LETNA PARK     Prager Kleine Seiten
Kulturmagazin aus Prag
info@letnapark-prager-kleine-seiten.com

 

Das Goethe-Institut Prag stellt in seiner sehr empfehlenswerten Reihe „10 Fragen an ...“ bekannte Persönlichkeiten des deutschen und tschechischen Kulturlebens vor, die über ihre persönliche Verbindung zum jeweils anderen Land erzählen. Wer weiter lesen möchte: www.goethe.de/prag

Hier eine Auswahl:

Jaroslav Rudiš



1) Was ist für Sie „typisch deutsch“?

Also das ist nicht so einfach. Deutschland ist ja ziemlich groß und wesentlich vielfältiger als Tschechien. Zwischen dem Süden und dem Norden Deutschlands gibt es, glaube ich, erhebliche Unterschiede. Nehmen Sie zum Beispiel Bayern und Berlin, oder meinetwegen auch Augsburg und Leipzig: im Süden Katholiken, im Norden Protestanten, und irgendwie wirkt sich das bis heute aus. Im Süden lieben sie Weißwürste, im Norden schwören sie auf Brat- oder Currywurst und am Meer gönnt man sich Fischbrötchen. Außerdem gibt es natürlich noch immer den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland.

Aber ein Haufen Sachen, die uns Tschechen typisch deutsch vorkommen, also technisches Know-how, Fleiß, Rationalität, Präzision, Ordnungsliebe, all diese Klischees passen doch, scheint mir, auch auf uns. Ich glaube, auch wir bemühen uns, so zu sein. Ein Freund von mir arbeitet für ein großes, internationales IT-Unternehmen in Spanien. Er ist Tscheche und hat einen ziemlich deutschen Namen, wie das bei uns halt so ist. Seine spanischen Kollegen haben ihm den Spitznamen „der Deutsche“ gegeben, weil er ihrer Meinung nach überpünktlich und extrem akkurat ist und beispielsweise, wenn für zehn Uhr eine Videokonferenz geplant ist, erwartet, dass seine Leutchen tatsächlich um Zehn und nicht erst um Elf auf der Matte stehen. Letztens haben wir uns nach längerem wieder mal getroffen, und er hat mir gesagt: „Mensch, Jára, die haben doch Recht! Wir Tschechen sind eigentlich Deutsche – in Spanien hab ich das endlich kapiert.“

Aber ich glaube nicht, dass die Deutschen wirklich so sind. Ich habe eine Menge Freunde in Deutschland, deren Genauigkeit und Fleiß einiges zu wünschen übrig lässt und die diese Klischees selber auf die Schippe nehmen. Die lümmeln in Cafés rum, denken sich tolle Projekte aus, verdienen manchmal sogar ein bisschen Geld damit, und dann denken sie sich wieder was Neues aus... Das hängt immer davon ab, mit wem man es zu tun hat.

Auch scheint mir, dass die Leute in Deutschland ein bisschen engagierter sind, was Gesellschaft und Umweltschutz anbelangt, und dass man dort wesentlich demokratischer eingestellt ist. Nach der großen historischen Tragödie des vergangenen Jahrhunderts sind es letztlich vielleicht sogar die Deutschen, die Mitteleuropa vor den neuen nationalistischen Schreihälsen bewahren werden, die immer wieder ins Kraut schießen; da reicht es, einen Blick nach Ungarn zu werfen. Wenn Neonazis durch Leipzig oder Dresden marschieren, dann stehen die Leute auf und organisieren Gegendemonstrationen.

2) Was ist für Sie „typisch tschechisch“?

Schon wieder so eine Frage... Aber okay, ich versuch mal zu antworten, auch wenn ich weiß, dass ich wieder verallgemeinern muss: typisch tschechisch ist vielleicht unser endloses, aber im Grunde ganz liebenswertes Gequatsche über alles und jeden. Und dann vielleicht auch diese ewigen Ausreden, dieses Rumgeknödle, womit ich einen gewissen Minderwertigkeitskomplex meine, eine bestimmte Art tschechischer Selbstunterschätzung. Aber dann gibt es wiederum die tschechische Selbstironie, die ich ziemlich mag. Naja, und dann ist da noch all das, was sich hinter dem schönen Wörtchen fligna verbirgt, und was sich auf Deutsch vielleicht mit Verarsche umschreiben lässt, bei der jeder jedem ans Bein pinkelt – in der tschechischen Politik sieht man das täglich.

 

Was mich außerdem stört, ist die häufige Beschränkung der tschechischen Kulturpolitik – wenn sie denn überhaupt stattfindet – auf den Schutz von Denkmälern; die Tatsache, dass Gegenwartskunst kaum gefördert wird. Ich glaube, hier sind die Deutschen ein ganzes Stück weiter. Sie haben kapiert, dass man außer Autos oder moderner Technologie auch Kultur exportieren kann und dass Kultur etwas ist, was einen großen Anteil an der Image-Bildung eines Landes hat. Mit Tschechien verbinden die meisten Touristen das Goldene Prag, böhmische Geschichte, Škoda, klassische Musik, Bier und Knödel. Aber schauen Sie sich nur mal an, was die Deutschen aus Berlin gemacht haben. Wenn man an Berlin denkt, denkt man sofort an Kreativität und Fortschritt, kurz: an eine Stadt, die Trends setzt.

Die andere Seite der Medaille ist, dass Berlin langsam an sich selbst zugrunde zu gehen droht unter dem Ansturm all dieser Touristen, Kreativlinge und Leute, die glauben, dass es ausreicht, in Berlin zu leben, um kreativ zu sein. Die Mieten steigen ins Unermessliche, Developer teilen die Stadt unter sich auf, alles wird aufgehübscht, und hinter den neuen Fassaden verschwinden die alten und wirklich spannenden Geschichten. In Berlin zu wohnen ist in. Aber wenn irgendein Tscheche dorthin ziehen möchte, würde ich ihm raten, lieber nach Leipzig zu gehen. In Leipzig gibt es eine super Szene, insbesondere für bildende Künstler und Schriftsteller, man kann billig wohnen und die Atmosphäre ist sehr relaxt. Und sowohl nach Prag als auch nach Berlin ist es nicht mehr als ein Katzensprung.

