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DIE ZEIT und die Integrationsdebatte

von Katja Schickel

 

 

Weg haben, was da ist!

 

Wenn man in den letzten Wochen die Sprache der Beschämung, Verhöhnung und der Denunziation Anderer las (und sich nicht in den einschlägigen Blogs befand), war man bei ZEIT-Online gelandet. Kein anderes Print-Medium bietet den Islam-Kritikern oder -Hassern im Netz ein dermaßen breites Forum für ihre Auslassungen, Behauptungen, Drohungen und Beleidigungen, für gefälschte Statistiken, für nationale Aufwallungen, kurz für alle erdenklichen Vorurteile und Ressentiments. Die sich um jeden Artikel sammelnde Gemeinde scheint sich bereits zu kennen, wirft sich die Bälle zu, verweist auf eigene Links in anderen Zusammenhängen, macht also das, was sie intelligenterweise tut: Sie nutzt die von der ZEIT zur Verfügung gestellte Plattform für ihre Agitation. Sie ist damit nicht mehr nur auf die Hassblogs, auf die Achse der Guten im Internet angewiesen, sie erreicht die gehobene Mitte der Gesellschaft, weil sie sich selbst vornehmlich aus dieser rekrutiert und - vermutlich unfreiwillig - deren Sprachverfall dokumentiert. Wenn sich - neuerdings so genannte - jüdisch-christliche-abendländische Kultur aus solchen Werten speist, ist äußerste Vorsicht geboten. Es gibt eine moderierende Redaktion, die besonders ausfallende Kommentare kürzt oder ganz verbannt; der Mindestmaßstab heißt Netiquette, Gewaltverherrlichung bzw. -androhung sind tabu, sonst geht alles, Bemühen um Wahrheit ist nicht das Ziel. Beiträge, die oftmals bereits den Boden des Grundgesetzes verlassen haben, können hier weiter empfohlen werden, die Kritiker/innen dieser Positionen (etwa ein Viertel der KommentatorInnen) bekommen das Prädikat Kommentar empfehlen meist nicht. Sehr ausgewogen ist diese anonyme Redaktion offenbar nicht. Der Islam, die Muslime, die Integration: spätenstens seit Sarrazins Buch sind offenbar alle Schleusen geöffnet und jeder darf sagen, was er immer schon mal sagen wollte, sich bisher aber nicht getraut hat. Dem dumpfen Gefühl einen Ausdruck geben, ist die Devise. Wir sind allerdings nicht im sog. Unterschichtsfernsehen bei RTL, sondern bei Deutschlands führender Wochenzeitung. Die ganz besonders Schlauen warten mit Statistiken auf, alten Artikeln (gerne auch englischsprachigen) oder eigenen Links, man gibt sich den Anstrich von Seriosität, will mit dem hetzenden Pöbel nichts zu tun haben, meint aber das Gleiche. Zur Demonstration der eigenen Überlegenheit ist der Hinweis auf Status und Bildung wichtig, mit einiger Häme kann man zu den Ausländern, den Türken, den Muslimen auch noch die Hartz IV-Bezieher/innen tun: alles eine Soße, faul, verkorkst und bildungsfern. Die Ausländer/innen haben nicht einmal mehr besonderen Anteil am deutschen Wirtschaftswachstum, Tenor: Besen und Schrubber schafften kein BIP. Dafür liegen sie in der deutschen sozialen Hängematte, und Broder et al empfehlen süffisant, dass sie sich gerne in eine legen dürften, aber in ihren Ländern, wo es für Siestas auch sonniger wäre. Im Grunde: unterste Schublade.


Zwei Drittel aller ZEIT-Leser/innen (58% Männer) sind über vierzig Jahre alt, die Hälfte davon sogar über sechzig. Fast die Hälfte aller ZEIT-Leser hat weiterführende Schulen entweder ohne Abitur oder danach eine Universität besucht, 43% sind leitende oder sonstige Angestellte/Beamte, 52% aller Leser/innen verdienen 3000 Euro und mehr im Monat. Nach Eigenwerbung ist diese Qualitätszeitung zum führenden Medium für Meinungsbildner und Multiplikatoren und damit zum Leitmedium gehobener Zielgruppen geworden. Die ZEIT erreicht ihre Leser mit über einer halben Mio. verkauften Exemplaren deutschlandweit, etwa zwei Millionen sollen über Zeit-Online erreicht werden. Über eine Mio. Leser besitzen den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Status 1 oder 2 (ganz oben). In der Studie TopLevel erreicht DIE ZEIT im Segment der überregionalen Abo-Tages- und Wochenzeitungen ebenfalls die meisten Menschen in dieser für hochwertige Marken und Luxus aufgeschlossenen Zielgruppe. Und sie ist zugleich der wirtschaftlichste Titel in den Top-Ten nach Reichweite.

