13. Internationales Literaturfestival Berlin (ilb 2013)Schwerpunktthema: Das Alter
Lauter Alarmsignale
von Franz Hohler
Der Kilometerstein 70 auf unserem Lebensweg scheint mir gefährlicher als der Kilometerstein 60. Aber selbstverständlich fängt das Altern und der aufkeimende Schrecken darüber nicht erst mit 70 an.
Ich werde alt
Ich steige in Gaggenau aus. Eine Dame vom Kulturamt holt mich ab. Ich erkenne sie, bevor sie mich erkannt hat. Fast immer erkenne ich die Leute, die am Bahnhof stehen, um mich abzuholen, sie stehen da wie Fragezeichen. Da ich morgen früh eine Fahrkarte nach Rastatt benötige, werfe ich, bevor wir zum Auto gehen, einen Blick auf den Fahrkartenautomaten. Unter den vielen kleingedruckten Ortsnamen finde ich Rastatt nicht, obwohl ich sorgfältig den Anfang der R-Orte absuche.
„Sehen Sie Rastatt?“, frage ich die Kulturbeauftragte, und sie sieht es ebenso wenig, schon aus Respekt mir gegenüber.
Ich gehe zum Schalter und verlange eine einfache Karte nach Rastatt, gültig am morgigen Tag. Die könne sie mir nicht geben, sagt die Schalterbeamtin, da müsse ich morgen den Automaten quälen. Sie sagt „quälen“, mit einem rätselhaften, halb ironischen, halb maliziösen Lächeln. Da sei eben Rastatt nicht drauf, sage ich. Rastatt sei schon drauf, sagt sie, aber ich könne auch einfach die Zahl 340 wählen.
„Mach ich“, sag ich, „aber Rastatt ist nicht drauf.“ − „Doch, doch“, sagt sie. Als ich hinzufüge: „Ich bin 60, ich kann lesen“, sagt ein Mann, der auf der Wartebank Zeitung liest: „Ich bin auch 60, kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.“ Gefolgt von der erstaunten Dame vom Kulturamt gehen wir zum Automaten, und auf den ersten Blick sehe ich unter „R“ Rastatt. Warum ich es vorher nicht gesehen habe, kann ich mir nicht erklären.
„Das kostet eine Schokolade“, sagt der Gleichaltrige scherzend. Wir gehen zurück in den Schalterraum, wo mein Requisitenkoffer steht, ich lege diesen auf den Rücken, öffne ihn und ziehe aus meinem Nécessaire eine kleine Schokolade, die ich im letzten Moment noch eingepackt hatte. Er wehrt ab, ein Scherz sei das gewesen, aber ich beharre auf der Gabe, und schließlich nimmt er sie, „aus der Schweiz“, sagt er anerkennend.
Zur Schalterbeamtin, die immer noch mit ihrem Mona-Lisa-Lächeln hinter der Scheibe sitzt, sage ich, und jetzt bin ich der Gequälte: „Sie hatten recht, Rastatt steht drauf.“ Sie nickt zufrieden, und der Mann auf der Wartebank isst bereits zufrieden meine Schokolade, als ich mit der Dame vom Kulturamt unzufrieden dem Parkplatz zustrebe.
Ich werde noch älter
Wer das Hotelzimmer betritt, findet gleich links neben der Türe zwei Lichtschalter. Sie haben die Form kleiner Tafeln, die leicht schräg stehen, und wenn man sie von einer Schräglage in die andere drückt, geht das Licht an. Der eine Schalter bedient den Eingang, der andere das eigentliche Zimmer. Wer das Bad betritt, findet linkehand dieselben tafelförmigen Lichtschalter, mit denen sich das Badezimmer erleuchten lässt.
Am Morgen suche ich nach dem Duschen vergeblich eine Steckdose für den Haarföhn, der wie in einer Badeanstalt fest an der Wand installiert ist. Ein Kabel mit einem Stecker hängt zwar einladend herunter, aber die Steckdose für allfällige Rasierapparate ist bösartig weit davon entfernt, keine Chance, ihn mit dem kurzen Kabel zu erreichen. Ich trockne mir die Haare mit dem Badetuch.