3) Welchen Einfluss übt Deutschland auf Ihr Schaffen oder Leben aus?

Das nimmt ständig zu. Zwar ist meine Muttersprache Tschechisch, aber schon lange gehört die deutsche Sprache zu meinem Handwerkszeug. Ich bin froh, dass ich Deutsch gelernt habe und kapiere nicht so ganz, dass viele Leute in Mitteleuropa Englisch den Vorzug geben. Klar, dass ich auch Englisch kann, und dasselbe gilt für Russisch, was prima ist. Damit kann man sich dann überall verständigen, und sicher auch in Deutschland, aber halt nur verständigen, mehr schon nicht. Man bleibt an der Oberfläche. Und das reicht nicht aus, wenn man in Deutschland arbeiten und leben will, wenn man das Land wirklich begreifen will.

Ab und zu mache ich was für den deutschen Rundfunk, ich habe ein paar Erzählungen geschrieben, und mit einem guten Freund, dem Leipziger Schriftsteller Martin Becker, haben wir zwei deutschsprachige Hörspiele für den WDR in Köln sowie ein Theaterstück für das Prager Theater Archa verfasst. Momentan arbeite ich in Berlin an einem deutschen Drehbuch. Also im Augenblick verdiene ich meinen Lebensunterhalt zu etwa einem Drittel mit der deutschen Sprache, denn mit dem Schreiben in Tschechien überleben zu wollen, das klappt kaum. Zwei meiner Bücher sind auch auf Deutsch erschienen, also fahre ich öfter mal zu Lesungen rüber.

Ich lebe also teils in Tschechien und teils in Deutschland, aber die meiste Zeit verbringe ich wohl auf Reisen, im Auto oder im Zug, das gehört einfach dazu. Meine Romane werde ich weiterhin auf Tschechisch verfassen, aber Drehbücher oder Theaterstücke kann ich, glaube ich, auch auf Deutsch schreiben. Ich kapiere nicht, warum wir hier in Tschechien nicht nur Deutschland, sondern auch Polen so oft glatt übersehen. Alle suchen sie Anerkennung in England oder Amerika, da herrscht eine unglaubliche Sehnsucht, und dabei liegen gleich zwei so große Länder direkt neben uns. Dort kennt man uns und dort haben wir was zu bieten – und dort interessiert man sich für uns.

4) Mit wem in Deutschland würden Sie gerne einen Tag tauschen?

Ernsthaft jetzt? Naja, vielleicht wär ich gern mal Lokführer in einem ICE... Diese Züge mag ich einfach. Ich wollte schon immer Lokführer werden, aber dann haben sie mir eine Brille verpasst und ich konnte nicht mehr auf die Eisenbahner-Gewerbeschule, sondern musste aufs Gymnasium. Naja, und danach war ich halt Lehrer für Deutsch und Geschichte. Viel hab ich da nicht gelehrt, aber Deutsch, Geschichte und Züge interessieren mich nach wie vor. Und überhaupt, im Comic Alois Nebel, den ich gemeinsam mit dem Künstler Jaromír 99 entwickelt habe und dessen Filmversion im September ins Kino kommt, geht es um gar nichts anderes als um Züge und Geschichte.

5) Was verbindet Ihrer Meinung nach Deutsche und Tschechen?

Zunächst natürlich die ziemlich gespannte meteorologische Situation mit all diesen Warm- und Kaltfronten und den Wolken, die sich so oft von der Nordsee her nach Tschechien drängeln, wie Fleischmann, der Protagonist meines Romans Grandhotel, auf dem Berg Ještěd völlig richtig beobachtet. Naja, und dann ist da wohl noch die Wirtschaft: wenn’s den Deutschen gut geht, geht’s uns auch gut – und umgekehrt. Logisch auch, dass uns die Geschichte verbindet. Die hält uns irgendwie zusammen in einer eigenartigen Umarmung, in der wir durch die Mitte Europas tänzeln. Aber dabei sind wir nicht allein. Ich glaube, es gibt keine dezidiert deutsche, österreichische, polnische, tschechische, slowakische oder ungarische Geschichte, sondern einzig eine Geschichte Mitteleuropas. Und jede geschichtliche Entwicklung in einem dieser Länder hat sofort Auswirkungen auf die Nachbarländer.

6) Was war Ihr schönstes Erlebnis in Deutschland?

Ich erkunde wahnsinnig gern Orte mit Geschichte, und besonders interessieren mich diese monumentalen, nie abgeschlossenen Projekte. In Leipzig gibt es zum Beispiel einen alten Hafen aus der Nazizeit. Mole und Hallen wurden zwar noch fertiggestellt, aber ein Schiff hat der Hafen nie gesehen. Er ist nämlich an keinerlei Schifffahrtswege angeschlossen, weil die Nazis es nicht mehr geschafft haben, einen Kanal zu bauen. Dieser verlassene, sehr melancholische Hafen spielt auch eine Rolle in meinem Roman Ende des Punks in Helsinki. Ein Stückchen von der Stadt Stendal entfernt gibt es einen ähnlichen Ort: die Ruine eines Kernkraftwerks. Wegen dieses megalomanischen Projekts ist die DDR fast pleite gegangen, aber am Ende kam zum Glück die Wende und die Bauarbeiten wurden eingestellt. Und jetzt wird diese Ruine von Schaufelbaggern langsam zerpflückt. Vielleicht ist das ja ein bisschen abseitig, aber solche Orte auszukundschaften macht mir irre viel Spaß.