 

In der ZEIT wurden in den letzten Wochen viele Artikel zum Thema publiziert: erhellende, unausgegorene, wütende, Teilaspekte der Integration behandelnde. Jeden Tag ein neuer Brocken, auf den sich die gierige Meute stürzt, um dann in das schon bekannte Bellen und Kläffen einzustimmen. Eine fundierte Analyse findet sich nicht, die eben Zeit braucht - und deren Paradigmen Aufklärung und Toleranz wären. Einige RedakteurInnen sind erschreckt über den misogynen Tonfall der Kommentare. Herr Biedermann und die Brandstifter kommt einem in den Sinn. Und: Man wird die Geister nicht mehr los, die man rief.

Mit einigem Wohlwollen könnte man sagen, die ZEIT verstehe sich als liberal und gäbe jeder Meinung eine Äußerungsmöglichkeit. Schließlich muss die Zeitung Leser/innen an sich binden, um auflagenstark und meinungsbildend zu bleiben. Natürlich muss sie jede Woche - mindestens, manchmal auch von Tag zu Tag - neue Themen (oder alte, mit scheinbar zusätzlichem Blickwinkel) bringen, muss immer wieder eine neue Sau durchs Dorf treiben, sonst verliert sie ihr Publikum.

Seit fünfzig Jahren gibt es durch diverse Abkommen Türken in Deutschland. Sie kamen vereinzelt auch schon vorher, aber als – besonders nach dem Mauerbau 1961 – Arbeitskräfte, vor allem billige, gebraucht wurden, kamen immer mehr. Es waren übrigens auch viele Frauen, die sich alleine auf den Weg nach Deutschland machten. Für die ZEIT-Klientel hat sich mit dieser Zuwanderung allerdings, zumindest in der Rückschau, offensichtlich das Tor zur Hölle geöffnet. Es ist nicht mehr IHR Deutschland. Man möchte so schnell wie möglich weg haben, was da ist. Manche Kommentatoren können sich ein Zusammenleben mit Ausländern, vor allem muslimischen, gar nicht vorstellen, andere nur, wenn sie ihrer Religion abschwören; einige wollen sie in ihre Heimatländer zurückschicken, auch wenn sie nach Geburtsort und Pass längst Deutsche sind.

Ein Rückblick zeigt, dass Fremdenfeindlichkeit kein neues Phänomen ist – dazu braucht man nicht besonders auf Drittes Reich oder ins Kaiserreich (in dem es etwa fünf Mio. Ausländer gab) verweisen. Die nach dem Krieg vertriebenen Deutschen wurden von den Einheimischen häufig körperlich bedroht und schikaniert, sie waren wahlweise unnötige Esser, zu richtiger Arbeit nicht fähig oder die eigenen Arbeitsplätze gefährdende Personen; als Auslandsdeutsche hatten sie bereits im Reich zu viele Kosten verursacht, darüber hinaus sich nicht genügend für den Endsieg eingesetzt, waren also schon damals Hemmschuh und Hintertreiber der ökonomischen und kulturellen Entwicklung Deutschlands gewesen.

Danach folgten bizarre Diskussionen über zurückgekehrte Juden und Jüdinnen, die die Shoah überlebt hatten, über Wiedergutmachung und was sie kosten solle, die verschiedenen Prozesse, vor allem den Auschwitz-Prozess. Man wollte sich kein schlechtes Gewissen machen lassen, man war nicht schuld, es müsse doch endlich Schluss sein. Seltsamerweise wusste man aber sofort, wie DIE Juden tickten, was sie immer schon gewesen waren und dass sie zur deutschen Kultur nicht gehörten. Über ihre Anmaßung wurde diskutiert, sie wollten, das wusste man, wie eh und je die Welt beherrschen, ihr Einfluss sei zu groß. Mit der Auschwitzkeule eines Martin Walsers, der sich und die Gesellschaft damit endgültig entlasten wollte, hatte die Zurückweisung des deutschen Menschheitsverbrechens, das aktuelle Politik nicht länger bestimmen dürfe, einen weiteren Höhepunkt erreicht. Alle Juden in Deutschland mussten nun Auskunft über Israel und seine Politik geben, Rechtfertigungen wurden nicht akzeptiert. Die Juden in Deutschland wurden der Einfachheit halber quasi expatriiert und mussten sich fragen lassen: Was halten Sie davon, was in ihrem Land (gemeint war Israel) passiert. Jeder Ausländer, jede Ausländerin hat sich in diesem Land mittlerweile zu ihrem Ursprungsland zu verhalten, es zu kritisieren, selbst wenn sie in dritter oder vierter Generation in Deutschland leben und deutsche Pässe haben.