Später, beim Auschecken an der Rezeption, sage ich, nach Bestätigung meiner grundsätzlichen Zufriedenheit, einzig der Haarföhn sei ein leeres Versprechen gewesen, und erwähne das zu kurze Kabel. Aber gleich darunter sei doch über dem Lichtschalter der Deckel für die Steckdose, sagt die Dame freundlich mitfühlend, so wie man einem Schüler die richtige Lösung einer Hausaufgabe erklärt.
Rückblickend fällt mir ein, dass es im Bad nur eine einzige Lichtquelle gab, die also auch nur mit einem einzigen Schalter zu bedienen war. Ich hatte mich von der Analogie der Schalteranordnung im Zimmer zur Nichtüberprüfung der vorhandenen Möglichkeiten verleiten lassen und war auch bereit anzunehmen, dass mir die Einrichtungen dieses Hotels ohnehin feindlich gesinnt waren.
Gelähmte Neugier, Unwillen, sich am Unbekannten zu messen, erwartete Demütigung durch mir fremde Installationen, und zuletzt wenigstens Recht haben wollen – Alarmsignale, sage ich mir, lauter Alarmsignale, als ich meinen Koffer zum Bahnhof ziehe und am Automaten die Zahl 340 eintippe.
Süßstoff
Zu den Anzeichen des Alterns gehören die kleinen Fehler, die einem manchmal unterlaufen, ebenso unvermutet wie unerklärlich, die winzigen Entgleisungen der Vernunft, eine Art Realitätsapnoe.
Die Schaffnerin bringt mir den bestellten Schwarztee an meinen Platz und fragt mich, ob ich Zucker, Milch oder Zitrone wolle. Ein Blick aufs Tablett zeigt: sie hat keinen Süßstoff dabei. Den möchte ich aber, und nur den.
„Kein Zucker“, sage ich, und füge hinzu „Milch und Zitrone“. Leicht verwundert legt sie mir das Gewünschte auf die Serviette, und ebenso verwundert blicke ich, als sie gegangen ist, auf das gelbe Plastiksäckchen und das braune Döschen.
Ich brauche keines von beiden.
Die schönste Erinnerung
70 sei, so hört man oft beschwichtigend, vor allem von Leuten, die noch nicht 70 sind, 70 sei noch kein Alter. Doch dachte man früher beim Erreichen dieser Grenze nicht daran, sich langsam nach einem Altersheim umzusehen? Als die über 90-jährigen Eltern eines Freundes, deren Alltag immer mühsamer wurde, gefragt wurden, ob sie nicht doch besser in ein Altersheim ziehen wollten, antwortete der Vater: „Wir sind zu alt für ein Altersheim.“ Heute trifft man in den Altersheimen kaum jemanden unter 85, und die Feiern für Hundertste Geburtstage mehren sich.
„Und was ist denn, Frau Ehrenzeller, Ihre schönste Erinnerung?“, fragte der Stadtpräsident die Hundertjährige mit jovialem Lächeln, nachdem sie sich mit Hilfe des Altersheimleiters im frisch geschenkten Lehnstuhl niedergelassen hatte.
„Wie bitte?“, fragte die Jubilarin mit leicht vorgerecktem Kopf.
„Ihre schönste Erinnerung?“, wiederholte der Stadtpräsident mit angehobener Stimme.
„Sie meinen ...?“, fragte Frau Ehrenzeller nochmals, indem sie ihre Hand an die Ohrmuschel hielt.
„Welches Ihre schönste Erinnerung ist!“, schrien der Stadtpräsident und der Altersheimleiter fast gleichzeitig.
„Ach“, sagte die alte Frau und lachte, „meine schönsten Erinnerungen sind eigentlich sexueller Natur.“
„Oh“, sagte der Stadtpräsident und nickte, „warum auch nicht? Also dann, Frau – .“
„Insbesondere“, fuhr die Hundertjährige fort, „denke ich mit Genuss an die Zeit zurück, in der ich zwei Freunde gleichzeitig hatte.“
„Na“, hüstelte der Stadtpräsident, „da kommen ja schöne Dinge aus, Frau – .“
„Wir hatten“, sagte die Gefeierte und lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen in den Sessel zurück, „wunderbare Dreier zusammen, zum Beispiel nahm mich der eine von hinten, während ich den anderen – .“
„Frau Ehrenzeller, wir bringen Ihnen jetzt die Geburtstagstorte!“, rief der Altersheimleiter beschwörend.