7) Was war Ihr unerfreulichstes Erlebnis in Deutschland?

Einmal, das war vor vielleicht zwei Jahren, haben mich deutsche Grenzpolizisten im Zug Richtung Hamburg regelrecht auseinandergenommen. Ich saß in der ersten Klasse, was ein Luxus ist, den ich mir halt manchmal gönne. Ich war allein im Waggon, also haben sich die Herren voll und ganz mir widmen können. Nicht dass sie irgendwie ungehobelt gewesen wären, aber sie haben wirklich alles gefilzt, einschließlich der Zahnpasta, denn da hätten ja Drogen drin sein können. Das schien mir dann doch etwas übertrieben und auch ein bisschen erniedrigend. Eine ähnliche Kontrolle hab ich vor Jahren mal bei einer Autoreise an der polnischen Grenze über mich ergehen lassen müssen. Und auch dieser schmerbäuchige Onkel von damals kam sich in seiner feschen Uniform sicher ungeheuer wichtig vor. Aber naja.

8) Haben Sie einen Lieblingsort in Deutschland?

Irgendwie fühle ich mich in Ostdeutschland, zum Beispiel in Leipzig, am Wohlsten. Das liegt wohl an meiner Kindheit und Jugend, ich bin nämlich unweit der deutschen Grenze aufgewachsen, und deshalb waren wir auch ständig auf Besuch in der DDR. Aus der Zeit sind mir gute Freunde und Bekannte geblieben. In Zittau beispielsweise war es, wo ich zum ersten Mal ordentlich einen sitzen hatte. Dort hat man nämlich schon mit 16 sein Bierchen gekriegt, und darum bin ich zusammen mit Kumpels aus der Schule mit schöner Regelmäßigkeit rübergefahren. Wegen einem ziemlich großgewachsenen und dürren Ostdeutschen hab ich dann schließlich auch angefangen, Deutsch zu lernen.

Was ich damit sagen will: Ostdeutschland ist mir einfach sehr nah, dort fühle ich mich zu Hause, und außerdem muss ich dort niemandem irgendwas erklären. Wenn ich dort erzähle, dass ich zwischen dem Böhmischen Paradies und dem Riesengebirge aufgewachsen bin, dann wissen die dort sofort Bescheid. Was ich damit noch sagen will: auch in meinen Texten taucht der Osten Deutschlands immer wieder auf, und das hängt wohl mit all dem zusammen. Früher bin ich dort hingefahren, heute fahre ich dort hin, und mittlerweile kenne ich die Gegend dort besser als beispielsweise Mähren oder die Slowakische Republik.

Naja, und dann mag ich natürlich die Ostsee und Berlin und das Berliner Umland. Spannend ist ganz sicher auch Hamburg. In Thüringen wiederum wird lecker gekocht. Außerdem mag ich dieses ewig weite, platte Brandenburger Land, auch das finde ich sehr reizvoll.

9) Auf was könnten Sie in Deutschland gerne verzichten?

Auf die Staus. Und auf diese frustrierten Neonazis, die sich ab und zu irgendwo zusammenrotten. Und auf diese Grenzbeamte, die ich ja schon erwähnt habe und die immer noch so unauffällig an den Grenzen rumstehen und aufpassen.

10) Welche Gewohnheit oder Idee aus Deutschland würden Sie gerne in Tschechien übernehmen?

Diese ausgiebigen und irre leckeren Wochenend-Frühstücke in den Cafés, das fehlt mir in Tschechien. Und wenn man hier in Prag schon mal auf einen dieser Brunche stößt, dann zu einem völlig überhöhten Preis. Dieses deutsche, urbane Rumgegammle an den Wochenenden, das hab ich echt gern.

 

Jaroslav Rudiš im Porträt:

Früher hat er als Lehrer, DJ, Manager einer Punk-Band, Hotelportier und Journalist gearbeitet; mittlerweile widmet sich Jaroslav Rudiš aber vor allem dem Schreiben und verfasst außer Prosa auch Drehbücher. Mit seinem teilweise autobiografischen Debüt Der Himmel unter Berlin, für das er mit dem Jiří-Orten-Preis ausgezeichnet wurde, ist er zum Shooting-Star der tschechischen Literaturszene avanciert. Neben seinem Debüt liegt inzwischen auch sein zweiter Roman Grandhotel in deutscher Sprache vor. Sein vielseitiges Talent hat Rudiš zudem in Form von Comics unter Beweis gestellt. So hat er gemeinsam mit dem Zeichner Jaromír 99 eine Trilogie über den tschechisch-deutschen Zugschaffner Alois Nebel veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit Petr Pýcha hat er darüber hinaus die Theaterstücke Sommer in Lappland und Strange Love konzipiert und gemeinsam mit dem Schriftsteller Martin Becker für den Kölner Rundfunksender WDR die deutschsprachigen Hörspiele Lost in Praha und Plattenbaucowboys verfasst. 2010 hat Rudiš seinen vorerst letzten Roman Ende des Punks in Helsinki veröffentlicht, der von den letzten Punks in der Tschechoslowakei und in der DDR handelt.

Jaroslav Rudiš wurde 1972 in Trutnov geboren und hat Deutsch und Geschichte an der Pädagogischen Fakultät der Technischen Universität in Liberec studiert. Dieses Studium hat ihn u.a. nach Prag, Zürich und Berlin geführt, und insbesondere vom modernen, pulsierenden Berlin hat er sich gerne inspirieren lassen. Gegenwärtig lebt und arbeitet er abwechselnd in Lomnice nad Popelkou, Prag, Brno und Leipzig. Rudiš spielt gelegentlich mit den Bands U-Bahn und The Bombers und tritt zusammen mit Igor Malijevský mit seiner literarisch-musikalischen Show EKG im Prager Theater Archa sowie im Brünner Theater HaDivadlo auf. In Tschechien setzt er sich unermüdlich für die deutsche Sprache und Kultur ein.

