie zerknüllt Papiere ihrer Arbeitsstelle, befüllt grinsend damit den Schiffs-Ofen und tut das, was sie immer beruhigt. Sie schreibt eine Geschichte. Es war einmal…


Elena steigt aus dem Boot. Der Hafen von Hammerfest ist unwirtlich und absolut nicht gemütlich. Zwei kleine Lichter, keine Musik, starker Wind, minus fünfzehn Grad. Herrlich! Sie trampt zur einzigen Hauptstraße, die noch weiter geht.

Uriel klettert aus dem Flugzeug in Alta. Wenige Einwohner, über fünfhundert Kilometer jenseits des Polarkreises, pures Schwarz. Grandios! Bis Ende Januar wird die Sonne hier überhaupt nicht aufgehen. Prima. Er leiht sich einen alten Lieferwagen und fährt weiter.

Raphaela wird von Möwen wach. Stille im Hafen von Honningsvag. Beleuchtete rote, blaue und weiße Holzhäuser, viele einstöckig. Das Wasser platscht zwischen Schiffsrumpf und Kaimauer.

Dunkle, ferne Ruhe. Eine einzige kleine Pension.

„Jagland“ steht auf der Klingel. Drei vor Kälte schnaufende junge Menschen stellen sich an den Tisch, der eine Rezeption sein könnte. Ein grauhaariger, warm blickender Mann mit zwei Pullovern holt tief Luft und sagt: „Herzlich Willkommen am Nordkap. Wir…haben nur ein Zimmer. Wie lange bleiben Sie?“ Alle zucken mit den Schultern und scheinen zu überlegen. Bevor die drei potentiellen Gäste jedoch antworten können, öffnet er die Arme: „Aber – kommen Sie, alle! Legen Sie erst einmal ab. Bitte bleiben Sie heute Abend bei mir und meiner Familie. Wir haben genug Platz. Es ist doch Weihnachten!“

Die drei schauen sich zum ersten Mal gegenseitig an. Sie nicken. Weihnachten. Stimmt. Ihre Gesichter sind noch hart.

Der Mann erzählt und die Gäste tauen auf. Er arbeitet in Oslo, schlappe zweitausend Kilometer südlich. Sie setzen sich in Sessel und auf Sofas, bekommen Decken. Die Kinder von Jagland bringen lachend Kekse und Tassen mit Tee.

„Es ist für die Kleinen auch aufregend. Wir haben nicht oft Gäste. Das Haus gehört meiner Schwester. Sie holt noch Fisch. Ich komme immer über den Jahreswechsel hier hoch. Um meine Ruhe zu haben, wissen Sie?“ Sie schauen ihn tief an und er versteht, dass sie es wissen. Sie werden warm, erzählen von ihrer Reise und ihrer Herkunft. Endlich lacht der Erste, dann die Zweite. Die Stimmen wechseln sich ab…Elena, Uriel und Raphaela, alle Anfang zwanzig, erzählen einfach…

„Das hält doch keiner aus…Dieser elende Krach…Wollte raus aus dem grellen Konsum-Tempel…diese Stadt…immer nur Preise, Prozente, Schnäppchen, Sofortkredite…überall Autos…diese laute Werbung…aber die Natur hier…die Crew hat eine Kartoffelsuppe gemacht, das habt ihr noch nicht gesehen…so kleine Flugzeuge, fliegen bis hier hoch, das hab ich nicht gewusst…immer diese Straße lang, so weit, nur Moos, Elche und die weite Nacht…“

Plötzlich geht die Tür auf. Ein Weihnachtsmann tritt in die Stube – und wie aus einem Guss schwingen die Münder der jungen Leute zu einem Lächeln, auch wenn sie wissen, dass es ein normaler Mensch ist mit Bart und rotem Mantel. Der Hausherr zwinkert. Seine Kinder stehen hinterm Sofa und sind augenblicklich mucksmäuschenstill. Der bärtige Gast eröffnet das Gespräch und bittet die Kinder, vorzutreten. Sie sind aufgeregt, zappeln, aber haben auch ein wenig Angst. Der Junge sagt ein Gedicht auf, über Trolle, Geister und die Kraft der Frühlingssonne. Das Mädchen singt ein Lied über einen berühmten Zauberwald in der Nähe, welche Bäume dort wachsen und wann sie blühen. Sie versucht, dazu zu tanzen, gibt aber zumindest das Tanzen nach der Hälfte auf. Alle müssen lachen, ob sie wollen, oder nicht.