„Wissen Sie, das Gefühl, mit beiden Händen zuzugreifen und links und rechts neben sich einen Mann stöhnen zu hören, das möchte ich in meinem Leben keinesfalls missen. Oder habt ihr so etwas nie ausprobiert, ihr zwei Lausbuben?“, fragte sie die beiden Hauptgratulanten fröhlich.
Aber als nun groß und sahnig eine Geburtstagstorte mit 100 Kerzen von zwei gertenschlanken jungen Zivilschützern auf einem Servierboy hereingeschoben wurde, hatten der Stadtpräsident und der Altersheimleiter bereits die Flucht ergriffen.
Die alte Frau
In allen romanischen Sprachen ist der Tod weiblich: la mort, la morte, la muerte. Ich hoffe sehr, dass sie recht haben.
Eine alte Frau lebte ganz allein und war immer traurig. Sie hatte keine Kinder, und alle Menschen, die sie gern gehabt hatte, waren gestorben. Den ganzen Tag saß sie am Fenster ihres Zimmers und schaute hinaus. „Ach“, dachte sie oft, „wenn ich doch ein Vogel wäre und fliegen könnte.“
Eines Tages, als sie das Fenster geöffnet hatte und die Sonnenstrahlen hereinschienen und sie draußen die Vögel zwitschern hörte, dachte sie wieder: „Ach, wenn ich doch ein Vogel wäre und fliegen könnte.“
Und auf einmal war sie nicht mehr eine alte Frau, sondern eine schöne weiße Möwe, die sich von ihrem Fenstersims in die Luft erhob. Sie flog über die ganze Stadt, machte einen langen Bogen über den See, setzte sich auf viele Kirchturmspitzen und Brückengeländer und schnappte fröhlich krähend nach Brotstücklein, die ihr von Großmüttern und deren Enkeln am Seeufer zugeworfen wurden, bis sie am Abend wieder nach Hause flatterte, zu ihrem Fenster hinein auf den Stuhl hüpfte und dort die alte Frau wurde, die sie am Morgen gewesen war.
„Das war aber schön“, dachte sie, und am nächsten Morgen öffnete sie wieder das Fenster und schwang sich vom Sims als Möwe davon, und so machte sie es fortan jeden Tag, bis sie einmal so hoch und so weit fortflog, dass sie nicht mehr zurückkam.
© Text: Franz Hohler, 13. Internationales Literaturfestival Berlin (ilb 2013)
Franz Hohler, *1943 in Biel, ist ein Schweizer Schriftsteller, Kabarettist und Liedermacher. Er wächst in Olten auf und besucht die Kantonsschule Aarau bis zur Matura 1963. Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Zürich. Erste Soloauftritte sind so erfolgreich, dass er das Studium aufgibt, um sich ganz seinem Werk zu widmen: Kabarettprogramme, auch mit und für andere Künstler, Theaterstücke, Film- und Fernseh-Produktionen, Kinderbücher, Kurzgeschichten und Romane. Bei seinen Programmen ist ihm der Wechsel zwischen politischem Engagement und Fabulieren wichtig. Oft geht er von Alltagsbeobachtungen aus, die unversehens ins Absurde kippen. Er begleitet sich auch oft selbst auf dem Cello. Seit 1969 mit der Germanistin und Psychologin Ursula Nagel verheiratet, ist er Vater von zwei Söhnen und wohnt in Zürich-Oerlikon. Hohler ist Präsident der Prix-Courage-Jury und Mitglied beim Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz und beim International PEN.Werke: s. http://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Hohler
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Ich weiß nicht, was Demenz ist
Von Péter Farkas
Fangen wir mit etwas Hässlichem an. Ein Freund von mir, der sich auf seine alten Tage mit chronischer Verstopfung plagt, ein echter geistiger Gourmet, ein fein ziselierter Geist, platzte bei meinem letzten Versuch also heraus: „Wie kann ein Mensch nur so abhängig sein von der Scheiße in ihm? Wie soll ich so jemals frei sein?“ Unzweifelhaft ist das eine schwerwiegende Frage. Denn sie ist in Wahrheit eine nach der geistigen Autonomie.