© Goethe-Institut, Prag, Juli 2011,Übersetzung: Doris Kouba

mit freundlicher Genehmigung des Goethe-Instituts Prag

 

 

Jaromír Konečný



1) Was ist für Sie "typisch deutsch"?

Ich glaube nicht an solche Pauschalisierungen. Kulturelle Systeme unterscheiden sich selbstverständlich, aber die Menschen nicht. Zum Beispiel ist das deutsche Feuilleton viel mehr in der eigenen kulturellen Tradition verwurzelt, das heißt im 19. Jahrhundert: Goethe, Schiller usw. In Tschechien gehört der ehemalige Underground zur offiziellen Kultur. In Deutschland ist die Kultur an der Subkultur erst dann interessiert, wenn die Subkultur schon zum Mainstream geworden ist.

Auch die sexuelle Toleranz ist in Tschechien größer als in Deutschland. Die sexuelle Toleranz hängt mit dem Grad der Säkularisierung eines Landes zusammen. Westdeutschland ist religiöser, und deswegen spricht man hier im normalen Kontext nicht so offen über die Sexualität wie in Tschechien. Sicher hat dieses Schweigen auch den langjährigen Missbrauch von Kindern durch Erzieher und Priester ermöglicht, von dem wir jetzt ständig in den Zeitungen lesen. Wenn die Kinder gelernt hätten, über die Sexualität zu reden, hätten es die Täter nicht so leicht gehabt. Andererseits sind deutsche Medien aufgrund der belasteten Geschichte viel weniger xenophob als die tschechischen Medien. Auch der Umweltschutz und der Pazifismus sind in Deutschland weiter entwickelt als in Tschechien.
Die Unterschiede zwischen den essentiellen Eigenschaften zweier Deutscher bzw. zweier Tschechen sind aber größer als die Unterschiede zwischen den Eigenschaften eines durchschnittlichen Deutschen und eines durchschnittlichen Tschechen.

2) Was ist für Sie „typisch tschechisch“?

Ich kenne Deutsche, die nach den diversen Klischees tschechischer sind als die meisten mir bekannten Tschechen – und umgekehrt. Zum Beispiel gibt es eine Menge von Sauberkeit und Ordnung liebender und gut organisierter Tschechen und umgekehrt viele Deutsche, die den tschechischen Sinn für Humor haben.

3) Welchen Einfluss übt Deutschland auf Ihr Schaffen oder Ihr Leben aus?

Ich lebe in Deutschland. Selbstverständlich beeinflussen mich deutsche Gesetze und Vorschriften, in meinem Leben orientiere ich mich aber an den Leuten um mich herum und nicht an abstrakten Gebilden wie Staaten, Unionen und ähnliches.

4) Mit wem in Deutschland würden Sie gerne einen Tag tauschen?

Ich spiele ganz gerne in meinen eigenen Rollen, auch wenn es sicher lustig wäre, mal eine schöne Frau zu sein und sich an all dem Blödsinn zu erfreuen, mit dem die Männer bei mir anzugeben versuchten.

5) Was verbindet Ihrer Meinung nach Deutsche und Tschechen?

Die Grenzen.

6) Was war Ihr schönstes Erlebnis in Deutschland?

Mein erster Döner und die Liebe.

7) Was war Ihr unerfreulichstes Erlebnis in Deutschland?

Einige Male wurde mir mein Bier in ein warmes Glas aus der Spülmaschine gezapft.

8) Haben Sie einen Lieblingsort in Deutschland?

Ja. Beim Bier. Mit Freunden.

9) Auf was könnten Sie in Deutschland gerne verzichten?

Auf die Mehrwertsteuer und etwa tausend andere Gesetze und Vorschriften.

10) Welche Gewohnheit oder Idee aus Deutschland würden Sie gerne in Tschechien übernehmen?

Was bleibt, das führt sich selbst ein.


Jaromír Konečný im Porträt

Wenn Jaromír Konečný spricht, hält das Publikum den Atem an. Der Poetry Slammer und Schriftsteller wickelt wie kaum ein Zweiter seine Zuhörer um den Finger und sorgt mit Ironie und groteskem Humor für befreiende Lachsalven. Sein Lieblingsthema Sex hat Konečný stets griffbereit. Der gebürtige Tscheche hat bereits über 60 Poetry Slams gewonnen, war zweimal Vizemeister des gesamtdeutschen Slams und tourt unermüdlich von einer Dichter-Bühne zur nächsten. Seine Sprachgewalt stellt Konečný auch in zahlreichen Büchern mit Titeln wie Mährische Rhapsodie, Doktorspiele, Das Geschlechtsleben der Emigranten oder In Karin unter Beweis.
1956 in der tschechischen Hauptstadt geboren, wuchs Jaromír Konečný in Nordmähren auf und arbeitete als Industrie-Metaller, Schiffsmeister auf der tschechischen Elbe und zwei Jahre lang als Techniker in Libyen. 1982 emigrierte er in die Bundesrepublik Deutschland, wo er ein Jahr in einem niederbayerischen Sammellager verbrachte. Bevor er an der TU München das Studium der Chemie aufnahm, hielt sich Konečný mit diversen Jobs über Wasser. Während seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent am Münchner Lehrstuhl für Theoretische Chemie schrieb er seine Promotion über die Entstehung des genetischen Codes. Heute lebt Jaromír Konečný als freier Publizist und Schriftsteller in der bayerischen Landeshauptstadt. Jeden Sonntag ist der Entertainer dort auf der Bühne der Schwabinger Schaumschläger Show im Lokal Vereinsheim zu sehen.

© Goethe-Institut Prag, Mai 2010

  

Alena Wagnerová



1) Was ist für Sie „typisch deutsch“?