Nur der große Bärtige bleibt hart und spielt seinen Part gut. Er gibt dem Jungen eine Holz-Feuerwehr und dem Mädchen ein Spiel-Pferd. Er schaut in die Runde und ist neugierig. Jagland aber zwinkert ihm zu, so dass er ahnt, dass dies nicht sein Publikum ist. Er sagt: „Liebe Leute, ich wünsche euch ein schönes Fest. Es warten noch viele Kinder auf mich.“ Und geht.

Ganz unvermittelt öffnet Uriel seine Jacke und holt etwas heraus. Er setzt sich auf den Teppich und spielt mit dem Jungen. Er gibt ihm drei hölzerne Menschen, die er geschnitzt hat. Der Junge setzt sie in die Feuerwehr und grinst. Der Vater bedankt sich auch.

Die Tür geht wieder auf, eine Frau kommt herein. Auch sie zwinkert Jagland zu. „Na, Thorbjörn, kommen wieder die Leute aus der ganzen Welt zu Dir? Guten Abend zusammen! Und Geschenke gab es auch schon.“

Die anderen begrüßen sie freudig und bedanken sich für den Empfang. Die Gastwirtin hebt ihre Hände: „Bitte, liebe Leute. Es freut uns sehr! Nun haben Sie schon den nördlichsten Punkt erreicht, da wollen Sie sicher auch Polarlicht sehen, oder?“ Die drei schauen verblüfft. Natürlich! Daran hatten sie gar nicht gedacht. „Wir können nach nebenan gehen. Dort schaut man aufs Wasser, und es ist schön klar heute. Nur einheizen müssen wir da drin noch.“

Sie setzten sich zu dritt auf eine Couch vor ein herrlich großes Fenster. Herr Jagland brachte noch mehr Tee und ließ die Kinder nebenan spielen. Noch ließ das Polarlicht auf sich warten.

„Ab und an sieht man es, gedulden Sie sich nur.“

Raphaela reibt sich die Füße, als plötzlich Elena einen Rucksack öffnet. „Hier, ich hatte viel Zeit auf dem Meer und…hab dicke Socken gestrickt. Bitte!“ Sie gibt auch Uriel ein Paar. Er lächelt.

Herr Jagland nickt: „Das ist doch schön. So kann jeder etwas beitragen. Das ist immer so.“

Raphaela senkt den Kopf und meint: „Naja, ich habe nicht viel beizusteuern. Ich habe eine Geschichte geschrieben, aber sie ist erst am Anfang.“

Frau Jagland kommt mit Tellern voller Fisch und Gemüse in das Fenster-Zimmer. Sie nimmt sofort den Faden auf und ergänzt: „Schön. Bitte, lesen Sie doch! Vielleicht können wir sie später weiter erzählen.“ Alle nicken auffordernd. Elena, Uriel und Raphaela nun auch.

Sie machen es sich gemütlich und Raphaela beginnt:

„Es war einmal ein wohlhabender Mann. Der erfand verschiedene Dinge und machte damit sehr viel Geld. Er war an verschiedenen Wissensgebieten interessiert und schrieb aber auch Theaterstücke. Weil er keine Kinder hatte, vermachte er sein gigantisches Vermögen einer Stiftung. Die sollte aber nicht einfach das Geld ausgeben, sondern Preise für die besten Wissenschaftler verteilen. Er erfand das Dynamit und war auf der einen Seite reich dadurch, andererseits schockiert davon und traumatisiert. Sein eigener Bruder kam bei einem Experiment damit ums Leben. Man sollte den gefährlichen Stoff nur im Bergbau einsetzen, nie jedoch in einem Krieg. Er freundete sich mit einer gewissen Bertha an, die seine Abneigung von Gewalt und Krieg teilte. Deshalb verfügte er später, dass zusätzlich noch jedes Jahr die bedeutendsten ´Friedensverfechter´ einen Preis erhalten sollten.“

Die Zuhörer essen still, sitzen gebannt in ihren dicken Socken und heben die Köpfe, um ihrer Neugier Ausdruck zu verleihen. Raphaela isst nebenbei und erzählt weiter:

„Eines Jahres, als der wohlhabende Mann schon lange tot war, wurde einem Kontinent der Friedenspreis verliehen. Es verging auch zuvor kein Jahr, an dem nicht Menschen Zweifel hatten und Kritik äußerten, wer den Preis am meisten verdient hätte. In dem Jahr aber lachten, spotteten und höhnten viele Schreiber in Zeitungen und wichtigtuerische Menschen, warum ein ganzer Kontinent den Preis bekommen sollte, ob das gerechtfertigt sei…“

Raphaela isst auf, legt das Papier nieder und sagt: „Eine komische Geschichte zu Weihnachten, ja. Ich weiß nicht, wie man sie weiter schreiben kann. Was soll ein ganzer Kontinent mit dem Preis. Warum? Ist der gerechtfertigt?“