Im Moment denke ich, eine grundlegende Voraussetzung für geistige Autonomie ist das Freisein von Schmerz und Furcht. Ich betone: im Moment, denn ich möchte die Möglichkeit nicht ausschließen, dass ich im nächsten „Moment“ ganz anders darüber denken werde.
Im Zustand von Schmerz- und Furchtlosigkeit ist das Bewusstsein, vermutlich, „unbewegt“ und „leer“. Die „Leere“ zum Beispiel stelle ich mir so vor wie die Leere in der Teetasse, die gerade auf dem Schreibtisch vor mir steht. Für den Menschen, die Kreatur muss das der optimale Zustand sein, und ich nehme an, das wäre die höchstmögliche Stufe der geistigen Autonomie. Das einzige Problem ist, dass in so einem Zustand keine Kunst entsteht.
Als Schriftsteller wünsche ich mir also doch keine uneingeschränkte geistige Autonomie. Ich verlange doch Schmerz und Furcht zurück. Meinen Körper.
Machen wir uns keine Illusionen: Altwerden ist schrecklich. Natürlich ist es schrecklich. Schließlich erleben wir im Wortsinne hautnah den gnadenlosen, unaufhaltsamen und nicht umkehrbaren Niedergang des Körpers. Unseres Körpers. Und damit die Vernichtung des „Ichs“, unseres Ichs. Wobei es sein kann, dass das Ich eine pure Illusion ist. Aber was fange ich mit dem verrottenden Fleisch an? Mehr noch: mit meinem eigenen verrottenden Fleisch?
Um die Wahrheit zu sagen, ein wenig langweilt mich dieses „Demenz-Festival“. Plötzlich scheinen einen Menge Leute entdeckt zu haben, dass sie irgendwo eine halb verblödete Großmutter haben, einen verkalkten Großvater, einen geistig ab- oder umgebauten Onkel. Die Medien brauchen natürlich immer neues Futter, Burnout, Kindermißbrauch (etc). halten nicht ewig vor, von Angelina Jolies amputierten Brüsten ganz zu schweigen. Zweifellos ist es lebensnotwendig, die Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Überalterung der westlichen Gesellschaften ergeben, permanent zu diskutieren. Das Thema wirft eine ganze Reihe existenzieller und ethischer Fragen auf.
Die Antworten, die die folgenden Generationen darauf geben werden, werden das Antlitz der Gesellschaften kommender Jahrzehnte grundlegend bestimmen. Und es ist nur scheinbar nur von Demenz, vom Altern die Rede. Ich möchte gerne zuversichtlich sein, aber es gelingt mir nicht so recht. Ich gebe zu, ich habe Angst vor jenem Gesicht, an dem ich ablesen kann, dass sein Träger genau weiß, was normal ist und was nicht, und was vom sogenannten Normalen abweicht, würde er sofort umerziehen, einer Therapie unterwerfen oder bestrafen.
Ich habe Angst vor dem Blick, der genau Bescheid zu wissen glaubt über meine Bedürfnisse und sich daher für meine Meinung gar nicht mehr interessiert. Ich habe Angst vor dem Mund, der mit todsicheren Definitionen jede Verordnung begründen kann, die ausschließlich nach seinem eigenen Wertesystem verfährt, und dieses Wertesystem ruht ausschließlich auf materiellen oder fiskalen Fundamenten. Ich fürchte mich vor den Augen und Ohren dessen, der „Unruhestifter“ sofort aus seiner Umgebung entfernt (einweist, verbannt, interniert etc.). Und ich fürchte mich vor der Haut, die den Hässlichen, den Anderen, den Kranken, den Toten nicht berühren mag.