Was für mich typisch deutsch ist? Jede Typisierung bedeutet eine Vereinfachung. Mit diesem Risiko würde ich sagen, es ist ein Mangel an Spontaneität, an der Fähigkeit aus sich herauszugehen oder einfach der Stimme seines Herzens zu folgen, was ich als typisch deutsch wahrnehme. Und dann die Neigung zur Sentimentalität, die bestimmte Defizite im Bereich der Emotionalität verdeckt.

Im Zeitalter der Romantik und des Klassizismus – so scheint es mir wenigstens – war aber das deutsche Naturell und Gemüt ganz anders. Wenn ich zum Beispiel Schuberts Winterreise höre, frage ich mich immer: Was ist hier passiert? Wo ist nur diese Empfindsamkeit in der Wahrnehmung der Welt geblieben? Nein, nein, nein, dieser Wanderer hätte nie bei der SS landen können.

2) Was ist für sie „typisch tschechisch“?

Wieder mit dem Risiko der Vereinfachung: Wir Tschechen sind spontaner und unmittelbarer, aber auch informeller und weit weniger einer zweckmäßigen und systematischen Handlungsweise fähig. Und das ist unser Problem, beispielsweise in der Politik. Historisch gesehen, hängt es möglicherweise mit der relativ kurzen Zeit unserer modernen Staatlichkeit zusammen, die praktisch alle 20 Jahre von gesellschaftlichen Umwälzungen gekennzeichnet war: 1918, 1938, 1948, 1968, 1989?

Mit dieser Erfahrung der Brüche hängt wohl unser unzureichendes Vertrauen in den Rechtsstaat zusammen, der sicher nicht immer auch gerecht sein muss. Aber er bildet dennoch die Grundlage des Staates. Vielleicht liegen uns informelle, nicht institutionalisierte Bewegungen mehr, wie die Nationale Wiedergeburt und schlussendlich auch der Prager Frühling zeigen.

3) Welchen Einfluss übt Deutschland auf Ihr Schaffen oder Ihr Leben aus?

Als Ausländer in Deutschland zu leben ist meiner Meinung nach das Beste, was einem passieren kann, vorausgesetzt man ist hellhäutig und Akademiker. Das eröffnet einem die Möglichkeit, am Diskurs der vielseitig entwickelten Hochkultur und der Geisteswissenschaften teilzunehmen, ohne dabei dadurch beschränkt zu sein, was ich als die Ordnung der deutschen Gesellschaft bezeichnen würde: vorhandene Traditionen, Erziehung, gesellschaftliche Sozialisation und Moralvorstellungen.

Natürlich habe ich wiederum die Ordnung der tschechischen Gesellschaft verinnerlicht, aber in Deutschland bedeutet diese Andersartigkeit eine Erweiterung meiner Freiheit. In zwei Kulturen zu leben, zwei Identitäten zu haben ist eine enorme Bereicherung, weil es dem Menschen die Möglichkeit gibt, beide Gesellschaften aus der Perspektive der jeweils anderen zu sehen. Aber sicherlich wird man dadurch auch zum Außenseiter, der nirgendwo ganz dazugehört.

4) Mit wem in Deutschland würden Sie gerne einen Tag tauschen?

Das Bedürfnis, mit jemandem in Deutschland einen Tag die Rollen zu tauschen, habe ich nicht.

5) Was verbindet Ihrer Meinung nach Deutsche und Tschechen?

Das, was uns verbindet, ist die Existenz in Mitteleuropa, gemeinsame Grenzen und eine Verwandtschaft in Kultur und Sprache. Die Österreicher sind uns historisch sicherlich näher, aber unsere Nähe macht unsere Beziehungen so selbstverständlich, dass man sie manchmal gar nicht wahrnimmt. Alle mitteleuropäischen Nachbarschaften sind – oder waren – konfliktreich. Das macht sie zwar schmerzhaft, zwingt aber auch dazu, sich immer wieder mit ihnen zu beschäftigen.

6) Was war Ihr schönstes Erlebnis in Deutschland?

Oft stört mich an den Deutschen ihre Sentimentalität. Das typische Symbol dafür ist für mich der Muttertag. Aber als mir unsere Nachbarin in der Zeit, als wir unseren Sohn adoptierten, einen Fliederstrauch mit den Worten „für die werdende Mutter“ über den Zaun reichte, hat mich das stark berührt. Das war eine sehr schöne Geste der Solidarität, eine Unterstützung unserer Entscheidung, und ich werde ihr das nie vergessen.

7) Was war Ihr unerfreulichstes Erlebnis in Deutschland?

Das schlimmste Erlebnis war für mich Mobbing, und zwar Mobbing in Bezug auf die Sprache und meine Fähigkeit, deutsch zu schreiben. Das war tatsächlich ein Schlag unter die Gürtellinie, der einem Schreibverbot gleichkam. Es handelte sich um den Angriff eines Verlegers, der auf diese Weise eine politische Auseinandersetzung mit mir führte, die sich im Schriftstellerverband abspielte und bei der ich nicht auf seiner Seite stand.

Ich benötigte beinahe ein Jahr, um mich davon zu erholen. Und siehe da, das Manuskript, gegen das er mobbte, wurde zu einem meiner erfolgreichsten Bücher. Es war die Biographie Milena Jesenskás.

8) Haben Sie einen Lieblingsort in Deutschland?

Mein Lieblingsort in Deutschland ist das Elbtal zwischen Dresden und Děčín. Man muss jedoch mit dem Zug durchfahren, um den Reiz der alten Luftkurorte zu genießen. Auch Leipzig, Weimar und Jena habe ich gern.

9) Auf was könnten Sie in Deutschland gerne verzichten?

In Deutschland würde ich gerne auf die expansive Macht des zügellosen Finanzkapitals verzichten, denn sie gefährdet die Demokratie – allerdings nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt.

10) Welche Gewohnheit oder Idee aus Deutschland würden Sie gerne in Tschechien übernehmen?