Auch Uriel und Elena haben keine Antwort. Da steht der Gastgeber auf und dreht den jungen Leuten den Rücken zu. Sie schauen in die herrliche polare Nacht, wo ab und an nun wirklich Violett, Indigo, Tiefblau, Grün und Rot sich in Wellenform abwechseln und schwingen. Er sagt:

„Die Menschen. Der Preis ist für die Menschen. Ich möchte die Geschichte ergänzen. Von den letzten zweitausend Jahren wissen wir eine Menge, manches jedoch wird man nicht erfahren. Aber man weiß sicher, dass es auf dem Kontinent nie lange Frieden gab. Immer kämpften Stämme anderer Dialekte, Religion, Herkunft und Staatsformen gegeneinander. Immer. Und jetzt gibt es eine Phase von über sechzig Jahren Frieden, in der Mitte des Kontinents fast schon siebzig.“ Die jungen Leute schauen unschlüssig, Uriel verdreht ein wenig die Augen.

Der Gastgeber fuhr schnell fort: „Gut, bitte. Nennt mir drei Dinge, die wichtiger sind als Frieden!“

Die drei Gäste grübeln, schauen auf ihre bunten, dicken Socken und in die weite Nacht. Ihre Schultern sinken gemeinsam mit ihren Köpfen. Sie nicken. Nach einer Weile heben sie die Gesichter wieder und schauen zum Rücken von Jagland. Er hatte sich nicht umgedreht.

Elena schnauft. „Aber die Staaten streiten sich dauernd!“ Uriel und Raphaela stimmen schnell zu.

Der Gastgeber schüttelt den Kopf: „Nein, die Staaten nicht, die Oberhäupter. Aber! Der Preis wurde nicht vergeben trotz des Streites. Die bekommen den Preis, weil sie sich streiten. Was wäre besser, wenn es keine Botschaften gäbe, keine Diplomatie?“

Wieder vergeht eine Zeit der Stille. Uriel scheint das Letzte aus sich herauszuholen und ruft beinahe verzweifelt: „Aber die Länder sind so verschieden!“ und haut mit der Hand auf die Sofalehne. Elena sagt: „Genau!“ und Raphaela schaut ins Leere.

Aber der Gastgeber brummt nur mit warmer Stimme, während er sich umdreht: „Nein. Die Menschen sind verschieden. Es heißt doch: Wir sind die wahren Länder. Nicht die Grenzen auf den Karten mit den Namen mächtiger Männer.“

Sie schauen ihn nur ruhig an.

„Die Menschen sind in jedem Dorf verschieden; mein Bruder ist anders als ich! Also…ich kann nicht gut reimen, aber beantwortet ihr mein Rätsel:


In unserem Haus wohnen Schneider und Wirt,

ein Lehrer, Depp und Kind,

wer, bitte, bist du, dass du sagst,

dass alle gleich wir sind?“


Elena macht einen Schmollmund, schlürft Tee und fragt: „Also sollen wir einfach akzeptieren, dass alle unterschiedlich sind?“ Uriel antwortet vorsichtig: „Wir müssen. Es ist der einzige Weg.“

Raphaela meint: „Und wie soll meine Geschichte denn jetzt weiter gehen?“

Uriel schaut aufs Papier: „Mh, eigentlich sollte man eine Geschichte vom Kontinent schreiben, und was aus ihm werden kann.“ – „Ja, gute Idee. Aber…wie soll das gehen?“

Elena lächelt: „Zusammen.“

Die drei hatten ihre Köpfe zueinander gesteckt, so dass sie gar nicht bemerkten, wie ihr Gastgeber zur Tür ging. Er winkte ihnen zu und sagte: „Gute Nacht! Schreiben Sie in Ruhe. Niemand kann es besser, nur Sie!“

Sie redeten noch lange durch die Nacht, eingehüllt in Schlafsäcken unter dem bunten, strahlenden Polarlicht, bis morgens die Herbergsfrau ihnen Frühstück und Tee brachte. Aber es war immer noch dunkel, so schliefen sie ein wenig und redeten, lachten, verbesserten und ergänzten einander, schrieben lustige Ideen auf Papier und erzählten sich von ihren Heimatländern.

Und wer ihr Gastgeber Thorbjörn Jagland wirklich war, blieb für sie ganz einfach – ein Weihnachts-Rätsel.


 

 

Dr. Carsten Schmidt, Germanist, 34, ist freier Lektor und Journalist in Berlin. 2010 erschien von ihm Kafkas fast unbekannter Freund bei Königshausen & Neumann; s. hier auch: Felix Weltsch).

 

 

 

© Text, Foto: Carsten Schmidt; Erstveröffentlichung: www.konzert-der-stille.de/

 

 



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