Ja, ein wenig langweilen mich die vielen schönen Bücher, Filme, Ausstellungen und Konferenzen über die altersbedingte Verblödung. Natürlich bin ich auch schuld, schließlich gibt es auch meinen Roman „Acht Minuten“. Die Wahrheit ist, als ich vor bald 10 Jahren das Buch schrieb, dachte ich nicht, einen „Demenz-Roman“ zu schreiben. Ich wollte über die Liebe schreiben und natürlich über den Tod, das Sterben. Ich habe nie über etwas anderes geschrieben. Es hat mich nie wirklich etwas anderes interessiert als die Frage, wie man sprechen kann, wenn die Fähigkeit zu sprechen doch gerade am Verschwinden ist, wenn die Sprache ihre Gültigkeit verliert, wenn sie im Körper ertrink
Wie lange kann man aus solchen Extremsituationen „herausreden“? Giorgio Agamben schreibt: „Es gibt keine Stimme für das Verschwinden der Stimme... Wer es übernimmt, für sie Zeugnis abzulegen, weiß, dass er Zeugnis ablegen muss von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen.“ Aber das ist doch die Kunst! Auf dem höchst möglichen Niveau zu scheitern. Spätestens seit Beckett weiß das jeder Künstler, es sei denn, er ist zu naiv oder dumm.
Ich weiß nicht, was Demenz ist. Wahrscheinlich immer anders, abhängig vom physischen, geistigen, mentalen und psychischen Zustand und von der Umgebung. Statt meiner wissen es jedoch viele, Wissenschaftler, Ärzte, Gerontologen, Pfleger, mit allen möglichen Führerscheinen ausgestattete Alterungsexperten. Als meine 94jährige Urgroßmutter meine 70jährige Großmutter in den Schreibwarenladen schickte, sie möge ihr ein liniertes Heft kaufen, fragte meine Oma nicht viel, sondern ging in den Laden und kaufte ein liniertes Heft. Nur ich fragte die Uri, wozu sie so was brauche. „Na, Anfang der Woche fängt doch die Schule an“, sagte sie. Ich glaube nicht, dass irgendjemand die Uri für blöd oder krank gehalten hat. Sie war einfach alt. Sah kaum etwas, hörte kaum etwas, ihre Knochen hielten sie kaum mehr aufrecht. Aber sie galt weder als augenkrank, noch als knochenkrank.
Wer für krank erklärt wird, mit dem stimmt etwas nicht, dem fehlt etwas. Meist wird er separiert und behandelt. Das Altsein kann man aber nicht heilen, ebenso wenig wie die Selbstauflösung des alternden Gehirns oder die Veränderung des Bewusstseins im Alter. Und das Isolieren hilft im Alter nur in den seltensten Fällen. Wenn wir Bedingungen schaffen, innerhalb derer es keine Wahlmöglichkeit gibt, muss man natürlich auch nichts mehr begründen.
Ich weiß nicht genau, was Demenz ist, aber sie läuft scheinbar genauso ab wie das Altern selbst. Jeden Tag verlieren wir etwas, jeden Tag müssen wir etwas loslassen. Ein permanentes Zurücknehmen, im günstigen Fall in beiderlei Bedeutung des Wortes. Ich reduziere, nehme etwas zurück oder erlange etwas wieder, das einst mir gehörte, aber im tüchtigen, fleißigen „Normalen“ Alltag verloren ging, begraben von den Werktagen eines aktiven, arbeitsreichen Lebens .
Die Uri war, bevor sie sich mit 94 Jahren für die Schule bereit machte, eine lebendige, flinke Frau. Die Arbeit brannte nur so unter ihrer Hand, es gab keinen Moment an „Leerlauf“ in ihrem Leben. Bis sie auf einmal langsamer wurde. Sie wurde nicht „beizeiten“ fertig mit Dingen, sie lächelte nur und sagte, sie würde am nächsten Tag weitermachen. Manchmal saß sie Stunden lang auf der Terrasse und betrachtete versunken das Schaukeln der Baumkronen oder die Insekten, die auf dem Steingeländer hin und her krabbelten. Millionen Kleinigkeiten fielen aus ihrem Gedächtnis, ihr Geist aber schien sich auszudehnen, als hätte das Vergessen Platz in ihrem Gehirn geschafften. Unterdessen ächzte sie natürlich, wehklagte und fluchte, verwünschte mehrmals am Tag das Alter. Ich wusste es noch nicht, aber ich ahnte bereits: „Älter werden ist nichts für Feiglinge.“
Was für eine Subversion! Zurücknehmen, verlangsamen, loslassen, wo wir doch darauf dressiert sind, zu erhöhen, zu beschleunigen, etwas zu ergattern. Gegenstände, Fähigkeiten, Wissen, Erfahrung, Eigenschaften, vor allem jene, die im monetären Sinn einen Preis haben, und die es möglich machen, noch mehr zu ergattern. Möglichst ein ganzes Leben lang, Tag für Tag, Stunde für Stunde, ununterbrochen.