Einführen? Man kann sich beim Nachbarn nur inspirieren. Was ich mir für Tschechien wünschen würde, ist eine kritischere Haltung gegenüber der Atomenergie, ihre geringe Ausprägung halte ich für völlig katastrophal, insbesondere im Zusammenhang mit Fukushima. Diese Kritiklosigkeit ist einer der peinlichsten Überreste des totalitären Denkens.

Alena Wagnerová im Porträt:

Die Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft, deutsch-tschechische Beziehungen und die Kulturgeschichte Mitteleuropas sind Themen, denen sich die Schriftstellerin und Publizistin Alena Wagnerová verschrieben hat. Sie wurde 1936 in der mährischen Metropole Brno geboren, studierte an der dortigen Masaryk-Universität Biologie und Pädagogik, später Theaterwissenschaft. In der BRD – wohin sie 1969 übersiedelte – Germanistik und Komparatistik. Bevor sie sich für die Laufbahn der Schriftstellerin und Publizistin entschied, arbeitete sie in verschiedenen Berufen: Als Pädagogin, als Labor-Leiterin an der Veterinärfakultät und als Dramaturgin.
Alena Wagnerová schreibt heute zweisprachig. Ihre Erzählungen, Essays, Theaterstücke, Hörspiele und Beiträge erscheinen auf Deutsch und Tschechisch in NZZ, FAZ, TAZ, Literární noviny, Lidové noviny, Listy, Dnes und in der Wochenzeitschrift Rundfunk. Außerdem arbeitet sie regelmäßig mit dem Tschechischen Rundfunk zusammen. Zu ihren bekanntesten Büchern, die auf Deutsch und Tschechisch erschienen sind, gehören die Biographien Milena Jesenskás, der Baronin Sidonie Nádherná und der Familie Kafka sowie drei Bücher, die dem Schicksal von Sudetendeutschen und Sudetentschechen gewidmet sind: 1945 waren sie Kinder, Nicht vertriebene Erinnerungen und Helden der Hoffnung; letzteres befasst sich mit deutschen NS-Gegner aus den Sudeten.

Alena Wagnerová lebt seit 1989 in Saarbrücken und Prag. Sie ist Mitglied der internationalen Schriftstellervereinigung PEN und für ihre Verdienste um die deutsch-tschechische Verständigung wurde sie mit dem Pelikán der Zeitschrift Listy ausgezeichnet.

© Goethe-Institut, Prag, April 2011, Übersetzung: Ivan Dramlitsch

 

 

Alexander Hacke und Danielle de Picciotto



1) Was ist für euch „typisch tschechisch“?

Alexander Hacke: Bier.

Danielle de Picciotto: Ich finde die Sprache vom Klang her ganz erstaunlich. Sie ist schwebend und leicht, beinahe wie ein Lied. Die Tschechen, die wir kennengelernt haben, sind auch so: sie sind ganz sanft, haben etwas Leichtes und gleichzeitig etwas Düsteres, Melancholisches. Eine interessante Mischung, wie ich finde.

2) Was ist für euch „typisch deutsch“?

Alexander Hacke: Typisch deutsch? Na ja, schwer zu sagen …

Danielle de Picciotto: Für mich ist Unzufriedenheit momentan etwas typisch Deutsches. Ich bin gebürtige Amerikanerin, weshalb meine Antworten vielleicht etwas anders ausfallen als die von Alex.

Alexander Hacke: Mir fallen nur vermeintliche deutsche Tugenden ein, von denen ich aber keine wirklich unterschreiben kann. So zum Beispiel die Mär von der deutschen Pünktlichkeit. Ich persönlich finde Deutschland zurzeit extrem konservativ und nicht besonders risikobereit. Das ist mein Eindruck und auch mein derzeitiges Problem mit Deutschland.

3) Welchen Einfluss übt Tschechien auf euer Schaffen oder euer Leben aus?

Alexander Hacke: Einen sehr großen, weil wir hier momentan eine Residency machen und den Großteil unseres Lebens hier verbringen. Wir setzen uns also zum Beispiel mit der Sprache – zumindest in den rudimentären Dingen, die wir aufschnappen können – oder mit der Geografie dieser wunderschönen Stadt auseinander.

Danielle de Picciotto: Was mich derzeit besonders fasziniert ist das Magische an Prag. Ich ahnte vorher nicht, welche Ausmaße das Ganze hat: Dass die Stadt auf bestimmten magischen und astrologischen Prinzipien erbaut wurde, dass es hier mit Rudolf II. einen König gab, der mehr Wert auf Kultur und Magie, als auf Politik gelegt hat und deswegen für verrückt erklärt wurde …

Der Gedanke, dass all diese Dinge zur Geschichte dieser Stadt gehören und irgendwie auch das alltägliche Leben prägen, beeinflusst mich und unsere Arbeit vor Ort. Die Installation, die wir an der MeetFactory machen, hat mit Zeit zu tun und Zeit hat natürlich auch etwas mit Magie zu tun.

Alexander Hacke: Ein ganz wichtiger tschechischer Einfluss für ein deutsches Kind meiner Generation war das Marionettentheater „Spejbl und Hurvínek“. Für deutsche Kinder war das sozusagen die Speerspitze der tschechischen Kultur. Und natürlich tschechische Trickfilme! Auch ein ganz wichtiger Einfluss. Das könntest du vielleicht zur ersten Frage, die ich so stereotyp mit Bier beantwortet habe, dazuschreiben (lacht).

4) Mit wem in Tschechien würdet ihr gerne einen Tag tauschen?

Danielle de Picciotto: Ich weiß nicht – vielleicht mit Mad Rudolf?

Alexander Hacke: Mit dem kleinen Maulwurf.

5) Was verbindet eurer Meinung nach Tschechen und Deutsche?