Jörg Lau, ZEIT-Redakteur meint allen Ernstes und als gäbe es immer noch Sippenhaft, alle Muslime guten Willens müssten sich für die Angriffe auf die beiden dänischen Redakteure entschuldigen, die Anfang 2006 mit ihren Zeichnungen den Karikaturen-Streit ausgelöst hatten, der viele Tote kostete. US-Amerikaner wurden in Deutschland für die Kriege in Afghanistan und im Irak kritisiert, als hätten sie die Bomben geworfen. Entschuldigungen für das, was im Namen Deutschlands, Europas, des Westens geschieht bzw. geschehen ist, fehlt es in der Regel an verantwortlichen Anlaufstellen. Man kann ja nur versuchen, Politik zu verhindern bzw. im eigenen Umfeld bzw. im Ausland mit anderen Menschen solidarischen und freundlichen Umgang zu pflegen.

Die Heuchelei geht aber immer weiter: Man hat über die Spaghettifresser, die Autos klauenden Polaken, die Spanaken und Kanaken, die Fidschis und Schlitzaugen genug Witze und ihnen auch sonst das Leben schwer gemacht, jetzt aber braucht man sie im Kampf gegen die Muslime. Italiener, Griechen, Spanier, Vietnamesen: Wenn da mal Feindschaft war, jetzt will der integrierungswillige Deutsche sie alle umarmen, sie salben: Ihr habt euch integriert, hallelujah, ihr seid wie wir! - und nicht wie die Türken/Araber/Muslime, diese uns kulturell in jeder Hinsicht Unterlegenen. Jeder israelische Raketenschlag gegen Palästinenser wird nun hoch gelobt, die Palästinenser sind, was sie mehrheitlich eigentlich immer waren: Muslime. Als solche haben sie keine Wertschätzung mehr verdient. Erst das jetzige Lieblingsfeindbild der Deutschen verschont uns vor allzu laut geäußertem Antisemitismus, den es freilich weiterhin gibt, er wird nur überdeckt vom Hass auf eine andere Religion. Rassismus ist wandelbar, Fremdenfeindlichkeit austauschbar. Innerhalb von fünf Jahren hat sich der Fokus vollkommen verschoben: Im Zweifelsfall – das immerhin lehrt die Geschichte - sind jedoch immer alle Fremden gemeint. Auf erschreckende Weise bewahrheitet sich der Satz: Die Deutschen gehen vor dir in die Knie oder an deine Gurgel.

Dummerweise ist es nicht hauptsächlich der Pöbel, der aus Dünkel, Neid und Konkurrenz fremdenfeindlich ist, es sind vielfach die Wohlstandsbürger und die Intellektuellen, die, je mehr sie sich zu den alleinigen Leistungsträgern stilisieren und Deutungsmacht erhalten, desto grobschlächtiger und intoleranter agieren. Sie machen es verbal, zuschlagen sollen die anderen.

Ein Blick ins ZEIT-Archiv zeigt, dass die Zeitung nie so liberal war, wie der Nimbus, der sie bis heute umgibt; bis in die 1960er Jahre galt das Blatt als rechts der CDU positioniert.
Jahrelang haben ehemalige SS-Männer, die unter anderem Unterschlupf im Auswärtigen Amt fanden, für Wiederbewaffnung und gegen die Politik der Alliierten geschrieben (unter falschen Namen). Sie haben sich gegen Prozesse ausgesprochen, die Kriegsverbrecher anklagten. Von einigen Wenigen würde das deutsche Volk in Geiselhaft genommen. Die Gastarbeiter wurden begrüßt, weil sie der deutschen Wirtschaft nützten. Das Reinheitsgebot der deutschen Kultur verletzten sie in ihren Baracken und schlechten Wohnungen nicht. Es waren Arbeitskräfte, nicht Menschen. Später wurde die rebellierende Jugend (bis 1968 und danach) attackiert, der Frauenbewegung wurde Wirklichkeitsferne bescheinigt (Noch nie ginge es Frauen so gut), im Parteienspektrum brauchte es – nach Meinung der Redaktion - zunächst weder Die Grünen, noch – Jahre später - Die Linke usw. Man hat letztendlich immer die jeweils gültigen Besitzstände verteidigt.

Längst ist Deutschland ein Einwanderungsland, aber anstatt diese Einsicht zu fördern, gibt man denen Platz, die diese Tatsache ignorieren wollen. Bei ZEIT-Online kann man beobachten, wie diese Taktik funktioniert. Im Namen von Demokratie werden antidemokratische Haltungen goutiert, erhalten Raum und werden weiter verbreitet. Das kann man auch moderne Meinungsmache nennen. Cui bono?

 

Es gibt Initiativen für eine plurale Gesellschaft, zum Beispiel:

www.typischdeutsch.de

www.deutschplus.de

 

 

s.a. hier: 11. ILB 2011/Islam und Islamkritik

 

 

 

 

 

 

 



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