Es ist schwer, die Notausgänge zu finden, wenn der Druck unerträglich geworden ist, und die Auswege führen nicht immer in idyllische Landschaften. Zumeist jedoch bemerken wir nicht einmal, dass unser Organismus gesättigt ist, die viele unnötige Materie presst sich durch die Poren in uns hinein, mehr noch, wir empfinden gerade dieses Gesättigtsein als natürlichen, angenehm erscheinenden Zustand. Wie prächtig ist es, noch mit achtzig ins Fitness-Studio zu gehen, Wildwasserrafting zu machen, zur Seniorenuni zu gehen, steinhart zu erigieren, den Mount Everest zu besteigen.
Ich glaube, ich wäre lieber sorgenlos impotent, etwas aus der Zeit gefallen, faul und verträumt. Die Wahrheit ist, ich sitze schon heute, 37 Jahre vor der Uri gerne Stunden lang auf der Terrasse und betrachte die auf dem Steingeländer hin und her krabbelnden Insekten oder die sich wiegenden Baumkronen, und es ist mir keineswegs zuwider, die unter mir wuselnde ameisengleiche Welt zu vergessen.
Vor der Hölle hingegen fürchte ich mich. Vor der durch listenreiche Ärzte ausgetricksten biologischen Uhr oder vor falschen Verbindungen zu der Natur. Vor dem noch atmenden Kadaverbrunnen des Alterns, und sei es einer der Luxuskategorie. Wo es kein Zurücknehmen, keine Verlangsamung, kein Loslassen gibt, sondern nur noch Terror. Der kalte Terror des schwarzen Mannes, der mich keinen Augenblick allein lässt und jeden Augenblick mein Menschsein mit den ausgesuchtesten Mitteln verhöhnt. Ja, Altern ist nichts für Feiglinge.
Ich möchte diesen Körper noch eine Weile behalten. Denn nur mit ihm kann ich Lust und Qual spüren, mit ihm und durch ihn träumen und mich erinnern an Rausch und an Scheitern, und er ist es, den ich auch fürs endgültige Scheitern brauche, der an seinem Endpunkt dennoch nicht verlieren bedeutet. Denn nur der verliert, der Nein zum Tod sagt, zum Sterben, und dadurch auch zum Leben. Ich freue mich nicht unbedingt, dass ich sterbe. Aber ich stimme dem zu.
© Text: Péter Farkas, 13. Internationales Literaturfestival Berlin (ilb 2013); aus dem Ungarischen von Terézia Mora
Péter Farkas, *1955 in Budapest, ist ein ungarischer Schriftsteller und Journalist, der seit 1982 in Deutschland lebt. Väterlicherseits stammt er nach eigener Aussage aus einer ungarischen ehemaligen Bauernfamilie und mütterlicherseits aus dem jüdischen Großbürgertum. Er studiert in Budapest Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft und Pädagogik.1978 wird er zum Studienabbrecher, weil er sich stark in der demokratischen Oppostionsbewegung engagiert. 1979 gab er den Samisdat-BandTúlpartrol (Vom anderen Ufer) heraus. 1982 emigriert zunächst nach Aachen, später mit seiner Familie nach Köln, wo er die Humane Gesellschaft für geistige Nekrophilie, die Kunstaktionen organisiert, sowie den Verlag Il (Irodalmi Levelek = Literarische Briefe) gründet, der Kunst-Editionen herausgibt und ungarische AutorInnen publiziert.. Gemeinsam mit Boris Nieslony gründet er 1990 den privaten Kunstverein ASA-European und arbeitet als Journalist für Rundfunk-Redaktionen. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit betreibt er auch ein Antiquariat. Berühmt wurde er mit seinem Roman Acht Minuten (Luchterhand, München 2011, ISBN 978-3-630-87304-6), der in viele Sprachen übersetzt wurde und einfühlsam das Leben und Erleben demenzkranker Menschen aus ihrer eigenen Perspektive erzählt. Dafür erhält Farkas 2011 den renommierten ungarischen Sándor Marai-Preis. Er ist mit einer bildenden Künstlerin verheiratet. Gemeinsam haben sie zwei Söhne.
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