Alexander Hacke: Die Sprache vielleicht. Hier wurde ja sehr lange Deutsch gesprochen und auch der tschechische Slang scheint hauptsächlich aus deutschen Wörtern zu bestehen.

Danielle de Picciotto: Beide Länder durchlebten sanfte, unblutige Revolutionen. Das ist auf alle Fälle bemerkenswert. Für mich ist es aber etwas schwierig, Deutschland und Tschechien zu vergleichen, ich kann eher von Berlin und Prag sprechen. Die Städte sind sich total ähnlich und meistens gilt: wer Berlin mag, der mag auch Prag. Beides sind relativ dunkle, düstere aber auch sehr morbide Städte …

Alexander Hacke: Den Charme der Morbidität, den Prag immer noch hat, hat Berlin in den letzten Jahren leider verloren.

6) Was war euer schönstes Erlebnis in Tschechien?

Danielle de Picciotto: Total verrückt fand ich, als uns ein Freund kürzlich nach Vietnam-Town – ein Markt im Süden Prags, ich glaube der heißt Sapa – gebracht hat. Das war für mich ein richtiger Kulturschock. Eine Amerikanerin, die in Berlin lebt, findet sich mitten in Prag plötzlich in Vietnam wieder.

Alexander Hacke: Ich fahre derzeit jeden zweiten Tag mit einer Mini-Fähre in Smíchov über die Moldau und gehe dann auf der anderen Seite in einem Olympischen Stadion schwimmen. Diese ganze Szenerie finde ich wunderbar. Da steht man morgens mit seiner Monatskarte am Ufer und dann kommt der Fährmann und holt einen über …

Aber ansonsten habe ich natürlich noch aus den Zeiten vor der Revolution sehr schöne und absurde Erinnerungen. Das erste geplante Neubauten-Konzert, das leider nicht stattgefunden hat, wurde vom Umfeld der Plastic People of the Universe organisiert. Das wurde damals mittels einer geheimen Telefonkette propagiert. Leider sind unserem Fahrer die Dieselkupons ausgegangen und er musste hier in Tschechien einen Lastwagenfahrer anhalten und Diesel ansaugen. Dabei hat er aber versehentlich mehrere Liter von dem Zeug geschluckt und wir sind nicht rechtzeitig nach Prag gekommen. Die Konzerte, die wir später hier gespielt haben, waren aber allesamt großartig.

Danielle de Picciotto: Ich war zum ersten Mal 1989 mit meiner damaligen Band Space Cowboys in Prag. Auf Einladung eines Piratensenders namens Radio Stalin haben wir in den Katakomben unterhalb des Metronoms gespielt. Das war total beeindruckend. Es war Herbst, wir hatten mindestens 15 mit Maschinengewehren bewaffnete Bodyguards und spielten in diesen Katakomben. Wirklich unglaublich alles!

7) Was war euer unerfreulichstes Erlebnis in Tschechien?

Danielle de Picciotto: Unerfreulich – aber verständlich – ist, dass viele Leute offensichtlich total genervt sind, wenn die man tschechische Sprache nicht kann. Genervter als sonst wo. Das ist mir dann unangenehm, weil sie natürlich auch Recht haben. Ein paar Wörter sollte man können.

Alexander Hacke: Ich kann auch nicht von einem bestimmten, unerfreulichen Erlebnis sprechen. Ich habe aber manchmal das Gefühl, dass es hier ein sehr ausgeprägtes und möglicherweise kulturell bedingtes Zelebrieren von Hoffnungslosigkeit gibt. Ich habe wirklich selten gesehen, dass Leute so unglaublich schwarz, hoffnungslos, negativ wirken – wirklich sehr traurig und erschreckend, was man hier in Kneipen, in der Straßenbahn oder auch nachts auf der Straße für verwahrloste Gestalten sieht …

Danielle de Picciotto: Und dabei sind wir einiges gewohnt aus Berlin oder auch aus New York, wo es in den 80ern ja ziemlich krass war …

Alexander Hacke: So habe ich das jedenfalls noch nirgendwo anders erlebt. Aber darüber haben wir jetzt genug geredet!

Danielle de Picciotto: Ja, eigentlich fühlen wir uns hier total gut.

8) Habt ihr einen Lieblingsort in Tschechien?

Alexander Hacke: Střelecký ostrov, die Insel im Zentrum von Prag, ist ganz toll. Dort haben wir letztens einen ganzen Tag verbracht.

Danielle de Picciotto: Die Gegend um den Kampa-Park und unter der Karlsbrücke ist wunderschön. Die engen Gässchen, der Kanal, gleichzeitig sieht man die Burg als Wahrzeichen Prags. Und den englischen Buchladen dort finde ich auch super (lacht).

9) Auf was könntet ihr in Tschechien gerne verzichten?

Danielle de Picciotto: Auf das Bier!

Alexander Hacke: Ich nicht, aber es gibt bestimmte Wurstspezialitäten, auf die ich gerne verzichten könnte. Ich muss dazu sagen, dass ich Vegetarier bin und das Überangebot an Fleischgerichten hier ist schon ziemlich erdrückend.

Danielle de Picciotto: Ach so, und auf die Taxifahrer, die einen wirklich jedes Mal versuchen abzuzocken!

Alexander Hacke: Und auch auf die besonders ausgeprägte, örtliche Nikotinsucht könnte ich verzichten.

10) Welche Gewohnheit oder Idee aus Tschechien würden ihr gerne in Deutschland übernehmen?

Alexander Hacke: Kommt mir das nur so vor, oder lesen die Tschechen wirklich so unglaublich viel? Man sieht in den Straßenbahnen extrem viele Leute mit Büchern und in Prag gibt es fast an jeder Ecke einen Buchladen. Das Lesen scheint hier einen sehr hohen Stellenwert zu haben. Davon könnten sich die Deutschen eine Scheibe abschneiden.

Danielle de Picciotto: Mich hat total beeindruckt, dass hier zu Ausstellungen lokaler Künstlern viel mehr Publikum kommt, als zur Vernissage eines ausländischen Künstlers. In Berlin ist das umgekehrt. Fragt man hiesige Kuratoren, so legt das tschechische Publikum ganz selbstverständlich Wert darauf, die lokale Kultur zu unterstützen. Das ist etwas, was ich gerne mit nach Deutschland nehmen würde.

 

Alexander Hacke und Danielle de Picciotto im Porträt:

Alexander Hacke und Danielle de Picciotto in drei Absätzen zu beschreiben, ist mehr als eine Herausforderung. Nimmt man ihre künstlerischen Aktivitäten zusammen, so sind sie Musikproduzenten, Performance- und Installations-Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, komponieren Filmmusik und schrecken vor nahezu keinem musikalischen Experiment zurück. 2011 sind sie drei Monate als Artists In Residence des Goethe-Instituts in Prag.

Alexander Hacke, geboren 1965 in Berlin-Neukölln, ist vor allem als Mitglied und – laut Bandleader Blixa Bargeld auch als musikalischer Direktor – der Kultband Einstürzende Neubauten bekannt. Kurz nach deren Gründung 1980 im Berliner Club Moon wurde Alex als 15-Jähriger Gitarrist, später dann Bassist der Avantgarde-Band, die in Tschechien auf eine langjährige Tourgeschichte zurückblickt. Alexander Hacke arbeitet außerdem an diversen Solo-Projekten, komponierte Musik zu Filmen wie Sonnenallee oder Gegen die Wand. Als Protagonist von Fatih Akins musikalischer Dokumentation Crossing The Bridge – The Sound of Istanbul ergründete Hacke die Musikszene der türkischen Metropole.

Zusammen mit seiner Ehefrau Danielle de Picciotto feierten sie in Prag das erste Album-Release ihres gemeinsamen musikalischen Projekts Hitman’s Heel und überraschen immer wieder mit ihren künstlerischen Performances und Installationen. Danielle de Picciotto ist gebürtige US-Amerikanerin und ein Urgestein des Berliner Undergrounds. Sie gründete zusammen mit Dr. Motte die Love Parade, und war dabei, als Kult-Clubs wie der Tresor oder das E-Werk ihre Tore öffneten. Heute macht sie vor allem audio-visuelle Kunst und Musik und dreht Filme. Die Evolution des Berliner Undergrounds von den 80ern bis heute beschreibt Danielle in ihrem Buch The Beauty of Transgression – A Berlin Memoir.

© Goethe-Institut, Prag, Mai 2011



 

Jitka Jílková

Jitka Jílková

1) Was ist für Sie „typisch deutsch“?

 

Sich seiner Fehler bewusst werden und im Theater über sie nachzudenken.

2) Was ist für Sie „typisch tschechisch“?

 

Nicht über seine Fehler nachzudenken und ins Theater zu gehen um sich zu vergnügen.

3) Welchen Einfluss übt Deutschland auf Ihr Schaffen oder Leben aus?

 

Mit Deutschland verbindet mich der Großteil meiner Arbeit, dank der ich ein sehr schönes Leben führe.

4) Mit wem in Deutschland würden Sie gerne einen Tag tauschen?

 

Vielleicht mit der Chefin des Berliner Festivals „Theatertreffen“, aber ich glaube nach einem Tag hätte ich dann wieder genug.

5) Was verbindet Ihrer Meinung nach Deutsche und Tschechen?

 

Die Grenze, Geschichte, aber wahrscheinlich auch das, das wir ab und an neugierig gegenüber dem Anderen sind.

6) Was war Ihr schönstes Erlebnis in Deutschland?

 

Am besten ist es, wenn unsere schönen Erlebnisse auf den deutschen Theatervorführungen für das Prager Publikum wiederholt werden.

7) Was war Ihr unerfreulichstes Erlebnis in Deutschland?

 

Ein Sturz mit dem Fahrrad in eine Pfütze, irgendwo bei Wismar. Da war ich 13 Jahre alt.

8) Haben Sie einen Lieblingsort in Deutschland?

 

Berlin. Oder Hamburg?

9) Auf was könnten Sie in Tschechien gerne verzichten?

 

Das kann ich gar nicht wirklich sagen.

10) Welche Gewohnheit oder Idee aus Deutschland würden Sie gerne in Tschechien übernehmen?

Mehr von Nummer 1.)


 

Jitka Jílková im Porträt:

Das Prager Theaterfestival deutscher Sprache wäre ohne Jitka Jílková nicht dasselbe. Seit 16 Jahren bringt sie Innovationen, Experimente und neue Trends der deutschsprachigen Theaterszene auf die tschechische Bühne.

Die studierte Kulturwissenschaftlerin kam 1954 in Pilsen auf die Welt und wuchs in Prag auf, wo sie seit ihrem zwölften Lebensjahr an der Grundschule mit erweitertem Fremdsprachenunterricht Deutsch lernte. Sie übersetzt deutschsprachige Belletristik, vor allem Werke Elfriede Jelineks. 1996 fing sie beim Prager Theaterfestival deutscher Sprache an. Seit 16 Jahren ist sie nun die Direktorin: „Durch das Festival wird die Aufmerksamkeit auf die deutsche Sprache gelenkt und das ist wichtig. Auch wenn sie nicht mehr so verpönt ist wie noch vor einigen Jahrzehnten, so beobachte ich immer mehr, dass selbst in deutschen Firmen in Prag Englisch gesprochen wird. Das Interesse an der Nachbarsprache muss wieder geweckt werden und dafür ist Kultur der beste Vermittler.“

 

Zurzeit bereitet sich Frau Jílková auf das 18. Theaterfestival vor, das ab Anfang November wieder das Beste des deutschen Theaters zeigen wird.

 

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Goethe-Instituts Prag



Tweet